14. März 2011

Lissabon 1755. Japan 2011. Die Parallelen sind beklemmend. Die Erdbeben und die geistige Befindlichkeit der Zeit. Ist es heute wie damals?

Am 1. November 1755 wurde Portugal, wurde insbesondere Lissabon von einem entsetzlichen Erdbeben heimgesucht. Es entstand durch die Verschiebung tektonischer Platten unter dem Atlantischen Ozean und erreichte eine Stärke zwischen 8,5 und 9. Dem Beben folgte ein gewaltiger Tsunami. Erdbeben und Tsunami trafen zusammen, weil das Epizentrum des Bebens nur ungefähr 200 km vor Portugals Küste lag. Mehrere zehntausend Menschen kamen ums Leben. Lissabon und andere Städte wurden verwüstet.

Die Übereinstimmung mit der jetzigen Katastrophe in Japan ist beklemmend und geht bis in die Einzelheiten: Auch jetzt eine Stärke des Bebens zwischen 8,5 und 9; auch jetzt das Epizentrum kaum mehr als hundert Kilometer vor der Küste; auch jetzt der Tsunami; auch jetzt mehrere zehntausend Tote (soweit man das bisher absehen kann). Die Stadt Sendai ist weitgehend zerstört, so wie damals Lissabon zerstört wurde.



Geht die Parallele über diese äußeren Übereinstimmungen hinaus? Auf den ersten Blick mag es so scheinen. Denn das Erdbeben von 1755 hat Auswirkungen nicht nur materieller Art gehabt; es hat vielmehr, so wird gesagt, das Denken der Epoche beeinflußt.

Da waren auf der einen Seite die Frommen, die fragten, wie Gott so etwas hatte zulassen können - noch dazu an Allerheiligen; noch dazu mit der Zerstörung fast aller Kirchen in Lissabonn. Das setzte das Problem der Theodizee wieder einmal auf die Tagesordnung; das immerwährende Problem, wie ein gütiger, allmächtiger Gott das Leid in der Welt zulassen kann.

Aber nicht nur die Frommen waren im doppelten Wortsinn betroffen; auch die Aufklärer waren es. Weniger als ein halbes Jahrhundert zuvor war Leibniz gestorben, der Philosoph des Optimismus. Er hatte eine "Theodizee" geschrieben, in der er darlegte, daß diese Welt zwar nicht die beste aller denkbaren, aber die beste aller möglichen Welten ist. Sein Optimismus beflügelte die Aufklärung und begründete den Glauben an den Fortschritt, wie er zum Beispiel in dem grandiosen Unternehmen der französischen Enzyklopädisten seinen Ausdruck fand, das Wissen ihrer Zeit in einer Enzyklopädie zusammenzubringen.

Und jetzt das.

Voltaire, der alte Zyniker, reagierte grimmig und schrieb wenige Jahre später den kleinen Roman Candide ou l'optimisme (Candide oder der Optimismus), in dem er den naiven jungen Candide vom Schicksal nach Strich und Faden beuteln läßt, begleitet von dem Professor Pangloss - einer Karikatur von Leibniz -, der immer wieder versichert, daß alles zum besten stehe in der besten aller möglichen Welten. Auf seiner Odyssee ist Candide natürlich exakt dann in Lissabon, als dort das Erdbeben stattfindet.

Goethe, der 1755 gerade einmal sechs Jahre alt gewesen war, hat in seinen Memoiren "Dichtung und Wahrheit" geschildert, wie den Knaben damals die Nachricht von dem Beben erschüttert und an seinem naiven Gottvertrauen hätte zweifeln lassen.

Für Immanuel Kant - er war 1755 ein 30jähriger Wissenschaftler, besonders an den Naturwissenschaften interessiert - war das Erdbeben eine doppelte Herausforderung: eine intellektuelle und eine moralische.

Intellektuell insofern, als er die Ursachen eines solchen Ereignisses zu ergründen versuchte; und zwar streng naturwissenschaftlich. Die moralische Konsequenz aus der Katastrophe beschrieb er in seiner Schrift "Geschichte und Naturbeschreibung des Erdbebens am Ende des 1755sten Jahres" so:
Die Betrachtung solcher schrecklichen Zufälle ist lehrreich. Sie demütigt den Menschen dadurch, dass sie ihn sehen lässt, er habe kein Recht, von den Naturgesetzen, die Gott angeordnet hat, lauter bequemliche Folgen zu erwarten. - Der Mensch ist nicht geboren, um auf der irdischen Schaubühne der Eitelkeit ewige Hütten zu erbauen. - Alle diese Verheerungen scheinen uns zu erinnern, dass die Güter der Erde unserem Triebe zur Glückseligkeit keine Genugtuung verschaffen können.
Dies und Anderes, das ein anschauliches Bild von der damaligen Reaktion vermittelt, finden Sie zitiert in einem schönen Radio-Feature von Susanne Mack zum 250. Jahrestag des Bebens, dessen Manuskript Sie hier lesen können; auch das Rousseau-Zitat weiter unten verdanke ich diesem Feature.



Könnte die jetzige Katastrophe in Japan eine ähnliche geistige Erschütterung auslösen, wie sie dem Erdbeben von Lissabon zugeschrieben wird? Uns etwa über die Macht der Natur nachdenken lassen, über die Hybris des Menschen, der die Atomenergie freiläßt, ohne sie doch bändigen zu können?

