21. Dezember 2011

Zitat des Tages: Christian Wulff, der "Meistkommentierte". Über das Interesse am Fall Wulff. Über mögliche Interessen hinter dem Fall Wulff

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Die gegenwärtige Liste der meistkommentierten Artikel bei "Zeit-Online".

Kommentar: Wie erklärt sich dieses geballte Interesse an einer "Affäre", die in kaum einem anderen Staat der Welt als eine solche rubriziert werden würde?

Bundespräsident Wulff hat sich nichts zuschulden kommen lassen, das auch nur entfernt diesen Wirbel rechtfertigen könnte (siehe Was eigentlich ist Bundespräsident Wulff vorzuwerfen?; ZR vom 17. 12. 2011).

Was wirklich ein politischer Skandal ist, das hat uns kürzlich der Nachbar im Westen anschaulich vorgeführt. Jacques Chirac war als Bürgermeister von Paris (1977 bis 1995) dafür verantwortlich, daß Angestellte seiner Partei RPR als fiktive Staatsbedienstete aus Steuergeldern bezahlt wurden; eine übrigens in Frankreich auch in anderen Parteien weitverbreitete Praxis. Chirac wurde dafür u.a. wegen Veruntreuung von Steuermitteln zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt.

Oder nehmen wir in den USA den Fall des früheren Gouverneurs von Illinois Rod Blagojevich, der Anfang dieses Monats wegen Korruption zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt wurde; er hatte versucht, den freigewordenen Sitz Barack Obamas im Senat meistbietend zu verkaufen.

Das sind Vorgänge, die den Namen eines politischen Skandals verdienen. Nicht die Urlaube des Ministerpräsidenten Wulff, ein privater Kredit oder die Finanzierung von Anzeigen des Verlags Hoffmann & Campe.



Warum also ist der "Fall" Wulff seit Tagen in Deutschland das Thema Nummer eins? Man kann da, wie anders, nur spekulieren.

Was das Interesse der Bürger angeht, wie es sich in den vielen Kommentaren bei "Zeit-Online" manifestiert (und übrigens auch in Zettels kleinem Zimmer, wo die drei Threads zu diesem Thema Wulff im Augenblick 162 Beiträge und 9915 Aufrufe verzeichnen), so scheint es mir etwas mit dem Phänomen zu tun zu haben, das in der Literaturwissenschaft "Fallhöhe" genannt wird:

Ausgerechnet Wulff! Wulffs ganzer Habitus, auch sein Lebensweg hatten ihn als einen ungewöhnlich bescheidenen, ehrenwert-soliden Politiker erwiesen. Just dieses Image war es ja gewesen, das ihn zum Amt des Bundespräsidenten qualifiziert hatte; intellektuelle Brillanz gewiß nicht. Und dieser Mann nun, der in jüngeren Jahr als das Bild des idealen Schwiegersohns gegolten hatte, tummelte sich in zweifelhafter Gesellschaft, ja hat sich von Millionären einladen und von einem von ihnen einen Kredit geben lassen!

Es ist die kognitive Dissonanz, die - so scheint mir - verstört und damit Interesse weckt. Da erweist sich Einer als ganz anders, als man ihn sich vorgestellt hatte. Unversehens dürfen wir hinter die Kulissen schauen; einen Blick zwar nicht in Abgründe tun, aber doch in tiefe Täler dort, wo wir eine langweilige Ebene vermutet hatten. Interessant. Aufregend.



Und die Medien? Was veranlaßt insbesondere "Bild" zu der jetzigen Kampagne? Darüber darf gerätselt werden.

Merkwürdig ist das vor allem deshalb, weil Friede Springer als mit der Kanzlerin befreundet gilt. Und ausgerechnet das Springer-Blatt "Bild" schießt jetzt aus allen Rohren gegen diesen Präsidenten, der sein Amt einer Entscheidung der Kanzlerin verdankt; dessen Rücktritt ihre Regierung in eine tiefe Krise stürzen würde.

Mir erscheinen zwei mögliche Erklärungen plausibel.

Die erste ist trivial. "Bild" ist eine Boulevardzeitung, die von der Sensation lebt. Aus den oben genannen Gründen ist es eine Sensation, wenn Christian Wulff sich als ein Anderer erweist, als der Bürger sich ihn vorgestellt hatte. Also bringt "Bild" das und schlachtete es aus; man will schließlich Geld verdienen.

Im übrigen hat Friede Springer ja keine unumschränkte Macht im Hause Springer. Sie besitzt nur 7 % der Aktien der Axel Springer AG, deren stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende sie ist; dazu allerdings 90% der Gesellschaftsanteile der Axel Springer Gesellschaft für Publizistik GmbH & Co., die ihrerseits mit 51,5% an der Axel Springer AG beteiligt ist.

Aber da sind andere mächtige Leute in der Axel Springer AG; wie etwa ihr Vorstandsvorsitzender, der frühere Chefredakteur der "Welt" Mathias Döpfner. Und im übrigen ist die "Bild"-Redaktion unter Kai Diekmann ja nicht einfach der verlängerte Arm von Vorstand oder Aufsichtsrat der Springer AG.

Also, die triviale (und aus meiner Sicht überzeugendste) Erklärung für die "Bild"-Kampagne ist, daß politisch gar nichts dahintersteckt; sondern daß Boulevard-Journalisten schlicht das tun, wofür sie bezahlt werden: Sensationelle Stories bringen, die gut für die Auflage sind.



Angenommen aber - angenommen! -, hinter der Kampagne stünden politische Absichten: Welche könnten das dann sein? Wenn es denn solche Absichten geben sollte, dann würde man sie am ehesten von der Wirkung her verstehen können, die ein Rücktritt Christian Wulffs hätte.

Angesichts der prekären Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung und des bedrückenden Zustands der FDP könnte die Kanzlerin kaum noch einmal einen Kandidaten ihrer Wahl mit den Stimmen der schwarzgelben Koalition durchsetzen.

Es gäbe dann zwei Möglichkeiten: Zum einen könnte die SPD auf einen Kandidaten der Vereinigten Linken setzen, der in der Lage wäre, sich noch einige Stimmen aus dem bürgerlichen Lager zu besorgen; vielleicht wäre das noch einmal Gauck (sollte dieser denn wollen, was ich für eher unwahrscheinlich halte), vielleicht ein anderer Kandidat ähnlichen Zuschnitts.

Die zweite Möglichkeit wäre, daß die Kanzlerin die SPD für einen gemeinsamen Kandidaten von Union und Sozialdemokraten gewinnt. Sie hat schließlich nicht ohne Erfolg vier Jahre zusammen mit der SPD regiert. Man kennt sich, man schätzt sich.

Eine solche Bundespräsidentenwahl könnte (wieder einmal) die Weichenstellung für eine neue Regierungskoalition sein; und es ist durchaus denkbar, daß die politischen Strategen im Haus Springer - gegeben den Zustand der FDP; gegeben die anhaltende Krise Europas - eine neue Große Koalition für eine Notwendigkeit, zumindest für erstebenswert halten.
Zettel



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