13. März 2007

Zum 80. Geburtstag von Martin Walser (1): Walser und Walser

Es ist ein Gemeinplatz, daß die bedeutendsten Autoren kaum je den Nobelpreis für Literatur bekommen haben.

Unter den deutschsprachigen Autoren des Zwanzigsten Jahrhunderts haben ihn nicht bekommen: Franz Kafka, Robert Musil, Bert Brecht, Alfred Döblin, Kurt Tucholsky, Gottfried Benn, Paul Celan, Karl Krolow, Wolfgang Koeppen, Max Frisch, Arno Schmidt, Thomas Bernhard, Hans Magnus Enzensberger, Adolf Muschg, Ernst Augustin, Robert Gernhardt. (Das ist so ungefähr auch meine persönliche Bestenliste).

Bekommen haben ihn: Theodor Mommsen, Rudolf Christoph Eucken, Gerhart Hauptmann, Paul Heyse, Carl Spitteler, Thomas Mann, Hermann Hesse, Nelly Sachs, Heinrich Böll, Elias Canetti, Günter Grass und Elfriede Jelinek. (Das hat nur eine kleine Schnittmenge mit meiner persönlichen Bestenliste, eine sehr kleine).



Und nicht bekommen haben ihn Walser und Walser; Robert und Martin. Nicht verwandt. Auch nicht geistesverwandt. Neben Kafka, Musil und Schmidt die Allergrößten des vergangenen Jahrhunderts; nach meiner bescheidenen Meinung, nach meiner allerdings festen Überzeugung.

Martin Walser könnte ihn, hypothetisch, noch bekommen - den Preis, den er ungleich mehr verdient gehabt hätte als Günter Grass. Aber der deutsche Sprachraum wurde, mit Grass und Jelinek, ja in den letzten Jahren reichlich versorgt. Also wird es mit Walser nichts werden. Und aus anderen Gründen.



Walser und Walser also. Einen größeren Gegensatz kann man sich freilich kaum vorstellen als den zwischen Robert und Martin.

Also fasziniert der Robert Walser den Martin Walser. Also hat der Martin Walser immer mal wieder gesagt, daß er den "Jakob von Gunten" als einen der drei ganz großen deutschen Entwicklungsromane sieht - neben dem "Wilhelm Meister" und dem "Prozeß".

Der Martin Walser ist fasziniert vom Robert Walser. Der Robert Walser, hätte er den Martin Walser lesen können, hätte wahrscheinlich nur leise gelächelt und gesagt, daß er mal wieder den Anforderungen nicht gewachsen ist, daß er ganz klein ist gegenüber dieser Größe. Daß er sich müht, das zu verstehen und daß es schön ist, sich so zu mühen, auch wenn man es nie verstehen wird. Daß es ihn aber auch stolz macht, wie er sich müht. Und irgendwie hätte er sich in allen diesen einsilbigen Helden, diesen Halms und Zürns, wohl doch wiedererkannt.

Walser und Walser - sie sind bedeutend auf Arten, so verschieden, wie das überhaupt nur geht. Wenn man sich diese Verschiedenheit ansieht, dann schärft das vielleicht den Blick auf Literatur.



Martin Walser ist der poeta doctus, der écrivain érudit, wie wir ihn im deutschen Sprachraum seit Goethe und seit Thomas Mann nicht mehr gehabt haben, unter den Romanciers.

Benn war auch so ein poeta doctus, Enzensberger ist einer - aber das sind eben sozusagen hauptberuflich Essayisten, beide im Nebenberuf Lyriker. Da ist das Gelehrtsein unabdingbar.

Aber ja nicht bei den Romanciers. Ich versuche jetzt eine Typologie. Typologien sind immer falsch, weil die Wirklichkeit nicht in irgendetwas "zerfällt". Mir soll die Typologie aber jetzt nur dazu dienen, Extreme zu verdeutlichen. Zwischen denen sich die Realität abspielt und aufspannt, als den Polen einer Dimension.



Da ist auf der einen Seite dieser écrivain érudit. Der Mann des Geistes, der auch schreibt.

Seine schlechthinnige Verkörperung war Goethe, der sich ja nie primär als Dichter gesehen hat. Paul Valéry, Jorge Luís Borges gehören in diese Kategorie. Jean-Paul Sartre hätte vermutlich gern dazugehören wollen.

