13. März 2011

Welche Formen ionisierender Strahlung können in Fukushima aus den Reaktoren austreten? Wie gefährlich sind sie? Was ist überhaupt Radioaktivität?

"Radioaktivität" ist keine Substanz und keine Strahlung. Sie ist vielmehr eine Eigenschaft von chemischen Elementen. Diese Eigenschaft besteht darin, daß in den Atomkernen dieser Elemente spontan - also ohne irgendeine Einwirkung von außen - bestimmte Umwandlungsprozesse stattfinden, die damit einhergehen, daß Energie abgegeben wird.

Obwohl sie im einzelnen sehr verschieden sein können, faßt man diese Prozesse unter der Bezeichnung "radioaktiver Zerfall" zusammen. Elemente mit dieser Eigenschaft sind radioaktive Isotope - Gegenstücke - zu der nicht radioaktiven Form desselben Elements.

Die beim radioaktiven Zerfall abgegebene Energie hat die Form einer Strahlung; oder vielmehr verschiedener Formen von Strahlung; Alpha-, Beta- oder Gammastrahlung.

Im einzelnen ist das recht kompliziert; wichtig zu wissen ist, daß es sich um ionisierende Strahlung handelt. Das ist Strahlung, die - anders als zum Beispiel das sichtbare Licht oder Radiowellen - eine so hohe Energie besitzt, daß sie aus einem Atom oder einem Molekül, auf das sie trifft, Elektronen herausschlagen kann.

Die Strahlung verändert dieses Atom oder Molekül damit; und wenn es sich um einen Baustein von Organismen handelt - etwa ein Eiweißmolekül -, dann kann es diesen schädigen.

Das ist die hauptsächliche Gefahr, die von Atomkraftwerken ausgehen kann.



Ich habe das ein wenig dicht geschildert, sozusagen etwas atemlos. Lassen Sie es mich jetzt mit einem Beispiel illustrieren. Wenn Sie diese Illustration gelesen haben, dann mögen Sie vielleicht noch einmal zu obigem Text zurückgehen; Sie werden ihn dann verstehen.

Stellen Sie sich einen Atomkern als ein Gruppe von Jungen vor; jeder mag für ein Neutron oder ein Proton stehen. Das sind ja die Teilchen, aus denen ein Atomkern besteht.

Die meisten Gruppen sind einigermaßen friedlich. Es gibt aber auch Gruppen, in denen kräftig gerauft und gekämpft wird. Das sind die Atomkerne radioaktiver Elemente. Wenn eine Schulklasse aus solchen Raufern besteht und die Parallelklasse friedlich ist, dann ist die eine Klasse gewissermaßen das Isotop der anderen.

Als Folge des Raufens fliegt schon einmal etwas aus der Gruppe heraus - ein Stein; im Winter vielleicht ein Schneeball; vielleicht auch einmal eine Latte oder gar ein Messer. Das sind die ionisierenden Strahlen.

Trifft ein solches Objekt auf einen vorbeigehenden Menschen, dann kann es diesen verletzen. Das ist die schädliche Wirkung der Strahlung, die von radioaktiven Substanzen ausgeht.



Nun macht es freilich einen großen Unterschied, wie gefährlich die raufenden Gang ist und was denn da alles aus ihr herausfliegt. So ist das auch bei der Radioaktivität.

Das ist wichtig zu wissen, wenn man verstehen will, welche Gefahren denn von den Störfällen drohen, die seit dem Tsunami in verschiedenen Blöcke des Kraftwerks Daiichi bei Fukushima aufgetreten sind.

Hierzu erscheint in der heutigen Sonntagsausgabe der New York Times ein ausgezeichneter Artikel des Wissenschafts-Redakteurs William J. Broad, auf den ich mich im folgenden stütze.

Zunächst muß man zwischen zwei ganz verschiedenen Fällen unterscheiden:
  • Erstens dem, was jetzt passiert ist: In dem Raum zwischen dem Containment und dem Dach des Reaktorgebäudes hat sich Knallgas gebildet, das explodiert ist (siehe Besessen von der Kernschmelze; ZR vom 12. 3. 2011). Mit einem GAU hat das ungefähr so viel zu tun wie ein Riß in der Wand mit dem Einsturz eines Hauses; aber ganz ungefährlich ist es nicht.

  • Zweitens der Freisetzung von Strahlung aus dem Inneren des Reaktors.
  • Es handelt sich in beiden Fällen um ionisierende Strahlung, aber von radikal verschiedener Gefährlichkeit. Das verhält sich wie ein Schneeball zu einem Messer, das aus der Gruppe raufender Jungen fliegt.

