31. Dezember 2011

Ein gut selig ior! Als Neujahrsgabe ein Text von Rayson über Linke und Liberale


"Ein gut selig ior" wünscht der Gestalter dieses Kalenders, gedruckt zwischen 1480 und 1490 in Basel, seinen Lesern*). Ja, das wünscht das ZR-Team auch Ihnen, unseren Lesern.

Es ist ein Wunsch, den wir alle in dem bevorstehenden, fast könnte man sagen: dem drohenden Jahr 2012 gut werden brauchen können.

Gestern habe ich das Gute und das Schlechte an unserem Land beschrieben, so wie ich es sehe. Zum Negativen rechne ich vor allem die wachsende Dominanz einer rotgrünen Ideologie, die gelegentlich bereits Züge einer deutschen Staatsreligion annimmt.

Mit unserer Freiheit steht es somit nicht so gut, wie es dem sonstigen guten Zustand dieses Landes entspricht. Deshalb finden Sie hier als Text zum Neuen Jahr ein Plädoyer für die Freiheit; eine Erläuterung liberalen Denkens. Der Artikel wurde bereits vor fünf Jahren geschrieben, am 21. November 2006. Sein Autor ist Rayson; erschienen ist er damals dort, wo man seit Jahren Raysons ausgezeichnete Analysen lesen kann, bei B.L.O.G..
Zettel
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PROJEKTIONSIRRTÜMER

Manche Diskussionen mit Linken leiden darunter, dass diese die Position von Liberalen mit der eigenen Projektion verwechseln. Damit meine ich nicht die quasi-pathologischen Fälle, die ihrem Gegenüber willkürlich Meinungen andichten (das ist auch kein linkes Privileg), sondern (virtuelle) Personen, die so sehr in ihrem eigenen Denkschema gefangen sind, dass sie nicht in der Lage sind, liberale Positionen wirklich zu verstehen.

Ein kleiner "Disclaimer" vorweg, um zu verhindern, dass dieser Beitrag im falschen Licht gesehen wird: Ich denke nicht an konkrete Gegenüber, sondern personalisiere beobachtetes Verhalten. Und da die Linke, ähnlich wie der Islam, selbst sehr viel Wert darauf legt, wann sie sich als solche konstituiert und wann nicht (was sie selbstverständlich nicht daran hindert, ihren Gegnern dasselbe Recht abzusprechen, aber das ist eine andere Geschichte), muss noch betont werden, dass diese Typisierung nur auf einen Ausschnitt zutrifft und natürlich keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat.

Worum geht es also? Für Linke scheint sich individuelle Motivation und moralische Einstellung in einer Art doppeltem Kant niederzuschlagen, indem aus der Bedingung des kategorischen Imperativs eine Pflicht gemacht wird: Wenn du eine Handlung erkannt hast, die zur allgemeinen Maxime taugt, dann setze sie auch als solche durch, notfalls mit Zwang. Abweichendes, also unmoralisches Verhalten wird als Systemfehler betrachtet, dem durch neue Regelungen abzuhelfen ist. Am Ende steht das Ideal der perfekten Gesellschaft, in der die Menschen gar nicht mehr anders können, als sich moralisch korrekt zu verhalten, weil sie, sofern sie von sich aus lieber anders handeln würden, sofort von einem Regelungssystem auf das richtige Gleis gesetzt werden.

Liberale hingegen sehen selbst dann, wenn sie die moralischen Positionen der Linken teilen, keinen Grund, über ein Zwangssystem auch die Unwilligen dazu zu verpflichten, wenn, und das ist das für Liberale entscheidende Kriterium, die Freiheit des Einzelnen nicht die allgemeine Durchsetzung einer bestimmten Forderung notwendig macht, die sich womöglich auch moralisch begründen lässt. Diese Bedingung wird aber sehr restriktiv angewendet, so dass es sich hier immer nur um eine sehr übersichtliche Teilmenge einer umfassenden Moral handeln kann.

