17. Dezember 2011

Was eigentlich ist Bundespräsident Wulff vorzuwerfen? Und wie wären die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung, falls er zurücktritt?


Gegen die Schärfe der Kritik, die in diesen Tagen auf den Bundespräsidenten Wulff niederprasselt, war das, dessentwegen Horst Köhler am 31. Mai 2010 zurücktrat, ein laues Lüftlein. Sie entsinnen sich: Köhler stellte sein Amt zur Verfügung, nachdem eine in keiner Weise zu beanstandende Äußerung über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr aus der Linken heraus kritisiert worden war. Köhler hatte nur das Selbstverständliche gesagt: Daß der Einsatz der Bundeswehr auch deutschen Interessen dient. Das genügte, um ihn zum Rücktritt zu bringen.

Als Köhler zurücktrat, hatte die christlich-liberale Koalition in der anschließenden Bundesversammlung eine klare Mehrheit: 644 der 1244 Mandate. Wie sähe aus, wenn Christian Wulff jetzt ebenfalls zurücktreten würde?

Die verdienstvolle WebSite wahlrecht.de hat es errechnet: Von diesmal 1240 Sitzen in der Bundesversammlung hätte Schwarzgelb 622 bis 624 (abhängig von Losentscheid), also nur eine hauchdünne Mehrheit. Die Linke (SPD, Grüne und Kommunisten) käme zusammen auf 600 bis 602 Sitze. Von den 16 "Sonstigen" wären 10 Freie Wähler aus Bayern, 3 NPD-Leute, 2 Piraten und einer vom SSW, der Partei der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein.



Auch mit ihrer komfortablen Mehrheit konnte die Regierungskoalition im Mai 2010 ihren Kandidaten Wulff erst im dritten Wahlgang durchbekommen. Und selbst in diesem dritten Wahlgang konnte sie nicht alle ihre Wahlleute hinter Wulff versammeln; er bekam lediglich 625 Stimmen der 644 Wahlleute von Union und FDP. In den beiden Wahlgängen zuvor hatte er nur 600 und 615 Stimmen erhalten.

Gewiß spielte in dieser 14. Bundesversammlung die besondere Attraktivität von Wulffs Gegenkandidaten Joachim Gauck eine Rolle; vielleicht auch die naßforsche Art, in der die Kanzlerin ihren Kandidaten Wulff in die Kandidatur hineinbefördert hatte (siehe Wahl des Bundespräsidenten: Die Väter des Grundgesetzes und die selbstherrliche Entscheidung der Kanzlerin; ZR vom 6. 6. 2010).

Aber bisher hat noch jede Bundesversammlung ihre eigene Dynamik entwickelt. Daß in einer etwaigen 15. Bundesversammlung nach einem Rücktritt Wulffs bei einer schwarzgelben Mehrheit von 622 (vielleicht zwei mehr) Stimmen von insgesamt 1240 deren Kandidat schon so gut wie gewählt wäre, wird man keinesfalls prognostizieren können. Sehr gut könnte ein Kandidat der Linken, der auch einige bürgerliche Stimmen auf sich ziehen kann, Nachfolger Wulffs werden; es muß ja nicht unbedingt wieder Gauck sein.



Was sollen eigentlich die jetzigen heftigen Angriffe gegen Wulff? Er hat sich nichts, absolut nichts zuschulden kommen lassen. Der Hintergrund dessen, was man ihm jetzt vorwirft, wird oft gar nicht gesehen:

Christian Wulff wuchs bekanntlich vaterlos auf. Als Jugendlicher lernte er den Unternehmer Egon Geerkens kennen, der für ihn zu einem Vaterersatz wurde. "Ein Politiker, der Wulff und Geerkens seit Jugendtagen kennt, berichtet, Geerkens handele im Verhältnis zu seinem Ziehsohn ohne Eigennutzabsichten", schrieb Robert von Lucius gestern in der FAZ.

Im Rahmen einer solchen engen, bis in die Jugend zurückreichenden Freundschaft erhielt Wulff von Geerkens einen Privatkredit. Das wurde über ein Konto von Geerkens Frau abgewickelt; auch sonst war man um Diskretion in der kleinen Großstadt Osnabrück bemüht, in deren bürgerlichen Kreisen jeder jeden kennt.

Was ist daran zu beanstanden? Absolut nichts. Ein väterlicher Freund gibt dem Jüngeren, wirtschaftlich nicht so gut Gestellten ein Privatdarlehen. Über welches Konto so etwas läuft, welche Art von Scheck ausgestellt wird (in diesem Fall ein anonymer Bundesbankscheck) - wen hat das etwas anzugehen?

