15. März 2011

Was interessiert mich mein Gesetz von gestern?

Sehr eigenartig: die Bundeskanzlerin und der Außenminister verkündeten gestern ein "Moratorium" der kürzlich erst beschlossenen Laufzeitenverlängerung für Kernkraftwerke, und man fragt sich, auf welcher Rechtsgrundlage. Schließlich gibt es ein Gesetz, das "Elfte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes", das im vergangenen Oktober beschlossen, am 13.12.2010 verkündet und somit tags darauf in Kraft getreten ist.
Westerwelle sagte, das Gesetz über die Laufzeitenverlängerung habe nicht eine Garantie aller Kernkraftwerke in Deutschland enthalten (FAZ online vom 15.3.2011).
Nun, nach Anlage 3 (zu § 7 Absatz 1a) des neuen Gesetzes hat jedes in Betrieb befindliche KKW eine Garantie zum Weiterbetrieb bis zur Erzeugung der dort jeweils aufgeführten Elektrizitätsmenge erhalten, so zum Beispiel 51 TWh zusätzliche Elektrizitätsmenge bei Neckarwestheim 1; 68,617 TWh bei Biblis A usw.

Offensichtlich irrt sich Westerwelle, doch ob das Offensichtliche auch wirklich gilt, ist in der Juristerei ja immer etwas fraglich. Als Laie mag ich den Sachverhalt daher nicht beurteilen, ein wenig Politisieren ist aber vielleicht erlaubt.



Daß man die Anwendung von Gesetzen auch einmal sein lassen kann, wurde der Öffentlichkeit erstmals beim Schengener Abkommen bewußt: dieses, so heißt es gerne, werde "ausgesetzt", um etwa Hooligans am Grenzübertritt zu hindern. Streng genommen freilich wird nicht das Abkommen selbst ausgesetzt, sondern nur die Abschaffung der Grenzkontrollen, und zwar im Einklang mit dem Abkommen. Dennoch hat diese Formulierung die Öffentlichkeit an die mögliche Aussetzbarkeit von Gesetzen gewöhnt.

Ein weiteres berühmtes Beispiel für die Nichtanwendung geltenden Rechts ist die Aussetzung des Defizitverfahrens gegen Deutschland und Frankreich im November 2003, nachdem die beiden Sünder Besserung gelobt hatten. Der Europäische Gerichtshof erklärte im Jahr darauf den Vorgang grundsätzlich für rechtens.

Als man bei der Griechenlandkrise im Frühjahr 2010 die Anwendung der Nichtbeistandsklausel aussetzte, griff man auf das bewährte Instrument der Ausnahmeregelung zurück.

Nun, was in Europa geht, ist auch im Inland möglich. Vor wenigen Tagen erst kritisierten Politiker wie Lammert, Kauder und Wiefelspütz, die Bundesregierung setze Gesetze außer Kraft oder wende sie erst gar nicht an. Diese Kritik bezog sich auf die Aussetzung der Wehrpflicht, die erst noch Gesetz werden soll, aber schon vollzogen wird, und auf die Aussetzung der gesetzlich vorgeschriebenen Internetsperren, was Lammert als "grob rechts- und verfassungswidrig" bezeichnete. (FAZ online vom 11.3.2011)

(Im Fall der Wehrplicht ist noch interessant, daß auch das kommende Gesetz selber als "Aussetzung" einer Grundgesetzbestimmung kommuniziert wird.)

Mal sehen, wie sich Lammert und Wiefelspütz über das Moratorium beim Atomgesetz äußern werden.



Mit dem Instrument der Aussetzung schafft sich die Regierung neuen Spielraum gegenüber der Legislative. Das geht, wie der Protest der genannten Parlamentarier zeigt, nicht ohne Irritationen. Daher sollte man die Sache besser auf eine verfassungsmäßige Grundlage stellen, etwa durch folgende Änderung des Grundgesetzes:

Die Bestimmung GG Art. 20
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
sollte durch folgenden neuen Absatz ergänzt werden:
(3a) Die vollziehende Gewalt kann den Vollzug eines Gesetzes befristet aussetzen. Die Medien sind von der Aussetzung zu informieren.



Auch wenn der Bundestag sich ärgert, so erspart ihm das neue Moratoriumswesen doch eine Menge Arbeit.
Am Donnerstag will Frau Merkel eine Regierungserklärung im Bundestag abgeben. Sie sagte, eine abermalige Gesetzesänderung sei nicht erforderlich (FAZ online vom 15.3.2011).
Da hat sie ganz recht: ausgesetzte Gesetze braucht man nicht mehr zu ändern.



Nachtrag: Stefan Schultz beleuchtet auf Spiegel online die rechtlichen Probleme des Moratoriums.
"Wir haben ein bestehendes Gesetz, das so etwas nicht vorsieht", sagt Gerd Roller, Atomrechtler an der Fachhochschule Bingen.
Kallias



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