Ich will jetzt ausnahmsweise mal nicht darauf abheben, welche Sichtweise die für mich sympathischere ist (das ist eh klar…) und warum. Sondern mir geht es um die durch diese Differenz erleichterte Fehlwahrnehmung (oder – entsprechende Böswilligkeit vorausgesetzt – auch Denunzierung). Weil der Liberale nämlich davon absieht, seine eigenen moralischen Kriterien über ein staatliches System verpflichtend machen zu wollen, liegt für den Linken die Folgerung nahe, er lege auf diese gar keinen Wert, oder – einen Schritt weiter im Umkehrschluss – der Liberale sympathisiere gar grundsätzlich mit dem unmoralischen Verhalten.

Beispiel Diskriminierung: Sowohl der Linke als auch der Liberale empfinden keine Sympathie zu Menschen, die andere Menschen wegen Hautfarbe, Religion oder Geschlecht diskriminieren. Der Linke wird deswegen fordern, diskriminierendes Verhalten durch Zwang zu sanktionieren. Der Liberale wird dies wegen des damit verbundenen Eingriffs in die Freiheit des Einzelnen ablehnen. Selbst dann, wenn er, sobald er in seinem Umfeld Diskriminierung wahrnimmt, von allgemeinen Bürgerrechten Gebrauch macht, um dem Diskriminierer zu zeigen, dass er sein Verhalten für falsch hält. Man vergleiche hierzu die Diskussion beim A’Team. Noch einen Schritt weiter: Der Liberale wird darauf setzen, dass Diskriminierer im Wettbewerb um knappe Ressourcen benachteiligt sind, weil sie auf Optionen verzichten, die dem vernünftigen Menschen offenstehen. Er vertraut also auch darauf, dass eine freie Gesellschaft die richtigen Anreize setzt.

Ähnliches gilt z.B. für die Arbeitswelt: Linke halten Liberalen gerne vor, rücksichtslose Massenentlassungen folgten einer (neo)liberalen Logik bzw. in ihnen manifestierten sich (neo)liberale Wertvorstellungen, wonach der Einzelne z.B. nur nach seinem materiellen Nutzen beurteilt werde. Wenn wir mal die hier zu Tage tretende Komplexitätsverweigerung im moralischen Urteil außer Acht lassen ("ce qu’on voit"), beruht diese Einschätzung aber eben genau auf dem Projektionsfehler: Es zählen für den Linken nur die Werte, die man auch der Allgemeinheit aufzuzwingen bereit ist. Dass man als Liberaler unmoralisches Handeln individuell verurteilen, aber gleichzeitig dennoch für das Recht darauf eintreten kann, widerspricht linken Vorstellungen so sehr, dass diese Einstellung nur widerwillig bis gar nicht als überhaupt logisch zulässig wahrgenommen wird.

Nochmal, zur Klarstellung: Dieser Konflikt besteht auch dann, wenn die Moralvorstellungen ansonsten völlig deckungsgleich sind. Es geht mir nicht um die Kritik einer "linken" Moral – im Gegenteil, wahrscheinlich würde ich sogar gerne in einer Gesellschaft leben, in der sich alle Menschen freiwillig nach dieser richteten. Eine tolerante, offene, solidarische, warmherzige Gesellschaft ist ein wunderschönes Ziel, das anzustreben sich lohnt. Liberale bezweifeln aber nicht nur, dass eine solche sich überhaupt von Menschen designen ließe, sie sind sich auch sicher, dass der Versuch, selbst die wunderschönsten Idealvorstellungen mit Zwangsmitteln verwirklichen zu wollen, unweigerlich in etwas endet, dass mit diesen nicht mehr viel zu tun haben kann und stattdessen auf das Gegenteil hinausläuft. Für viele Linke ist das dann gleichbedeutend mit der Ablehnung dieser Ziele.
Rayson



© für den Einleitungstext: Zettel. © für "Projektionsirrtümer": Rayson. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Gansguoter.