11. Dezember 2011

Güstrow 1981. Vor dreißig Jahren zeigte der SED-Staat, wozu er fähig ist


Vor dreißig Jahren, am 13. Dezember 1981, zeigte der SED-Staat, was er konnte. Was er so gut konnte, wie es vermutlich noch nie ein Staat gekonnt hat: Die Inszenierung, die das MfS an diesem Tag im mecklenburgischen Güstrow veranstaltete, ist ohne Beispiel in der Geschichte. Potemkin war dagegen ein Stümper.

Hier spielte der SED-Staat das aus, worin er Meister war: Vollständige Kontrolle über die Bevölkerung; preußische Exaktheit und Gründlichkeit; unbegrenzte Ressourcen des Sicherheitsapparats; ein von jedem Skrupel freies Verhältnis zur Wahrheit.



Am 11. Dezember hatte der Arbeitsbesuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt in der DDR begonnen; der zweite eines deutschen Bundeskanzlers nach Willy Brandts Reise nach Erfurt 1970. Damals hatten, vor den Kameras des Fernsehens, die Bürger Willy Brandt zugejubelt. So etwas sollte nicht noch einmal passieren, beschloß das ZK der SED.

Der Besuch umfaßte an den ersten beiden Tagen Besprechungen zwischen Schmidt und Honecker im Jagdschloß Hubertusstock und in Honeckers Gästehaus am Döllnsee. Es ging um innerdeutsche Themen; es ging auch um Weltpolitik. In der Bundesrepublik tobte der Kampf um die "Nachrüstung". In Polen war das kommunistische Regime ins Wanken geraten. Während Helmut Schmidts Besuch wurde dort das Kriegsrecht verhängt.

Der Besuch sollte auch symbolischen Charakter haben. Für die Bundesrepublik waren ostentativ gute Beziehungen zur DDR Teil ihrer Politik des "Wandels durch Annäherung". Die DDR-Führung wollte zeigen, daß sie, anders als die Kommunisten Polens, fest im Sattel saß und die Bevölkerung hinter sich hatte.

Also war für den dritten Besuchstag, jenen 13. Dezember, ein TV-wirksamer Besuch des Kanzlers in einer Stadt der DDR vorgesehen. Güstrow wurde unter anderem deshalb ausgewählt, weil der Barlach-Liebhaber Schmidt gern die dortige Barlach-Gedenkstätte besuchen wollte.

Man war sich auf Seiten der Bundesrepublik im Klaren darüber, daß das SED-Regime nicht noch einmal einen Begeisterungssturm der Bevölkerung für einen Kanzler zulassen würde wie 1970 in Erfurt. Aber mit dem, was geschah, hatte vermutlich niemand gerechnet: Die Bevölkerung wurde nicht nur kontrolliert; sie wurde einfach vom Ort des Geschehens ferngehalten.

Die echte Bevölkerung war, als Schmidt mit seiner Delegation eintraf, entfernt oder zum Hausarrest hinter geschlossenen Fenstern verdonnert worden. Der Besuch war - auf Seiten der DDR - ein riesiges Freilufttheater, bei dem das MfS Regie führte und bei dem Stasi-Leute und linientreue Genossen als Komparsen mitwirkten. Sorgsam einstudiert; eine - wie sich zeigte - perfekte Inszenierung. So etwas hatte die Welt noch nicht erlebt.



Heute um 14 Uhr können Sie bei Phoenix die Wiederholung des ausgezeichneten Berichts von Michael Krull "Drei Stunden Güstrow" sehen, der Anfang der neunziger Jahre anhand von Interviews mit Zeitzeugen und Dokumenten des MfS die Ereignisse rekonstruierte. Inzwischen wurde weiteres Material zugänglich, das vor fünf Jahren Frank Käßner und Uwe Müller für einen Artikel in der "Welt" verwendet haben. Darauf stütze ich mich im Folgenden. (Der Film von Michael Krull steht auch als Video zur Verfügung).

Das Grundprinzip der Inszenierung dieser Aktion "Dialog" des MfS war einfach: Der Bevölkerung Güstrows konnte man sich nicht sicher sein. Also wurde sie entfernt. Zwischen 9 Uhr und 18 Uhr durfte niemand das Haus verlassen. Die Fenster mußten geschlossen bleiben. Der Weihnachtsmarkt wurde geräumt.

Wer dem MfS als verdächtig galt, war darüber hinaus zuvor in Haft genommen oder unter spezielle Beobachtung gestellt worden. Insgesamt, so die Akten des MfS, "standen 10.908 Personen unter Kontrolle". 4811 Personen erhielten "Auflagen zur Verhinderung von Reisen in die vom Treffen berührten Orte". Und weiter: "Gegen 2135 kriminell gefährdete oder aus dem Strafvollzug entlassene Bürger wurden vorbeugende Maßnahmen eingeleitet".

Sie wurden beispielsweise kurzfristig zur Armee einberufen, man nahm sie vorübergehend unter einem Vorwand (zum Beispiel einem vorgeblichen Verkehrsdelikt) fest, oder sie wurden schlicht unter Hausarrest gestellt. Für jede einzelne dieser Personen mit "feindlich-negativer Einstellung" hatte das MfS einen eigenen Einsatzplan erarbeitet.

