28. Dezember 2011

Marginalie: "Es geht nicht um die Religion". Die Gewalt in Nigeria und das marxistische Weltbild. "Fürchterliche Vereinfacher"

Jeder Marxist weiß es. Sofern er in einem kommunistisch regierten Staat aufwuchs, hat er es auf Schule und Universität eingebleut bekommen: Politische Konflikte sind letztlich immer ökonomisch bedingt. Sie sind Konflikte zwischen Reichen und Armen; im Inneren zwischen Klassen, in der Weltpolitik als eine Art Klassenkampf zwischen den kapitalistischen Ausbeuterländern und den anderen, die von ihnen einst imperialistisch, jetzt neoimperialistisch ausgebeutet werden.

Es ist die Ökonomie und es sind keinesfalls Ideen, welche die Geschichte bestimmen; derart hat bekanntlich Karl Marx den Hegel "vom Kopf auf die Füße" gestellt.

Belege für diese Theorie gibt es nicht. Im Gegenteil sprechen die Fakten dafür, daß die Geschichte von zahlreichen Faktoren ganz unterschiedlicher Art und ihren Wechsel-wirkungen bestimmt wird - geographischen und klimatischen, technologischen und ökonomischen, von Religionen, nationalem Sendungsbewußtsein und nicht zuletzt vom Machthunger der Herrscher. Wer die großen Werke der Geschichtsschreibung liest - etwa Theodor Mommsens "Römische Geschichte", Jacob Burckhardts "Weltgeschicht-liche Betrachtungen" oder Arthur Toynbees "A study of history" -, der bekommt eine Vorstellung von der Komplexität dieser Faktoren und ihrer Wechselwirkungen.



Aber Marxisten und ihre Adepten kümmert das nicht. Sie stochern so lange, bis sie jedes geschichtliche Phänomen, jede politische Entwicklung auf die vorgeblich zugrundeliegenden ökonomischen Faktoren zurückgeführt haben. Man muß nur genügend vereinfachen, Tatsachen ausblenden, der Geschichte das materialistische Raster überstülpen. Irgendwie paßt es schon.

Ein illustratives Beispiel ist gegenwärtig bei "Zeit-Online" zu besichtigen. Es handelt sich um einen aus dem "Tagesspiegel" übernommenen Artikel über die jüngsten Anschläge in Nigeria, und der Autor ist Christoph von Marschall; bisher nicht als Afrika-Kenner hervorgetreten, sondern einst Spezialist für Osteuropa und jetzt Korrespondent in Washington, wo er - wie er sich rühmt - nach Obamas Einzug in das Weiße Haus "einer der wenigen Korrespondenten mit `'White House Press Pass'" wurde. Er hatte freilich auch 2007 ein Buch geschrieben; eine Eloge auf den damaligen Kandidaten: "Barack Obama. Der schwarze Kennedy".

Marschall also klärt uns unter der Überschrift "Es geht nicht um Religion" über die wahren Hintergründe der blutigen Anschläge gegen Christen in Nigeria auf; mit einem Blick auch auf die gegenwärtige Machtübernahme der Schiiten im Irak:
Oft wird der Eindruck erweckt, als seien die Religionen die Ursache des Blutvergießens, in Wahrheit aber brennen die Kirchen in Nigeria nicht, weil sich die Menschen dort um theologische Fragen streiten. Hintergrund ist ein langer Machtkampf zwischen dem muslimischen Norden und dem christlichen Süden um Einfluss und Ressourcen.

Ebenso wenig geht es im Irak um die sunnitische oder schiitische Auslegung des Koran, sondern um Herrschaftsansprüche – und um die bis heute fortwirkenden Rachewünsche wegen der jahrzehnte-langen Unterdrückung der schiitischen Mehrheit durch die sunnitische Minderheit.
Welch eine Oberflächlichkeit des Denkens! Natürlich geht es beim religiösen Fanatismus nicht darum, daß sich die Fanatiker "um theologische Fragen" oder "die Auslegung des Koran" streiten. Sondern sie haben aufgrund ihres Fanatismus einen Haß auf die Anderen, die Nichtgläubigen oder Irrgläubigen entwickelt - Schiiten und Sunniten des Irak die einen auf die anderen; Moslems Nigerias auf die dortigen Christen.

Selbstredend wirkt ein solcher religiöser Fanatismus nicht isoliert. Er hat seine Geschichte. Er ist - siehe oben - in komplexen Wechselwirkungen verwoben mit ethnischen Konflikten, mit der Konkurrenz um Ressourcen und mit vielen anderen Faktoren. Deshalb bleibt er aber doch religiöser Fanatismus; und als solcher ist er nicht nur in Nigeria und im Irak eine wirkmächtige politische und gesellschaftliche Triebkraft.

Daß es die Konfession als solche ist, die gegenwärtig die irakische Innenpolitik bestimmt, erhellt zum Beispiel aus den engen Verbindungen, die Ministerpräsident Maliki und seine schiitische Partei "Rechtsstaat-Allianz" zum bekanntlich von schiitischen Fanatikern regierten Iran haben (siehe "Wir geraten unter iranische Besatzung". Präsident Obama erhält die Quittung für seine Irakpolitik; ZR vom 19. 10. 2010). Alle nationalen Interessen des Irak sprechen gegen eine solche Allianz; allein die gemeinsame Konfession begründet sie. Ebenso richtet sich die Gewalt von Moslems in Nigería eben nicht gegen beispielsweise Regierungsgebäude, sondern gegen christliche Einrichtungen wie Kirchen.

Man muß schon eine große Bereitschaft zur Verkennung der Realität haben - also zum Beispiel ein gefestigtes marxistisches Weltbild -, um das nicht zu sehen. Marschall aber sieht nur die Ökonomie und die sozialen Klassen:
Die Triebkräfte der Gewalt sind meist ein komplizierter Mix aus dem Streben nach sozialer Emanzipation, ökonomischer Teilhabe und Rache für erlittenes Unrecht.
Daß Gewalt nicht nur aus solchen sozio-ökonomischen Gründen entsteht, sondern auch aus Nationalismus, aus religiösem Fanatismus, aus - wie bei den Nazis - Rassismus: Das ist, so scheint es, dem Autor Christoph von Marschall nicht zugänglich. Er hat ein schlichtes, man könnte vielleicht sagen: krudes Bild von der Geschichte und ihren Triebkräften.

Wären diejenigen, die so denken, eine Minderheit von Menschen mit ideologischen Scheuklappen, dann könnte man darüber hinweggehen. Aber so wie Marschall denken ja viele; so haben sie es oft in der Schule und manchmal auch auf den Universitäten gelernt.

Eine wissenschaftliche Sicht, die alle Faktoren in den Blick nimmt - Religion, Nationalismus, ethnische und Rassen-konflikte, aber natürlich auch die ja nicht zu leugnenden ökonomischen und gesellschaftlichen Faktoren -, kommt gegen die Schlichtdenker, die "terribles simplificateurs" (die fürchterlichen Vereinfacher; der Ausdruck geht auf Jacob Burckhardt zurück) à la Christoph von Marschall offenbar nur schwer an.
Zettel



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