30. März 2011

Biografien. Ein deutscher Dialog. Zettel an Andrea (1)

Liebe Andrea, Sie haben mir geschrieben und gefragt, wer Zettel ist. Ich will das beantworten und möchte gern einen Dialog eröffnen, in dem es um deutsche Biografien gehen soll.

Wer Zettel im bürgerlichen Leben ist, das ist belanglos. Wenn jemand nach meinem bürgerlichen Namen googelt, dann bekommt er ein paar Tausend Funde; so sind nun einmal die Spuren, die ein Wissenschaftler erzeugt. Der Bäcker backt Brötchen, der KfZ-Elektroniker repariert Autos, und wir Wissenschaftler publizieren eben. Das ist überhaupt nichts von Belang.

Ich will Zettel und diesen Wissenschaftler getrennt halten. Ich möchte Ihnen, liebe Andrea, auf Ihre Frage "Wer ist Zettel?" aber mit Erinnerungen antworten. Vielleicht mögen Sie Ihre eigenen biographischen Erinnerungen hinzufügen.



Die allerersten Kindheitserinnerungen sind immer fragwürdig. Was wirklich gewesen ist, das ist überlagert durch die Erinnerungsarbeit; von dem auch, was die Erwachsenen dem Kind später erzählt haben. Ich habe aber eine heftige erste Erinnerung, ein flash memory:
Die Luftschutzsirene heult. Ich werde von den Eltern in den Luftschutzkeller gebracht. Es ist dort dunkel und kalt, Taschenlampen leuchten auf. Wir sitzen oder liegen auf Pritschen. Niemand kann schlafen. Dann donnern die Bomben los. Alle ducken sich.
Meine Großmutter, die eine sehr starke Frau war, hat mir Einzelheiten erzählt, die ich als Zweijähriger natürlich nicht hatte wahrnehmen können: Wie eine Nachbarin, die so leichtsinnig gewesen war, die Tür des Bunkers zu öffnen, ihr als Leiche entgegengeflogen kam. Sprengbombe.

Wie alles brannte, wie die Menschen starben. Sie weinte, wenn sie das erzählte, und verstummte dann. "Ich darf gar nicht daran denken". Der Großvater meiner Frau wird so geschildert, daß er in seinem Sessel saß und nie ein Wort über das Entsetzliche herausbrachte, das ihm im Krieg geschehen war.

Mein Vater hat erzählt, wie er nach Weimar radelte, wo er als Arzt tätig war, und an den Bäumen hingen Leichen. Deserteure, von der SS ermordet, mit einem Schild um den Hals "Ich bin ein Deserteur".

So waren die ersten Lebensjahre von Zettel. Ich wünsche sie niemandem. Aber ich habe null Verständnis für diejenigen, die in Sicherheit und Wohlstand aufgewachsen sind, und die ihre "Angst" und ihre "Betroffenheit" vor sich hertragen.

Sie haben keine Ahnung davon, was Angst ist. Sie wissen nichts davon, wie schlecht es Menschen gehen kann.



Die beiden Familien meiner Großeltern wurden "ausgebombt". Das heißt, daß man aus dem Luftschutzkeller kommt, und es gibt das Haus nicht mehr, in dem man gewohnt hat. Man hat nichts, außer den Wertsachen, die man klugerweise in den Keller mitgenommen hatte.

Diese beiden Familien lebten erst in Pensionen, dann auf dem Land. Wir hatten für die ganze Familie, mit Kindern und Großeltern, einen Raum. Es war das frühere Schulzimmer einer Zwergschule. Dort wuchs ich auf, brachte mir selbst das Lesen bei, lebte nur in der Welt der Bücher. Mit anderen Kindern außer meinen Geschwistern habe habe ich das erste Mal gesprochen, als ich in die Schule kam.

Da wollte mir die Lehrerin "den I" und "den A" beibringen. Nur las ich zu Hause die "Frankfurter Rundschau" und die "Frankfurter Illustrierte", die meine Großmutter abonniert hatte.
Zettel



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