29. März 2011

Zeitenwende?: I wo! Ein optimistisches Wort zum Wahlsonntag

Bei einem Blick in die Presse muß man momentan den Eindruck gewinnen, es sei am Sonntag etwas ganz Außerordentliches geschehen. "Focus" spricht von einer "grünen Revolution", die FTD von einer "Zeitenwende" und die "Augsburger Allgemeine" nicht ganz geschmackssicher von einem "Erdbeben". Auch Zettel hat hier die These vertreten, daß der letzte Wahlsonntag einen echten Einschnitt bedeutet.

I beg to differ: Daß das "konservative" Baden-Württemberg, das "Kernland der Liberalen" demnächst von einem grünen Ministerpräsidenten regiert wird und die SPD nur noch als Juniorpartner mitmachen darf, dürfte letztlich nur das Resultat einer Verkettung unglücklicher Umstände sein. Wir erleben keine Zeitenwende; wir sind allenfalls Zeugen eines historischen Kuriosums.

Heiner Geißler hat Mitte der 1980er Jahre, als er Generalsekretär der CDU war und noch als konservativer Hardliner galt, eine These vertreten, die damals unter der Überschrift "Lagertheorie" diskutiert wurde. Der Grundgedanke läßt sich in zwei Sätzen wiedergeben:
1) Die politische Landschaft in der Bundesrepublik besteht aus zwei Lagern, einem "bürgerlichen" aus CDU und FDP und einem "linken" aus SPD und Grünen.

2) Wer Wahlen gewinnen will, muß die politische Mitte für sich gewinnen.
Erstaunlicherweise ist diese Lagertheorie nach einem Vierteljahrhundert noch nicht obsolet, das Wahlergebnis in Rheinland-Pfalz ist sogar eine mustergültige Bestätigung: Die Verluste der FDP sind ungefähr so hoch wie die Gewinne der CDU; die herben Verluste der SPD werden durch ebenso hohe Gewinne der Grünen kompensiert (und die Linke spielt zum Glück gar keine Rolle).



Und Baden-Württemberg? Hier hat das bürgerliche Lager gut 10 % verloren und Grün/Rot ebenso viel gewonnen. Wenn man den verfügbaren Analysen zur Wählerwanderung Glauben schenken darf, hat es allerdings zwischen den Lagern relativ wenig Bewegung gegeben; vielmehr haben ehemalige Nicht-Wähler den Ausschlag gegeben.

Bei der letzten Landtagswahl 2006 haben rund 4 Millionen Wahlberechtigte gewählt; diesmal waren es rund 5 Millionen, und von den Ex-Nicht-Wählern hat sich etwa ein Viertel für die Grünen entschieden. Ein Grund für das Wahlergebnis in Baden-Württemberg liegt vor diesem Hintergrund auf der Hand: Es war ein Fukushima-Effekt, anders läßt sich der enorme Anstieg der Wahlbeteiligung kaum erklären.

Es war aber sicher nicht nur Fukushima; mindestens drei andere Faktoren dürften den Wahlausgang maßgeblich beeinflußt haben: die aufgeheizte Debatte um Stuttgart 21; der Umstand, daß sich die Grünen nicht für einen Bürgerschreck, sondern für einen durch und durch biederen Spitzenkandidaten entschieden haben; schließlich eine Unzufriedenheit mit der Politik der Bundesregierung auch im bürgerlichen Lager.

Insbesondere den letzten Punkt sollten Union und FDP im Auge behalten, wenn sie sich jetzt die Frage stellen, welche Konsequenzen zu ziehen sind. Die seit Monaten schlechten Umfragewerte für die Regierungskoalition, die sich jetzt in einem schlechten Wahlergebnis manifestiert haben, dürften primär auf die massive Enttäuschung bürgerlicher Wähler zurückzuführen sein.

Daß sich bei der Bundestagswahl 2009 fast 15 % für die FDP entschieden haben, war ein klares Votum für eine bürgerliche Politik, also für mehr Marktwirtschaft, für eine Reform der sozialen Sicherungssysteme, für steuerliche Entlastungen. Bei all diesen Themen hat sich allerdings bislang kaum etwas getan. Stattdessen verdammt die Kanzlerin Sarrazins Buch (ohne es gelesen zu haben) als "nicht hilfreich"; die Arbeitsministerin plant, ohne auf großen Widerstand zu stoßen, eine Frauenquote für die Wirtschaft; ein "Bio"-Sprit, den niemand haben will, wird eingeführt; mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wird Europa endgültig zur Transferunion.

Das ist eine Politik, die bürgerliche Wähler (mangels verfügbarer Alternativen) dazu bringt, am Wahlsonntag einfach zu Hause zu bleiben.



Und die AKW-Thematik? Im nachhinein war die Laufzeitverlängerung wohl in der Sache richtig, strategisch allerdings ein Riesenfehler. In normalen Zeiten ist die deutsche Abneigung gegen die Kernkraft noch nicht wahlentscheidend; kommt aber ein Unfall wie in Fukushima oder auch nur ein paar Horrormeldungen zur Schachtanlage Asse, tagelange Berichte über einen Castor-Transport oder ähnliches hinzu, wird die Abneigung zu einer Atom-Hysterie, gegen die sich keine Wahl gewinnen läßt.

Es ist zu hoffen, daß Westerwelles "Wir haben verstanden!" genau diese Einsicht artikuliert, daß es bei uns realpolitisch nicht sinnvoll ist, die Atomenergie auch nur als mittelfristige Brückentechnologie zu verteidigen.

Damit verscherzt man Wahlerfolge, die die Umsetzung anderer und wohl wichtigerer Projekte möglich machen würden. Wenn die Koalition klug ist, sollte sie bei ihrer aktuellen Linie in Sachen Atomenergie bleiben, einen wirtschaftlich vernünftigen Ausstiegsplan entwickeln und damit den Grünen den Wind aus den Segeln nehmen. Wenn dann auch noch eine "bürgerliche Politik" hinzukommt, die diesen Namen auch verdient, kann es bei den nächsten Wahlen schon wieder ganz anders aussehen.

Für die Grünen könnte sich hingegen der berauschende Wahlerfolg am Sonntag noch als Pyrrhussieg erweisen. Sie stehen nämlich nun vor einem Dilemma: Entscheiden Sie sich gegen die Rhetorik ihres Wahlprogramms für eine vernünftige Wirtschaftspolitik, verprellen sie ihre eher fundamentalistisch orientierten Stammwähler (etwa Studenten in den südwestdeutschen Universitätsstädten); versuchen sie hingegen ernsthaft, in Baden-Württemberg eine industriefeindliche Politik durchzusetzen oder flächendeckend das "gemeinsame Lernen" einzuführen, werden sie einen Großteil der Wechselwähler, die sie soeben gewonnen haben, in Windeseile wieder verlieren und bei den nächsten Wahlen die Quittung erhalten.

Gegen die Mitte kann man in Deutschland auf Dauer keine Politik betreiben. Dies hat man in der CDU vor einem Vierteljahrhundert klar gesehen, und es wäre wünschenswert, wenn man sich dies (in allen Parteien) häufiger vor Augen führen würde.
DrNick

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