25. Dezember 2011

Literarische Randnotizen (5): Auf und davon. Die Leselust an der Reiselust. Teil 1: Von Karl Philipp Moritz zu Karl May

Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann das Reisen zu einem Vergnügen zu werden. Bis ins 18. Jahrhundert hinein reiste man selten zum Spaß. Das Reisen war eine anstrengende, eine auch langwierige Sache. Oft ging man schlicht zu Fuß; wie noch Johann Gottfried Seume im Jahr 1802 bei seinem "Spaziergang nach Syrakus".

Wer es sich leisten konnte, nicht zu Fuß zu gehen, der fuhr meist mit der Postkutsche. Auch damals gab es schon den "Omnibus"; eine größere Kutsche "für alle" (so die wörtliche Übersetzung). Der Omnibus war billiger als die normale "Post", aber auch unbequemer. Hier sehen Sie einen Omnibus im New Yorker Linienverkehr; eine Aufnahme aus den Anfangsjahren der Fotografie (ca. 1850):



Nur die Reichen konnten sich eine private "Equipage" leisten. Aber auch mit ihr war das Reisen oft so langsam, daß es bei gutem Wetter die Reisenden ersprießlicher fanden, auszusteigen und neben der Kutsche herzugehen. In Jan Potockis verschachteltem Schauer- und Abenteuerroman "Die Handschrift von Saragossa"; geschrieben um die Wende zum 19. Jahrhundert, beginnen die Abenteuer des Helden damit, daß er neben der Kutsche auf einem Waldpfad hergeht, dabei diese aus den Augen verliert und sich verirrt.

Damals reiste man in der Regel nicht um des Reisens willen, sondern weil man irgendwo hin mußte, um etwas zu erledigen oder sich dort aufzuhalten - es reiste der Student zu seiner Universität, der Handwerksbursche; natürlich der Händler, der Fuhrmann, der Waren transportierte. Gelehrte reisten, um andere Gelehrte kennenzulernen; so Georg Christoph Lichtenberg, als er 1774/75 nach England fuhr und dort die Bekanntschaft großer Forscher wie James Watt und Joseph Priestley machte.

Von Lichtenberg gibt es auch Schilderungen der damaligen Beschwerlichkeit des Reisens - die engen, holpernden Kutschen, die nicht selten Unfälle hatten, wenn beispielsweis ein Rad brach. Die schmutzigen Gasthäuser, in denen man übernachten mußte; manchmal in Kammern im selben Bett mit anderen Gästen, wenn nicht gar die Wirtsstube nachts zum Schlafsaal umgebaut wurde.

Nein, eine Lust war das Reisen damals nicht. Der Begriff der Vergnügungsreise wäre nachgerade als Oxymoron erschienen, als Widerspruch in sich.



Goethe war, als er vom September 1786 bis zum Mai 1788 durch Italien reiste, einer der ersten, die sich aufmachten - einfach nur, um zu reisen. Allerdings erschien sein Reisebericht - die "Italienische Reise" - erst drei Jahrzehnte später, in den Jahren von 1813 bis 1817. Damals war das Publikum schon sehr aufnahmebereit für Derartiges geworden.

Der erste Band ist eine prachtvolle Lektüre. Da reist ein neugieriger, naturwissenschaftlich und kulturell interessierter 37jähriger durch das fremde Land und erlebt allerlei Abenteuer und Begegnungen, die er farbig, oft auch ironisch schildert. Der zweite Band ist dagegen ein Langweiler; geschrieben jetzt für die Daheimgebliebenen in Weimar, denen Goethe in offenkundig didaktischer Absicht Nachhilfe in Sachen Kultur Italiens gibt.

Einmal also Goethe, der forschende Wissenschaftler, der lebenslustige Mann in den besten Jahren. Das andere Mal jener Goethe, der sich als Klassiker zu Lebzeiten sah; der wußte, was er seinem Ruf schuldig war.

Schon einige Jahre vor Goethes Italienischer Reise - 1782 - war Karl Philipp Moritz nach England gereist; mit 26 Jahren noch ein junger Mann. Seine Schilderungen der Wunder Englands - damals die reichste, die kulturell am weitesten fortgeschrittene Nation der Erde - ist ebenfalls eine großartige Lektüre; gleichrangig, was England angeht, ist in meinen Augen nur Fontanes "Ein Sommer in London" (1860). Beide waren fasziniert von diesem Land; wie es übrigens auch Lichtenberg gewesen war, der seine Eindrücke in den Briefen aus England an seinen Freund Heinrich Christian Boie schilderte.



Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. In dem Maß, in dem Einzelne - die Neugierigen, die Wagemutigen - sich ans Reisen um des Reisens willen machten, wuchs beim Publikum das Bedürfnis, etwas über ihre Eindrücke und Abenteuer zu erfahren; und damit natürlich auch über die Länder und Gegenden, die sich durchreisten. Es entwickelte sich das Genre der Reiseliteratur.

Reiseberichte gibt es natürlich seit der Antike; Herodot zum Beispiel hat über seine Reisen geschrieben, und in gewisser Weise war ja auch bereits die Odyssee ein Reisebericht gewesen. Für fremde Länder und Völker, für das Exotische und auch Barbarische außerhalb der eigenen heimatlichen Welt haben Menschen sich immer interessiert. Aber nun, im 19. Jahrhundert, wurde dieses Interesse doch ungewöhnlich groß.

Es brach das Zeitalter der europäischen Welteroberung, des Kolonialismus an. Zugleich wuchs Europa enger zusammen. Die Eisenbahn machte ab ungefähr den vierziger Jahren das Reisen ungleich bequemer; parallel dazu entstanden komfortablere Unterkünfte für die immer zahlreicher werdenden Reisenden. Es wurde der Boden bereitet für eine Entwicklung, die erst zu den Vergnügungs- und Bildungsreisen der Wohlhabenden und später zum Massentourismus führte.

Mutige Männer reisten aber auch per Schiff und auf dem Pferderücken in die entlegendsten Teile der Welt; ohne allen diesen sich entwickelnden Komfort. Und waren sie zurück, dann verwandelte sich der Abenteurer, der Forscher oft in einen Mann der Feder, in den Reiseschriftsteller. Vielgelesen; oft bewundert und bestaunt, wie zum Beispiel Alexander von Humboldt, über den Matthias Matussek 2004 im "Spiegel" eine schöne Titelgeschichte geschrieben hat.

Humboldt war ein Mann von akribischer Genauigkeit, der nichts um das herum hinzufabulierte, was er selbst gesehen und erlebt hatte. Andere waren da, sagen wir, fiktionsfreudiger. Am weitesten hat es in dieser Hinsicht der "Reiseschriftsteller" Karl May gebracht - man könnten auch sagen: am tollsten hat er es getrieben, der das Erlebte nicht nur ausschmückte, sondern der seine "Reisen" schlicht erfand.

Er beförderte diese Gattung der Reiseliteratur insofern ins Irrwitzige. Indem er sich von der Realität freimachte, konnte er freilich auch Abenteuer an Abenteuer reihen; in einer Verdichtung, deren kein realistischer Reisebericht je fähig gewesen wäre.

In seinem Orientzyklus zum Beispiel geht die Reise quer durch das ganze Osmanische Reich - von Tunesien (wo mit dem Fund eines Ermordeten die Abenteuer anheben) durch Nordafrika und Ägypten, durch den Irak, Kurdistan und über Konstantinopel (Stambul) hinein in die Schluchten des Balkan. Und ständig werden Schurken gejagt, wird gekämpft, gefangen und befreit.

Nicht anders ist es bei den Reisen Karl Mays in Amerika - hier nicht als Kara ben Nemsi, sondern bekanntlich als Old Shatterhand. Wer das gelesen hat, dem müssen Schilderungen realer Abenteuerreisen durch den Wilden Westen fad vorkommen; etwa das (freilich grandiose) Tagebuch der Expedition von Lewis und Clark, die von 1804 bis 1806 vom Mississippi durch den nordamerikanischen Kontinent bis zum Pazifik reisten; auf einer Route, der dann später viele Siedlertrecks folgten ("Oregon Trail"). Hier ist ihre Reisestrecke:




Aber es gab nicht nur die nüchternen Forscher und Tagebuchschreiber auf der einen und Reisephantasten wie Karl May auf der anderen Seite. Es gab auch die reisenden Schriftsteller; Meister der fiction, die sich auch in der nonfiction versuchten: Herman Melville, Robert Louis Stevenson, Mark Twain. Über sie etwas im zweiten Teil.
Zettel



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