Martin Walser ist, unter den Romanciers des Zwanzigsten Jahrhunderts, ein herausragender Vertreter dieses Typus; so will mir scheinen. Wie er, in seinen Essays, mit der europäischen Geistesgeschichte umspringt - das heißt, sie kennt, zitiert, verarbeitet, poetisch ausschlachtet -, das konnten mit dieser Souveränität nur wenige; Thomas Mann, Robert Musil, Gottfried Benn.

Ob man das kann, das ist natürlich eine Frage der Intelligenz. Es ist aber auch eine Frage der Zeit, die man aufs Lesen wendet; eine Frage auch des Niveaus der Abstraktion, zu der man fähig ist oder die man überhaupt anstrebt.

Der Romancier dieses Typus ist gewissermaßen immer auf der Schwelle zum Feuilletonisten; so, wie der des entgegensetzten Typus auf der Schwelle zur naiven Literatur steht.



Ich weiß nicht, ob die Germanistik den Begriff der "naiven Literatur" kennt, in Analogie zur "naiven Malerei". Als Bezeichnung nicht für schlichte Dummheit, für Abgeschmacktes à la Courths- Mahler. Sondern für große Kunst, die nur eben in dem Sinn naiv ist, daß ihr diese Gelehrsamkeit des poeta doctus fehlt.

Also Kafka. Er schreibt nur über sich selbst, Traumgeschichten. Höchst vergnüglich - er war ja ein großer Humorist. So, wie Robert Walser. Als Kafka eine seiner ersten Arbeiten in der Zeitschrift "Hyperion" publizierte, vermuteten manche, "Franz Kafka" sei ein Pseudonym von Robert Walser.

So, wie Goethe den poeta doctus repräsentiert, so diese Gestalt des Naiven natürlich Hölderlin. Unglaublich subjektiv, von einer Sprachgewalt, die vielleicht nie mehr nach ihm im Deutschen erreicht wurde.

Kleist gehört in diese Kategorie, der junge Gottfried Keller der ersten Fassung des "Grünen Heinrich". Der junge Hermann Hesse. Junge halt - Romantiker, Expressionisten, die "Junge Generation" nach 1945, verkörpert von Autoren wie Wolfgang Borchert.

Mag sein, daß es davon abhängt, wie alt einer wird, ob er am Ende ins gelehrte Fach wechselt. Den meisten freilich gelingt das nie; wie es Günter Grass nie gelungen ist. Dasjenige Werk, in das er am meisten Gelehrsamkeit gepackt hat - "Ein weites Feld" - ist sein peinlichstes.



Nun noch ein Wort zu Arno Schmidt. Seinem Selbstverständnis nach war er der poeta doctus. Ein Mann, der ungeheure Massen an Information in sich hineingefressen, an Kenntnissen aufgenommen, der das verzettelt, verarbeitet, in ganz große Prosa umgesetzt hat.

Der - durch seine "Brotarbeiten", die vielen "Nachtprogramme" - auch ein bedeutender Essayist gewesen ist.

Und doch - er gehört, so scheint mir, in die Kategorie der Naiven. Viel mehr Robert Walser als Martin Walser.

Vielleicht ist es der Lackmus- Test, ob und wieweit ein Romancier sich seiner selbst entäußert; wieweit er Gestalten mit Eigenleben ersinnt, die aus ihrer eigenen Lebenswirklichkeit heraus agieren.

Walser kann das meisterhaft, wie auch Ernst Augustin. Mit jedem ihrer Werke erschließen sie neue Lebenswirklichkeiten. Die sie zuvor erkundet, in die sie sich eingearbeitet haben. Die sie faszinieren, in ihrer jeweiligen Eigengesetzlichkeit; wie die sozialen Systeme den Niklas Luhmann fasziniert haben.

Arno Schmidt hingegen - ich lese ihn ungeheuer gern; seine Intelligenz, sein Witz, seine Sprachkraft erscheinen mir unerreicht im Zwanzigsten Jahrhundert.

Aber wie bei Kafka, wie bei Robert Walser ist es ja immer nur Autor Schmidt, der uns entgegentritt. Manchmal ist es überdeutlich, daß er sich in die Gestalten des Romans zerlegt, wie in "Abend mit Goldrand". Manchmal ist es vielleicht etwas versteckter. Aber er ist einer, dessen Universum sein Ich ist. Wie das Kleists, wie das Kafkas, wie das Walsers. Roberts natürlich.

Der zweite Teil ist hier zu lesen.