Nun wird Wulff vorgeworfen, den niedersächsischen Landtag "getäuscht zu haben". Die Affäre begann mit einem Artikel in "Bild" am Montag dieser Woche mit der Überschrift "Hat Wulff das Parlament getäuscht?". Darin wird über eine parlamentarische Anfrage der Grünen-Politiker Stefan Wenzel und Ursula Helmhold am 18. Februar 2010 berichtet, in der nach "geschäftliche Beziehungen" Wulffs unter anderem zu dem Unternehmer Egon Geerkens gefragt worden war. Wulff ließ antworten:
Zwischen Ministerpräsident Wulff und den in der Anfrage genannten Personen und Gesellschaften hat es in den letzten zehn Jahren keine geschäftlichen Beziehungen gegeben.
Was ist nun wieder an dieser Antwort zu beanstanden? Wenn ein alter Freund seinem "Ziehsohn" einen Privatkredit gibt, dann ist das so wenig eine "geschäftliche Beziehung", wie es zuvor eine geschäftliche Beziehung gewesen war, daß Egon Geerkens den Freund und dessen Frau nach Florida einlud.



In parlamentarischen Anfragen geht es selten um die Wahrheit um der Wahrheit willen. Es geht darum, dem politischen Gegner zu schaden.

Wulff war - das war der Hintergrund der grünen Anfrage gewesen - heftig kritisiert worden, weil er beim Flug nach Florida etwas in Anspruch genommen hatte, das viele Fluglinien Prominenten gewähren: Er hatte in der Economy Class gebucht, wurde aber eingeladen, in der Business Class zu fliegen. Dadurch war dieser Urlaub in der Villa des Freundes Geerkens ins Visier linker Kritik geraten; und die Anfrage nach Geschäftsbeziehungen war der Versuch der Fraktion der Grünen gewesen, noch ein wenig weiter in der Sache zu wühlen.

Wulff hatte zur Abwehr dieser Attacke das einzig Vernünftige getan: Er hatte sie wahrheitsgemäß beantwortet. Ohne Zugabe freilich.

Welcher Teufel hätte ihn denn geritten, wenn er hätte mitteilen lassen: "Ach, übrigens, der Ministerpräsident hat zwar keine Geschäftsbeziehungen zu Herrn Geerkens, aber falls es jemanden interessiert, er hat von diesem alten Freund ein Privatdarlehen erhalten, das über das Konto von dessen Frau abgewickelt wurde"? Wulff wäre doch mit dem Klammerbeutel gepudert gewesen, wenn er ohne Grund diese privaten Informationen, die niemanden etwas angingen, den Grünen auf einem silbernen Tablett serviert hätte.



Deutschland ist ein Land mit ungewöhnlich wenigen Skandalen. Es gibt nicht sehr viele Länder, in denen Korruption in der Politik so wenig vorkommt wie in Deutschland. Das ist natürlich ein Problem für unsere Medien. Nach sex and crime kommt gleich das Thema "Die da oben sind doch alle raffgierig", wenn man die Auflage und die Zahl der Klicks steigern möchte.

Aber deswegen müssen die Medien ja nicht gleich einen Skandal basteln, wo keiner ist. Zumal, wenn es um das höchste Amt im Staat geht.

Was ist denn das Ziel? Ein in seinem Ansehen beschädigter Präsident, der aber weitermacht? Ein mit dem Präsidenten notwendigerweise mit beschädigtes Amt? Eine weitere Erosion des Vertrauens in die Politik, in diesen Staat Bundesrepublik Deutschland? Die Bestärkung der Häme des Philisters "Die taugen doch alle nichts, die da oben"?

Oder ist es das Ziel der Medien, die dieses Kaninchen aus dem leeren Zylinder gezaubert haben, Wulff in den Rücktritt zu treiben und damit den Weg freizumachen für einen anderen Präsidenten? Einen linken vielleicht; das wäre dann ein "Stück Machtwechsel", Modell Heinemann 1969? Jedenfalls wahrscheinlich einen weniger konservativen, als es der praktizierende Katholik Wulff ist.

Die Oppositionspolitiker zumindest dürften den "Skandal", der keiner ist, im Hinblick auf eine solche Möglichkeit mit Interesse verfolgen. Vermutlich hat auch schon der eine oder andere von ihnen einen Blick auf die Zusammensetzung einer eventuellen vorgezogenen 15. Bundesversammlung geworfen.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Christian Wulff im März 2010. Vom Autor AxelHH in die Public Domain gestellt. Bearbeitet.