    Als Folge der gestrigen Explosion ist Dampf aus Kühlwasser in die Atmosphäre gelangt. Er enthält im wesentlichen zwei radioaktive Substanzen: Radioaktiven Stickstoff (Stickstoff-16) und Tritium, ein Isotop des Wasserstoffs. Beide strahlen nur schwach:
  • Stickstoff-16 ist zwar in diesem Dampf in dem Augenblick enthalten, in dem er erzeugt wird. Aber seine Halbwertzeit beträgt nur sieben Sekunden. Es kann also nur für die AKW-Bediensteten gefährlich sein, die ihm ausgesetzt sind, bevor der Zerfall es in normalen Stickstoff zurückverwandelt hat. Für die Umwelt spielt Stickstoff-16 deshalb keine Rolle.

  • Tritium (überschwerer Wasserstoff) kommt auch in der Natur vor, zum Beispiel im Grundwasser. Es erzeugt eine schwache Form ionisierender Strahlung, die nicht weit reicht und die nicht die menschliche Haut durchdringen kann.
  • Daß sind also die beiden Formen der Strahlung, die im Augenblick als Folge der Explosion freigesetzt wurden. Das Risiko für die Bevölkerung ist entweder null (Stickstoff-16) oder gering und auf einen engen Radiums um das KKW beschränkt (Tritium).

    Anders sieht es mit der ionisierenden Strahlung aus, die freigesetzt werden würde, wenn - etwa infolge einer Kernschmelze wie in Tschernobyl - radioaktive Substanzen aus dem Inneren des Reaktors auf die Umwelt einwirken könnten. Es handelt sich vor allem um die radioaktiven Isotope Jod-131 und Cäsium-137:
  • Jod-131 ist hochgefährlich für die menschliche Gesundheit. Es wird durch die Nahrung aufgenommen, vor allem Milch und Milchprodukte, und sammelt sich in der Schilddrüse an. Es ist krebsauslösend.

    Allerdings beträgt seine Halbwertzeit nur acht Tage. Nach dieser Zeit hat sich also die Hälfte in das Zerfallsprodukt Xenon verwandelt, nach 16 Tagen drei Viertel und so fort. Jod-131 ist vorübergehend gefährlich; aber die Orte, an die es gelangte, bleiben nicht sehr lange "verstrahlt".

    Es gibt ein wirksames Mittel gegen die Wirkung von Jod-131, nämlich die Einnahme von Jodkalium. Das sind die "Jodtabletten", von denen es heißt, daß sie jetzt an die Bevölkerung in der Umgebung des Kraftwerks Daiichi ausgegeben werden würden.

  • Noch höher ist die Gefährlichkeit von Cäsium-137 mit einer Halbwertzeit von 30 Jahren; das bedeutet, daß es erst nach 200 Jahren bis auf ein Prozent zerfallen ist. Durch Cäsium ist die Umgebung von Tschernobyl noch immer verstrahlt.

    Die biologische Wirkung von Cäsium-137 beruht darauf, daß es dem Kalium chemisch verwandt ist, das im Organismus für viele Prozesse eine wichtige Rolle spielt. Das Cäsium kann sich gewissermaßen an dessen Stelle setzen. Es verteilt sich dadurch überall im Körper, vor allem in Muskeln und Knochen, und beeinträchtigt Prozesse auf der zellulären Ebene (die Nervenleitung zum Beispiel beruht u.a. darauf, daß Kalium die Zellmembran durchdringt). Es kommt zu dauerhaften Schädigungen, die das Krebsrisiko erhöhen. In sehr hohen Dosen kann Cäsium-137 zu Verbrennungen und akut zum Tod führen.
  • Es wäre also durchaus nicht vernünftig, würde man die Gefahren, die von den jetzigen Störfällen infolge des Erdbebens und des Tsunami ausgehen, auf die leicht Schulter zu nehmen. Ebenso falsch wäre es aber, alle diese Gefahren in einen Topf zu werfen.

    Was bisher passiert ist, hatte keine schlimmen Folgen und wird keine haben; Folgen, die zu vernachlässigen sind gegenüber der Katastrophe, die das Erdbeben und der Tsunami unabhängig von jeder Kraftwerks-Technologie angerichtet haben.

    Sollte es zu einer Kernschmelze kommen, dann würde die Frage sein, ob das Containment und die Grundwanne standhalten (siehe Kernschmelze in Fukushima? Mögliche Abläufe des Unglücks; ZR vom 12. 3. 2011). Tun sie das, dann besteht kaum erhöhte Gefahr für die Bevölkerung. Sollte das nicht der Fall sein, dann allerdings würde es ernst werden. Dann würden die gefährlichen radioaktiven Isotope Jod-131 und Cäsium-137 freigesetzt werden.



    Kann es so weit kommen? Während ich diesen Artikel schrieb, hat CNN dazu Interviews mit japanischen Verantwortlichen geführt. Da das vom jetzigen Thema wegführen würde, berichte ich darüber getrennt in einer Marginalie.
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Die Titelvignette zeigt ein von Tungsten in die Public Domain gestelltes Schema der fünf "Verteidigungslinien", die einen Reaktor schützen. Näheres finden Sie hier.