19. Dezember 2011

Ist Christian Wulff ein zweiter Heinrich Lübke? Respektlosigkeit im Umgang mit dem Bundespräsidenten und Krisen der Bundesrepublik Deutschland


Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen Christian Wulff und Heinrich Lübke.

Beide wechselten direkt aus der aktiven Politik in das Amt des Bundespräsidenten; oder vielmehr: Sie wurden unversehens, ohne daß sie das angestrebt hatten, aus der aktiven Politik herausgeholt und ins Amt des Präsidenten hineinbefördert.

Als Politiker hatten beide als solide, aber langweilig gegolten; Wulff als jemand, "den man gern zum Schwiegersohn hätte", Lübke als der ungelenke Mann aus dem Sauerland, der als Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten den Gipfel seiner Karriere erreicht zu haben schien.

Beide waren in kleinen Verhältnissen in der Provinz ohne Vater aufgewachsen; beide hatten sich mit Fleiß und Disziplin nach oben gearbeitet. Beiden merkte man diesen harten Lebensweg an, die Herkunft aus dem Milieu der kleinen Leute und die Anstrengung, die es sie gekostet hatte, ganz nach oben zu kommen.

Beide waren für das Amt des Bundespräsidenten denkbar ungeeignet; für ein Amt, von dessen Inhaber Souveränität, Weltläufigkeit und eine nicht steife, sondern aus Selbstsicherheit erwachsende Würde verlangt wird. Sie waren nicht die Richtigen für ein Amt, das durch Theodor Heuss geprägt worden war, der alle diese Eigenschaften musterhaft besaß (siehe Zu seinem 125. Geburtstag: Erinnerung an Theodor Heuss; ZR vom 1. 2. 2009); später dann durch Präsidenten wie Richard von Weizsäcker und Roman Herzog.

Sowohl Lübke als auch Wulff wirkten schon als Politiker oft etwas linkisch; im Amt des Präsidenten steigerte sich das im Verbund mit dem Bemühen, würdevoll aufzutreten, manchmal zu einem nachgerade konfirmandenhaften Eindruck. Falls Sie den aktuellen "Spiegel" zur Hand haben, sehen Sie sich einmal das Foto von Wulff und Gattin auf Seite 23 an.

Als Titelbild für diesen Beitrag habe ich ein Foto von Lübke ebenfalls mit Gattin herausgesucht. Denn auch Lübke hatte eine ehrgeizige, nach Glamour strebende Frau; jene Wilhelmine Lübke, nach deren Vornamen die Ära Lübke damals gern das "Wilhelminische Zeitalter" genannt wurde. Was die Rolle Bettina Wulffs im Berufsleben ihres Mannes angeht, hat gestern in der "Welt am Sonntag" der Niedersachsen-Korrspondent der "Welt"-Gruppe, Ulrich Exner, das kolportiert, was man sich in Hannover darüber erzählt.



Männer wie Lübke und Wulff bieten Angriffsflächen. Sie wirken auf den Jagdinstinkt von Journalisten wie ein loshoppelndes Kaninchen auf den Trieb eines Hundes, ihm nachzujagen. Gerade ihre Redlichkeit macht sie angreifbar.

Nicht zuletzt dank der ehrgeizigen Gattin sind sie in ein Amt geraten, das nicht zu ihnen paßt. Was sie schützt, das ist allein die Würde dieses Amtes; nicht ein eigener Schutzpanzer, wie ihn die gewiefteren unter den Politikern tragen. Schon gar nicht verfügen sie über ein Arsenal vergifteter Pfeile, aus dem sie Waffen zum Gegenangriff ziehen könnten.

Christian Wulff hat gestern etwas getan, was bei derartigen Affären einmalig sein dürfte: Er hat nicht nur alle Privatreisen offengelegt, bei denen er von Freunden eingeladen worden war, sondern er hat sogar die Dokumente zu dem umstrittenen Kredit bei der Anwaltskanzlei Redeker Sellner Dahs hinterlegt mit der Maßgabe, sie Journalisten zur Einsicht zur Verfügung zu stellen.

