11. März 2007

Überlegungen zur Freiheit (2): Das Struwwelpeter- Prinzip

Verbieten ist schön. Jedenfalls für viele Menschen, wenn sie verbieten dürfen. Etwas verbieten können, die Einhaltung des Verbots durchsetzen, das ist Machtausübung. Es befriedigt damit eines der stärksten menschlichen Bedürfnisse.

Jemandem etwas verbieten bedeutet, ihn in seinen Handlungsmöglichkeiten einschränken. Insofern ist das Verbieten eine Aggression. Ad-gredi, das heißt ja nichts anderes, als jemandem auf den Leib rücken, sich so nah an ihn heranmachen, daß man ein Stück Macht über ihn gewinnt.



Zum Reiz des Verbietens gehörte in vordemokratischen Zeiten die Willkür. Die höchste Lust des Verbietens ist es, nach Belieben zu verbieten und zu erlauben. "Such is my desire"; Triumph der Willkür.

In modernen Zeiten geht das nicht mehr, jedenfalls nicht in zivilisierten Gesellschaften. Das Verbieten erfordert eine Legitimation. Als Legitimation dient, so scheint mir, zunehmend das Struwwelpeter- Prinzip:
"Ob der Philipp heute still
wohl bei Tische sitzen will?"
Also sprach in ernstem Ton
der Papa zu seinem Sohn,
und die Mutter blickte stumm
auf dem ganzen Tisch herum.
Doch der Philipp hörte nicht,
was zu ihm der Vater spricht. (...)

Bis der Stuhl nach hinten fällt.
Da ist nichts mehr, was ihn hält.
Nach dem Tischtuch greift er, schreit.
Doch was hilft's? Zu gleicher Zeit
fallen Teller, Flasch und Brot.
Vater ist in großer Not,
und die Mutter blicket stumm
auf dem ganzen Tisch herum.
Alle Struwwelpeter- Geschichten sind so aufgebaut: Jemand mißachtet ein Verbot, und die Folgen sind schlimm. Das Verbieten wird damit gerechtfertigt, daß es sonst zu einem Unheil kommt. Mindestens einem Mißgeschick wie beim Zappelphilipp, schlimmstenfalls zu einer Katastrophe: "Er wog nur noch ein halbes Lot und war am fünften Tage tot."



Nach dem Struwwelpeter- Prinzip funktioniert heute zunehmend das Verbieten in den demokratischen Rechtsstaaten.

Das Rauchen in Zügen der der Deutschen Bahn wird demnächst verboten sein. Der Zappelphilipp, der Raucher, könnte ja sonst hinten runter fallen, wenn man ihn nicht per Verbot daran hindern würde.

Jetzt wird ein Verbot der Glühbirne diskutiert. Der Friederich, der Wüterich, könnte ja sonst Fliegen die Beine ausreißen.

Und so fort. Warum nicht Stand- by- Schaltungen verbieten? Warum nicht höhere Raumtemperaturen als, sagen wir, 21 Grad, verbieten? Warum nicht das Rauchen im Auto verbieten?

Und warum bei der Umwelt haltmachen? Struwwelpeter, die erzogen werden müssen, gibt es schließlich auch in anderen Bereichen.

Warum nicht eine gesundheitsfeindliche Lebensweise verbieten? Warum nicht türkischen Einwanderern das türkische TV verbieten, damit sie schneller Deutsch lernen? Warum nicht gewollte Kinderlosigkeit verbieten, angesichts der demographischen Entwicklung?

Einfach mal den "Struwwelpeter" durchblättern, da findet man Anregungen.



But let's quit kidding. Die Sache ist ja ernst.

Im freiheitlichen Rechtsstaat darf und sollte der Staat solches Verhalten verbieten und mit Strafen sanktionieren, das andere Menschen schädigt. Punktum, aus, fertig.

Der Staat ist kein Erzieher. Er hat in einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht das geringste Recht, Bürgern strafbewehrt aufzudrängen, sich so zu verhalten, wie das von Staats wegen aus irgend einem Grund für richtig, für wünschenswert, für gesellschaftsdienlich gehalten wird. Also zum Beispiel sich gesund zu ernähren, Energie zu sparen, sich "gesellschaftlich zu betätigen", irgendetwas zu glauben, zu konsumieren, zu tun oder zu lassen.

Niemand schädigt andere, wenn er im Raucherabteil eines ICE raucht. Niemand schädigt irgendwen, wenn er auf eigene Kosten eine Glühbirne statt einer Sparbirne benutzt. Also darf der Staat ihm das nicht verbieten. So wenig, wie er Homosexualität verbieten darf, oder eine vegane Ernährung.



Aber er tut es, immer mehr. Und kein Aufschrei in der Öffentlichkeit, vom Protest von Minderheiten abgesehen. Offenbar lassen viele Menschen sich gern wie Kinder behandeln. Die bürgerlichen Freiheiten, so scheint es, fliegen dahin wie der Hans- Guck- in- die- Luft und sein Hut:
Wo der Wind sie hingetragen,
ja, das weiß kein Mensch zu sagen.