Ach nein.

Erstens hat das Erdbeben von Lissabon den Geist der Aufklärung überhaupt nicht gebrochen; das ist eine Mystifikation. Als es stattfand, war das gewaltige Unternehmen der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (Enzyklopädie, oder auf Vernunft gegründetes Wörterbuch der Wissenschaften, der Künste und der Berufstätigkeiten) seit gerade vier Jahren im Gang. D'Alembert und Diderot führten es unbeirrt fort, bis das großartige Werk 1772 beendet war.

Die Aufklärung wurde durch das Erdbeben von Lissabon in keiner Weise in Frage gestellt; ihre größten Erfolge - die Philosophie Kants, die Errichtung der amerikanischen Demokratie auf der Grundlage der Aufklärung, der ungeheure Aufschwung von Wissenschaft und Technik im 19. und 20. Jahrhundert - standen ja noch bevor.

Allenfalls kann man sagen, daß Bedenkenträger wie Rousseau, die sich vom Erdbeben im Wortsinn erschüttert zeigten, Auftrieb bekamen. Sie haben mit ihrer Zivilisationskritik Unheil angerichtet, bis in unsere Tage. Die Greuel der französischen Revolutionen waren nicht auf dem Boden von skeptisch-rationalen Aufklärern wie Hume und Voltaire gewachsen, sondern viel eher aus der Rousseau'schen Schwärmerei hervorgegangen. Diderot und d'Alembert haben die französische Revolution nicht mehr erlebt; sie hätten sie schwerlich überlebt.



Rousseau machte nicht etwa die Gewalten der Natur für die Verheerungen in Lissabonn verantwortlich, sondern natürlich "den Menschen", der sich zu weit von der Natur entfernt hätte. In seinem Émile, ou De l'éducation (Émile, oder über die Erziehung) schrieb er sieben Jahre nach dem Erdbeben:
Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt. Alles entartet unter den Händen des Menschen. Er vermengt und vertauscht das Wetter, die Elemente und die Jahreszeiten. Nichts will er haben, wie es die Natur gemacht hat, selbst den Menschen nicht!
Und das Erdbeben - so hatte Rousseau zuvor an Voltaire geschrieben - hatte nur deshalb so schlimme Folgen, weil die Menschen nicht mehr natürlich lebten; weil sie nämlich in mehrstöckigen Häusern wohnten, statt verstreut und in leichten Behausungen.

Man sieht, Rousseau ist aktuell. Heute werden wir von seiner (vielleicht unwissentlichen) Jüngerin Renate Künast belehrt: "Wir beherrschen nicht die Natur, sondern die Natur herrscht über uns" (siehe Besessen von der Kernschmelze; ZR vom 12. 3. 2011).

Rousseau sah es als Hybris gegenüber der Natur an, daß die Menschen sich Häuser mit vielen Stockwerken bauen; heute ist es die angeblich "unbeherrschbare" Atomkraft, der die "Macht der Natur" entgegengestellt wird.

Nur zeigen die verheerenden Erdbeben der letzten Jahrzehnte - im Iran zum Beispiel, kürzlich in Haiti - , daß Menschen, die in primitiven Häusern leben, keineswegs besser geschützt sind als die Bewohner von Hochhäusern; eher im Gegenteil.

Ebenso ist es schlicht nicht wahr, daß die Nuklearenergie ein größeres Unfallpotential bergen würde als andere Formen der Energieerzeugung.

Wenn man die angeblich so "sanften" Formen der Energieerzeugung aus Windkraft und Sonnenstrahlen auch nur halbwegs wirtschaftlich machen will, dann muß man die erzeugte Energie speichern können.

Bisher geht das im wesentlichen nur dadurch, daß während eines Überangebots an Strom mit dessen Hilfe Wasser in hochgelegene Talsperren gepumpt wird; es kann dann genutzt werden, wenn mehr Strom benötigt wird. Durch berstende Talsperren sind aber weitaus mehr Menschen ums Leben gekommen als durch alle Unfälle in KKWs, einschließlich Tschernobyl.

Wie Sie dieser Liste entnehmen können, starben allein seit dem Jahr 2000 rund 600 Menschen durch den Bruch von Talsperren.



Die rationale Antwort auf das Erdbeben von Lissabon war es, die Ursachen solcher Beben zu erforschen, wie es Kant in Angriff genommen hat. Die rationale Antwort auf die Katastrophe in Japan ist es nicht, die nach wie vor besonders sichere Stromerzeugung in Kernkraftwerken zu verteufeln, sondern deren Sicherheit weiter zu erhöhen.

Ob sich freilich diese rationale Antwort gegen die Irrationalität der Warner, Bedenkenträger und Bauchgefühl-Menschen durchsetzten wird, zumal in Deutschland - das ist füglich zu bezweifeln. Gut möglich, daß die Vernunft, mit der die Aufklärung trotz des Erdbebens von Lissabon weitergeführt wurde, heute nicht mehr durchsetzbar ist.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titel: Das Erdbeben von Lissabonn (1755); zeitgenössischer Stich. Für eine Vergrößerung bitte auf das Bild klicken.