23. März 2011

Aus dem Lehrerzimmer: Der Kampf gegen die Atomkraft im politisch korrekten Unterricht. Mit einem Nachtrag.


Die Einstellung der Generation der heute bis 40-Jährigen zumindest in Westdeutschland dürfte nicht unwesentlich geprägt sein durch den Jugendroman "Die Wolke" von Gudrun Pausewang (vgl. T. Spreckelsen: "Das Angstmacherbuch unserer Schulzeit"). Erschienen ein Dreivierteljahr nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, handelt er von dem Schicksal eines 14-jährigen Mädchens nach einem (fiktiven) Super-GAU im Kernkraftwerk Grafenrheinfeld. Mit 1,5 Millionen verkauften Exemplaren ist "Die Wolke" ein sehr erfolgreiches Jugendbuch und eine verbreitete Schullektüre im politisch korrekten Deutschunterricht, und nach Fukushima ist das Buch wieder in den Beststellerlisten der Jugendliteratur.

2006 wurde das Buch verfilmt, was der Filmverleih und die einschlägigen Verlage zum Anlass nahmen, entsprechendes Unterrichtsmaterial herauszubringen. Das Unterrichtsmaterial des Filmverleihs enthält neben Aufgaben zur Handlung und zur Filmtechnik auch eine Karte der Kernkraftwerke in Deutschland u. a. auch die Aufgabe, den eigenen Heimatort in Sperrzonen nach einem möglichen Unfall in einem Kernkraftwerk zu verorten sowie sich darüber zu informieren, was "Ökostrom" ist, was er kostet und wie man zu einem "Ökostromanbieter" wechselt (S. 17).

Gudrun Pausewang selbst vergleicht im Vorwort ihres Romans die Gefahren der Atomkraft mit denen des Nationalsozialismus - einen Vergleich, den Pausewang auch im März 2011 in einem Beitrag für den "Spiegel" anklingen lässt.

Die didaktische Ausrichtung des Buches, des Filmes und des Unterrichtsmaterials ist klar: Die Befürworter von Kernkraftwerken sind die Bösen, die herzlos billigend den Tod tausender Menschen in Kauf nehmen, diffus auf einer Ebene mit Anhängern des Nationalsozialismus; und die Frage, wer hier die Guten sind, braucht man erst gar nicht zu stellen. Das Lernziel ist klar: Die Schüler sollen zum Kampf gegen die Atomkraft mobilisiert werden. Wie sich dies mit der geforderlichen weltanschaulichen Neutralität des Schulunterrichts verträgt, sei dahingestellt.

Bei diesem Hintergrund ist wenig überraschend, was Michael B. in Zettels Kleinem Zimmer von seinen beiden Kindern an einer Schule im Nordwesten Berlins berichtet:
Ein Drittel der 5. Klasse ist inzwischen abwesend; Panikattacken, Nahrungsverweigerung oder Schlafmangel. [...] Innerhalb einer Woche haben die beiden im Unterricht jeweils drei Filme zu Atomkatastrophen gesehen (eine vom Schulministerium über Tschernobyl, einen Spielfilm über eine (Atom?-)giftwolke in Deutschland und einen über, glaube ich, Hiroshima; mit geburtsdefekten Lämmchen und haufenweise Vebrennungen in Schwarzweiß), 1x Strahlenschutzanzüge aus Alufolien entworfen, 2x an japanische Kinder, denen der Strahlentod droht, geschrieben, gefährliche Nahrungsmittel diskutiert, Milchpulver gehortet und an unzähligen Monologen der Lehrkräfte und der Stuhlkreisteilnehmer über ihre Angst vor dem Atom und dem Krebstod teilgenommen.
Hier verbindet sich ein falsch verstandener Erziehungsauftrag der Schule mit einem politischen Sendungsbewusstsein der verantwortlichen Lehrer(innen) und der Desinformation durch die Medien in Deutschland. Michael B. berichtet von den Reaktionen nach dem Versuch einiger Eltern, gegen diese "Aufarbeitung" im Unterricht zu protestieren:
Das anwesende Lehrpersonal war völlig von der Rolle, alle bezogen ihre Informationen aus dem ÖR-Fernsehen, der taz und dem Tagesspiegel und fanden, daß sie nur angemessenen Katastrophenschutz betreiben würden ("Man muß den Kindern die schlimme Wahrheit nahebringen, damit sie sich richtig schützen können", etc.). Ein Vater wurde angeschrieen, weil er Ingenieur ist ("solche wie Sie..."), als er vergeblich versuchte, neben der pädagogischen Fragwürdigkeit auch die inhaltlich-technische Seite ("Supergau, millionen Tote, unendliches Leid, Strahlenwolken") zu hinterfragen. Selbst Eltern, die das pädagogische Vorgehen auch zu heavy fanden, sind den Lehrern da beigesprungen.
Es steht zu befürchten, dass dies, was hier aus einer Schule in Berlin berichtet wird, kein Einzelfall ist. Ein neues Buch im Stil von "Die Wolke" und weiteres Unterrichtsmaterial zur politisch und ökologisch korrekten Erziehung der Jugend werden vermutlich nicht lange auf sich warten lassen.



Mit Dank an Michael B. für seinen anschaulichen Bericht und sein Einverständnis, ihn hier nutzen zu dürfen.



Nachtrag (24.3., 7:45 Uhr): Man könnte überlegen, ob die spezifisch deutsche Berichterstattung über Fukushima (neben anderem) auch mit Pausewangs "Die Wolke" zu erklären ist. Viele Journalisten und Verantwortliche in den Medien dürften zu der Generation gehören, die als Kinder oder Jugendliche die Katastrophe von Tschernobyl miterlebt hat und mit der Kritik an der Atomkraft auch in der Schule und z. B. mit "Die Wolke" politisch sozialisiert wurde. Nach Pausewangs eigener Aussage wurde "Die Wolke" in Frankreich und Japan nicht im gleichen Maße rezipiert wie in Deutschland (Pausewang: "Wahrscheinlich glaubten sie den Versprechungen ihrer Politik und ihrer Wirtschaft mehr als wir den unseren!").

Die deutsche Berichterstattung über Fukushima folgt in gewisser Weise dem durch "Die Wolke" geprägten Narrativ, d.h. der Erwartung, wie ein Atomunfall in einem dicht besiedelten Industrieland wohl verlaufen würde. Bislang halten sich nur die Ereignisse nicht an das Narrativ.

Pausewangs Romandarstellung der Evakuierung nach der KKW-Havarie scheint sich - meiner Erinnerung nach - in etwa an das "Drehbuch" zu halten, wie es der SPIEGEL 19/1986 unter der Überschrift "Panzer gegen die verseuchte Bevölkerung" aus den Katastrophenplanungen der Bundesländer veröffentlicht hat.
Gansguoter



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