9. Dezember 2011

Europas Krise (7): Mehr Brüssel


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Brüssel ist nicht sehr beliebt, aber das macht nichts. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika funktionieren zum Beispiel ganz gut ungeachtet der Unbeliebtheit von "Washington". Wer aus Washington kommt, um sich draußen im Land das Mandat für einen noch besseren Posten in Washington zu holen, muß dort zwar kräftig gegen "Washington" poltern, damit sich die Wähler freuen und ihn gestärkt nach Washington zurückschicken. Doch damit ist es auch schon genug. Washington ist ganz harmlos, die Kritik daran gefährdet die USA nicht im mindesten, denn "Washington" heißt eben nur Bürokratie und Lobbyismus; es heißt nicht links oder rechts, nicht Westküste, Heartland, Südstaaten oder Ivy League. Die Ablehnung von Washington spaltet die Nation nicht, sondern eint sie.

Brüssel ist seit Jahrzehnten ebenfalls unbeliebt bei den Bürgern der EG, wobei sich Ärger und Spott vermischen: ob es um Gurkenkrümmungsradien, Weinseen oder Butterberge ging, alle lachten und bedauerten das viele Geld, das dort verschwendet wurde. Wer gegen die EWG-Agrarbürokratie polterte, wurde schon in den 70er Jahren mit tosendem Applaus belohnt. In den 90er Jahren machte sich die EU dann bei der Linken unbeliebt mit all den Freizügigkeiten, die damals eingeführt wurden. Ein Superstaat des neoliberalen Kapitalismus war anscheinend im Entstehen begriffen. Seit einigen Jahren jedoch nervt "Brüssel" mehr die Neoliberalen mit allerlei grünlichen Nannystate-Direktiven.

Man erkennt daraus, dass der ewig schwankende Zeitgeist die Brüssler Bürokraten ebenso im Griff hält wie die nationalstaatlichen Politiker. Die EU ist kein linkes oder rechtes Projekt und eben auch kein imperiales. Denn genau wie "Washington" steht "Brüssel" für nichts außer Bürokratie und Lobbyismus. Es steht nicht für einen deutschen Block, nicht für Frankreich, nicht für Süd-, Nord- oder gar Osteuropa.

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Ein Staatenbund ist keine schlechte Sache. Es gibt auf der Welt eine Menge davon (ASEAN, NAFTA, Afrikanische Union,...), man hört nicht viel von ihnen, vielleicht tun sie also nützliche Dinge. Vor allem aber sind sie herrschaftsfrei. Sicher wird es stets stärkere und schwächere Mitgliedsstaaten geben, der Bund hingegen besteht aus gleichberechtigten Mitgliedern aufgrund der geforderten Einstimmigkeit für alle Beschlüsse. Über dieses Stadium ist die EU längst hinaus. Man spricht bei ihr von "Supranationalität" oder von einem "Staatenverbund". Ein richtiger Nationalstaat wie die USA ist die EU nämlich andererseits auch nicht. Sie ist ein Gebilde, das irgendwie dazwischen steht. Dadurch werden seltsame politische Praktiken möglich.

So ist oftmals das "Spiel über die Bande" kritisiert worden, also die Praxis nationaler Regierungen, sich in Brüssel eine Direktive zu besorgen, die das heimische Parlament dann klaglos umzusetzen hat. Ebensooft kritisiert werden Direktiven, welche der EU-Bürokratie selbst entstammen, die keine Gemeinschaftsangelegenheiten regeln, sondern sich unnötigerweise in die Belange der Mitgliedsstaaten einmischen. Das vertraglich festgelegte Subsidiaritätsprinzip werde ständig verletzt, heißt es.

Das ist alles übel, doch kann man damit einigermaßen leben. Diese Spiele und Anmaßungen gefährden die EU keineswegs, sie machen sie höchstens ein wenig unbeliebt, treiben die Völker aber nicht gegeneinander.

Gefährdet sind Vielvölkerstaaten, wenn es in ihnen eine Hierarchie der Völker gibt, etwa in der typischen Form eines dominanten Kernvolkes mit einem Kranz von Randvölkern. Dann fühlen sich die Randvölker gerne unterdrückt und das Kernvolk ausgebeutet. Österreich-Ungarn, die Sowjetunion und Jugoslawien sind Beispiele hierfür, bei denen die Zentrifugalkraft schließlich die Oberhand gewann und der supranationale Staatenverbund auseinanderflog.