So etwas hätte auch Heinrich Lübke machen können. Aber eine solche Offenheit schützt ja nicht vor dem Jagdinstinkt der Journalisten. Im Gegenteil, sie facht ihn an.



Lübke wie Wulff waren Verlegenheitskandidaten für das Amt des Bundespräsidenten gewesen.

Als 1959 die zweite Amtszeit von Bundespräsident Heuss endete, gab es ein monatelanges Hickhack um die Nachfolge. Erst wollte Konrad Adenauer selbst Bundespräsident werden; dann, vier Wochen vor der Wahl am 1. Juli 1959, doch nicht, nachdem ihn Verfassungsjuristen über die engen Befugnisse des Präsidenten aufgeklärt hatten. Er versuchte dann seinen Schützling, den Finanzminister Franz Etzel, als Kandidaten durchzusetzen, der aber dankend ablehnte ("Warum soll ich nicht gleich Papst werden?").

Dann kamen Heinrich Krone und Eugen Gerstenmaier ins Spiel, die aber auch nicht Präsident werden wollten. Adenauer versuchte gar Ludwig Erhard auf den Stuhl des Präsidenten hinwegzuloben, damit dieser nicht sein Nachfolger als Kanzler würde werden können. Erhard lehnte empört ab; Adenauer hatte der Presse schon melden lassen, daß er bereit sei.

Am Ende blieb nur Heinrich Lübke, von dem niemand erwartete, daß er in die Fußstapfen von Theodor Heuss würde treten können. Der "Spiegel" am 24. Juni 1959, eine Woche vor der Wahl Lübkes:
Außer seinem Silberhaar, seiner Anständigkeit und seiner Gattin Wilhelmine, einer Mathematiklehrerin mit gleich großen sprachlichen und gesellschaftlichen Anliegen - bringt Heinrich Lübke nicht viel Eigenschaften mit in die Villa Hammerschmidt, die jenem Leitbild entsprechen, das Theodor Heuss für das Bundespräsidentenamt kreiert hat.

Sogar die "Zeit" des christdemokratischen Abgeordneten Gerd Bucerius unkte: "Ob er ein guter Vater des Volkes sein wird (wie Heuss es als Präsident war)? Nun, zum guten Onkel wird es sicher reichen ..." (...).

Die gutbürgerliche "Frankfurter Allgemeine", die wie kein anderes Blatt den Geist der Bundesrepublik verkörpert, leitartikelte noch am Tag der Lübke-Nominierung: "Wir, die Bürger, könnten eine solche Kandidatur kaum hinnehmen."
Man hat sie hingenommen. Aus koalitionstaktischen Gründen (er galt als Befürworter einer Großen Koalition) wurde Lübke sogar 1964 in eine zweite Amtszeit gewählt; mit den Stimmen auch der SPD.

Vor allem in dieser zweiten Amtszeit häuften sich die Angriffe gegen ihn. Er wurde zum Opfer einer groß angegelegten Operation der für Destabilisierung und Desinformation in der Bundesrepublik zuständigen Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des MfS, Abteilung X, die ihn als "KZ-Baumeister" zu diffamieren trachtete.

Nicht weniger verheerend für das Ansehen Lübkes in seinen letzten Amtsjahren war der Versuch, ihn als einen senilen Trottel hinzustellen. Das ging vor allem vom "Spiegel" aus. Ganze Sammlungen angeblicher Zitate von Lübke machten die Runde durch die Medien; es wurde der Begriff "Lübke-Englisch" für ein unbeholfenes Englisch geprägt. Erst 2006 plauderte Hermann L. Gremliza, der damals beim "Spiegel" an dieser Schmutzkampagne beteiligt gewesen war, aus, daß es sich größtenteils um Fälschungen handelte; der Hauptfälscher war laut Gremliza Ernst Goyke gewesen, damals Korrespondent im Bonner Büro des "Spiegel". "Equal goes it lose" hat Lübke niemals gesagt; Goyke hatte es erfunden.

Heinrich Lübke war der Kampagne schließlich nicht mehr gewachsen. Ein Vierteljahr vor dem Ende seiner Amtszeit trat er zurück.