Es gab also Maßnahmen auf zwei Ebenen: Wer als regimefeindlich galt, der wurde ganz aus dem Verkehr gezogen. Die übrigen Einwohner wurden neutralisiert, indem sie in ihre Häuser gesperrt wurden. Die damit menschenleer gemachte Stadt wurde mit den Leuten des MfS bevölkert.

Dem Zentralen Operativstab unterstanden 13.873 Einsatzkräfte des Ministeriums für Staatssicherheit, dazu 21.210 des Innenministeriums. Nun läßt sich allein mit Stasi-Leuten und Beamten des Innenministeriums nicht gut "Volk" spielen. Also wurden Komparsen aus der SED, aus den Blockparteien rekrutiert. Sie wurden mit 32 Bussen herangeschafft, und zwar aus der gesamten Republik; aus Leipzig ebenso wie aus Cottbus. Insgesamt 5103 Personen umfaßte diese Statisterie - alte und junge, Männer, Frauen und Kinder. Hinzu kamen die linientreuen "progressiven Kräfte" aus Güstrow selbst, die in diese Statisterie eingegliedert waren.

Die Inszenierung war von den Regisseuren des MfS bühnenreif geplant. Beispielsweise gehörte zur Komparserie vor einer Försterei eine Gruppe "Familiencharakter, cirka drei Förster in Uniform (Kinder)". Für die Komparsen neben einem Kindergarten sah das Drehbuch "gelockert in der Bewegung, wenig gruppiert" vor.

"Spaziergänger mit wechselnder Konzentration" sollten ein buntes Bild abgeben. "Zum Verhalten der Zuschauer wird orientiert, dass das Klatschen erlaubt ist und ein Winken auch angebracht sein wird." Zurufe waren erlaubt, durften aber nur an Honecker gerichtet werden.

Natürlich dachte die Regie auch an das Bühnenbild. Für den Weihnachtsmarkt war der "Einsatz von viel Licht, Effekten und Weihnachtsmusik" vorgesehen, um "eine lockere Atmosphäre" zu schaffen. Die Fassaden von Häusern am Weihnachtsmarkt waren renoviert worden, ohne daß man deren Bewohner gefragt hatte.



Nun gehörte zur Inszenierung, daß westliche Journalisten sich weitgehend frei bewegen und auch mit "der Bevölkerung" sprechen konnten. Das erforderte eine Schulung der Komparsen. Besonders Studenten waren als Interview-Partner von Westjournalisten vorgesehen. Sie lernten, daß sie stets die Anerkennung der DDR verlangen müßten.

Das war dann nicht mehr nur Komparserie, sondern schon eine kleine Sprechrolle. Eine damalige Funktionärin der Blockpartei CDU berichtet in dem Film von Michael Krull, daß sie auf eine allgemeine Frage nach dem Besuch stets zunächst Erich Honecker hervorheben und erst dann den "Gast" erwähnen dürfe. Sie sei hauptsächlich gekommen, um Honecker zu sehen. Sie kam tatsächlich dran. Was sie dem westlichen Journalisten ins Mikrophon sagte, entsprach genau ihrer Rolle.

Es war also alles unter Kontrolle. Bis auf einen kleinen Unsicherheitsfaktor: Das Verhalten des Kanzlers und seiner Delegation. Über Schmidts Benehmen beim Besuch der Barlach-Gedenkstätte notierte ein IM:
Schwierigkeiten während der Führung entstanden durch die selbständigen Aktivitäten des Bundeskanzlers und sein mehrfach gezeigtes Desinteresse an den Informationen.



Gestern habe ich über eine Umfrage in Brandenburg berichtet, in der nach dem Bild der DDR gefragt wurde (Die gute alte DDR; ZR vom 10. 12. 2011). Von den Befragten sagten 57 Prozent, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen.

Was verstehen diese Menschen wohl unter einem Rechtsstaat, wenn sie einen Staat, der eine derartige Inszenierung veranstalten kann, so rubrizieren?

Man kann den Unrechtscharakter dieses Regimes am Umgang mit Andersdenkenden zeigen, am Fehlen einer unparteiischen Justiz, an Verletzungen der Menschenrechte. Aber vielleicht ist ja Güstrow ein viel schlagenderer Beweis: Dieser Staat DDR war "seinen Menschen" gegenüber derart allmächtig, daß er für drei Stunden einfach in einer ganzen Stadt die Wirklichkeit suspendieren und sie durch eine Inszenierung à la "Truman Show" ersetzen konnte. Mehr unkontrollierte Macht der Obrigkeit, mehr Rechtlosigkeit des Bürgers ist kaum vorstellbar.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild: Helmut Schmidt und Erich Honecker am 12. Dezember 1981 vor dem Gästehaus des Staatsrats der DDR am Döllnsee. Deutsches Bundesarchiv, Bild 183-Z1212-049. Gemeinfrei.