Seit der Euro gerettet wird, wächst die Gefahr für Europa, ebenfalls ein derartiges hierarchisches Gebilde zu werden. Eigenartigerweise spielt nämlich die Europäische Union nur eine kümmerliche Rolle bei der Bewältigung ihrer eigenen Krise, sondern Einzelstaaten haben die Initiative an sich gezogen. Es sind nicht die politischen Spielchen, die Aushöhlung der Subsisdiarität und auch nicht die fehlende demokratische Legitimation, die den Fortbestand der Gemeinschaft in Frage stellen, sondern die Dominanz der Staaten über die Union.

Brüssel, das uns Europäer lustlos, aber doch irgendwie vereinte, wurde auf die Seite gedrückt, am spektakulärsten heute Nacht, als zugleich Großbritannien ausgegrenzt und die kommende Gestalt der restlichen Gemeinschaft nunmehr nicht durch die EU, sondern durch einen "intergouvernementalen" Vertrag nach den Vorstellungen Frankreichs und Deutschland geformt werden soll.

Deutschland steht an der Spitze der Hierarchie vor Frankreich (auch wenn nicht ganz klar ist, ob das Verhältnis nicht doch eher dem von Richelieu und König Ludwig dem XIII. gleicht). Diese beiden bestimmen jedenfalls die Richtlinie der Politik. Danach kommt die Eurozone, dahinter die Willigen, die sich führen lassen, darunter die unter Kuratel gestellten Länder wie Griechenland, dann die neuen Parias England und Ungarn, schließlich die Europäer außerhalb der EU. Die Hierarchie ist fließend, man kann noch in ihr aufsteigen wie Kroatien, das in die EU aufgenommen wird oder Bulgarien, das in die Eurozone kommt. Dadurch wird die zentrifugale Tendenz einstweilen noch gehemmt. Dennoch ist in den letzten Monaten zu beobachten gewesen, wie tiefe Spaltungen zwischen diversen Staatengruppen entstanden sind, wie zwischen jahrzehntelang befreundeten Völkern Haß und Mißtrauen aufgekommen sind.

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Im Staatenbund sind Machtungleichgewichte durch die geforderte Einstimmigkeit neutralisiert, im Bundesstaat durch eine alle Bürger des Bundes übergreifende Willensbildung. Sollen Frieden und Kooperation in einem supranationalen Verbund erhalten bleiben, müssen die Ungleichgewichte zwischen den Völkern ebenfalls neutralisiert werden. Das ist zu einem Teil eine Sache der Regeln. Das berühmte Beistandsverbot des Maastrichter Vertrages hat neben seiner fiskalischen auch eine herausragende politische Bedeutung gehabt: es verhinderte den Konflikt zwischen Helfern und Hilfsbedürftigen. Die Aufhebung dieser No-Bailout-Klausel führte fast zwangsläufig zu Hierarchisierung, Spaltung, Machtkämpfen und wechselseitiger Entfremdung.

Zum anderen Teil ist es eine Frage der Akteure. Selbst wenn die Rettungsbemühungen in der akuten Krise richtig und erfolgversprechend sein sollten, so wären es doch mit Präsident Sarkozy und Bundeskanzlerin Merkel die Falschen, sie den Nachbarländern aufzunötigen. Vielleicht geht es nicht anders, und das Krisenmanagement ist tatsächlich nur von den beiden stärksten und entschlossensten Staaten der Union zu leisten. Soll die Gemeinschaft jedoch fortbestehen, dann muß so schnell wie möglich von dieser Machtanmaßung durch einzelne Regierungen Abschied genommen werden.

Die EU muß sich dazu von den Mitgliedsstaaten emanzipieren. Betrachten wir beispielsweise den ESM und lassen dabei die Frage beiseite, ob er eine sinnvolle Maßnahme bei der Bildung einer "Stabilitätsunion" ist, sondern betrachten nur die politischen Auswirkungen: die EU bleibt wieder einmal außen vor. In den Leitungsgremien des ESM sitzen Regierungsvertreter der Einzelstaaten. Solange im Club der Einzelstaaten einer den Ton angibt, wäre der ESM demnach ein Herrschaftsinstrument und keine Gemeinschaftseinrichtung. Wenn man schon so einen Mechanismus für nötig hält, sollte er der EU angegliedert sein, vielleicht gestützt auf ein eigenes Steuererhebungsrecht. Dann würde die Herrschaft nämlich bei den Eurokraten liegen und die Völker könnten sich entspannen.

Die Krise der vergangenen beiden Jahre hat gezeigt, wie vorteilhaft eine eigenständige Zentrale ist, selbst wenn alle zusammen auf sie schimpfen. Die EU gehört in die Hände Brüssels. Brüssel ist der Garant für den Frieden in Europa.
Kallias


© Kallias. Für Kommentare bitte hier klicken. Abbildung: "Europa auf dem Stier" von Hendrik van Balen (1573 - 1632). Gemeinfrei, da das Copyright erloschen ist.