Auch Christian Wulff war ein Verlegenheitskandidat. Die Kanzlerin wollte nach dem Rücktritt von Horst Köhler Handlungsfähigkeit beweisen und drückte seine Kandidatur im Alleingang durch; nur schnell mußte es gehen, um gar nicht erst eine Debatte aufkommen zu lassen (siehe Wahl des Bundespräsidenten: Die Väter des Grundgesetzes und die selbstherrliche Entscheidung der Kanzlerin; ZR vom 6. 6. 2010). Wulff wurde von Merkel angeworben, so wie früher Soldaten angeworben wurden; exakt so hatte auch Konrad Adenauer in seiner Personalnot damals Lübke ins Amt des Präsidenten hineingehievt.

Daß Wulff wohl kein großer Bundespräsident werden würde, war schon vor seiner Wahl klar (siehe Bundespräsident Christian Wulff; ZR vom 10. 6. 2010). Aber er führt sein Amt auch nicht auffällig schlecht; so wenig, wie das Heinrich Lübke getan hat. Mit Lübke ist man am Ende seiner Amtszeit so despektierlich umgegangen, daß es eine Schande war. Jetzt springen viele Medien - und inzwischen auch immer mehr Politiker der Linken - mit Christian Wulff so um, als sei er ein xbeliebiger Politiker und nicht unser Präsident.

Niemand hätte sich das gegenüber Theodor Heuss getraut, gegenüber Gustav Heinemann, Walter Scheel oder irgendeinem anderen Präsidenten; außer eben Lübke.

Das hat zum einen seinen Grund in der genannten Verletzbarkeit von Menschen wie Lübke und Wulff. Bei Lübke signalisierte es aber noch etwas anderes: Den Verfall staatlicher Autorität. Die Diffamierung und Verhöhnung des Bundespräsidenten fiel zusammen mit der beginnenden "antiautoritären" Bewegung, die sich damals selbst APO nannte, außerparlamentarische Opposition. Bald wurde sie "die Studentenbewegung" tituliert; heute spricht man rückblickend von "den Achtundsechzigern".

Lübke repräsentierte den Staat; und zwar den konservativen Staat, den Staat von Recht und Ordnung. Ihn herabzusetzen war damals für Viele subjektiv lustvoll. Objektiv war es ein Anzeichen des Verfalls dieses Staats der Adenauerzeit. Drei Monate nach Lübkes vorzeitigem Amtsverzicht war Willy Brandt Bundeskanzler und verkündete sein "Mehr Demokratie wagen".

Auch die jetzige Unverblümtheit, mit der in den Medien der Bundespräsident kritisiert wird, kann man wohl als Ausdruck einer Krise verstehen. "Der falsche Präsident" titelt der "Spiegel" dieser Woche (Heft 51/2011 vom 17. 12. 2011). Das stimmt; aber in einem durchaus anderen Sinn, als die Titelredaktion des "Spiegel" es wohl verstanden wissen will: Deutschland ist heute ein linkes Land. Die liberalkonservative Regierung, die es noch hat, ist insofern eine falsche Regierung. Der aufgeklärt konservative Bundespräsident Wulff ist insofern in der Tat ein falscher Präsident.

Spätestens seit der kollektiven Besoffenheit des "Atomausstiegs" sind Liberale und Konservative in Deutschland nur noch eine Minderheit; und zwar nicht nur im numerischen Sinn: Sie haben vor allem die Meinungsführerschaft verloren. Linkes und grünes Denken bestimmt heute das geistige Klima des Landes; Konservative und Liberale sind an den Rand gedrängt. Ganz so, wie Heinrich Lübke 1969 nicht mehr in die Zeit paßte.

Damals war es die Straße, die vor allem Träger des neuen Zeitgeists war. Heute sind es die Medien, allen voran die gebührenfinanzierten. Das ist nicht weiter erstaunlich. Denn diejenigen, die heute die Medien beherrschen, waren damals auf der Straße.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild: Bundespräsident Heinrich Lübke bei einem Staatsbesuch in Paris am 14. Februar 1968. Rechts seine Gattin Wilhelmine.