2. Januar 2011

Zwischen den Jahren (3): Das Ende des Zeitalters der Aufklärung?

Wir möchten gern wissen, wie die Zukunft wird. Das ist ein offensichtlich sehr tief verwurzeltes Bedürfnis. Der Homo sapiens kann, dank seines ungewöhnlích stark entwickelten Frontalhirns, in die Zukunft planen. Um für sie planen zu können, möchte man sie kennen.

Man möchte - seltsamer Widerspruch - wissen, was kommt, um ihm unter Umständen entgehen zu können. Man möchte wissen, wie die Dinge stehen werden, damit man sie beeinflussen kann. Aber wäre die Zukunft zu beeinflussen, dann stünde sie ja noch nicht fest. Dann könnte man sie also auch nicht kennen.

Kennen möchte man sie, diesem Widerspruch trotzend, vermutlich seit dem Beginn der menschlichen Kultur. Also versucht man sie aus irgend etwas herauszulesen. Aus den Eingeweiden von Vögeln, aus der Hand, den Sternen. Aus dem Kaffeesatz. Aus den Modellen des IPCC, um ein modernes Beispiel zu nennen.

Die Zukunft hat sich aber immer als opak erwiesen. Prognosen sind meist entweder trivial oder unzutreffend; allenfalls treffen sie zufällig zu oder nur im Ungefähren. Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich's Wetter oder 's bleibt, wie's ist - das ist die vermutlich einzige Bauernregel, die sich immer wieder bestätigt hat.



Prognose heißt zu deutsch Vorauswissen. Es ist eines dieser Mischwörter, die halb aus dem Lateinischen (pro = voraus) und zur anderen Hälfte aus dem Griechischen (gnosis = Wissen) kommen.

Gnosis, das Wissen also, ist der Angelpunkt der Aufklärung. Sapere aude! war ihr (Horaz entlehnter) Wahlspruch, wage zu wissen. Kant hat das in seiner Schrift "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" (1784) paraphrasiert mit "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"

Das Wort "eigenen" hat Kant im Druck hervorgehoben. Denn darum ging es ihm: Jeder einzelne Mensch soll sich seines Verstandes bedienen; keiner sich auf Autorität, auf Tradition, auf seine Oberen verlassen. Das ist freilich nicht leicht, denn da sind die "Vormünder":
Es ist ... für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar liebgewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit.
Aufklärung als sozusagen einen individuellen Befreiungsakt sieht Kant somit als schwierig an. Es bedarf einer gemeinsamen Anstrengung:
Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende, sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen, selbst zu denken, um sich verbreiten werden.
Aufklärung also als ein gesellschaftlicher Prozeß; das war Kants Erwartung, auch seine Forderung. Das Preußen Friedrichs II, in dem er lebte, sah er auf dem richtigen Weg:
Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.
Denn daß
... die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung oder des Ausganges aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung oder das Jahrhundert FRIEDERICHS.
Mit der Aufklärung in Preußen ging es dann nach Friedrichs Tod nicht so ganz glatt weiter; auch Kant bekam seine Schwierigkeiten, nachdem dessen Nachfolger Friedrich Wilhelm II den Thron bestiegen hatte.

Aber die Aufklärung siegte; nicht nur in Preußen. Sie war die Grundlage für die beispiellose Entwicklung der Wissenschaft und der Technik ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts; für die Entstehung demokratischer Rechtsstaaten in den USA und in Europa; schließlich dafür, daß die westliche Kultur das 19. und das 20. Jahrhundert dominierte.

Wird das auch im 21. Jahrhundert so bleiben?



Die Freiheit des Denkens - des freien Denkens des Einzelnen -, die Kant forderte, hat vor allem eines ermöglicht: Immerwährende Skepsis, die Möglichkeit zur ständigen und unbegrenzten Kritik; den, wie Kant sagte, "öffentlichen Gebrauch der Vernunft".

Diese Freiheit hat eine geschichtlich einmalige Dynamik freigesetzt; eine Dynamik der Wissenschaft, in der - Karl Popper hat das in seiner Wissenschaftstheorie ausgearbeitet - jede Theorie nur so lange gilt, bis sie durch eine bessere ersetzt ist. Dieser Dynamik der Wissenschaft korrespondiert die gesellschaftliche Freiheit und damit die Dynamik des Kapitalismus, in dem sich ein Produkt nur so lange auf dem Markt behaupten kann, bis es durch ein besseres und/oder billigeres ersetzt wird.

Diesen Folgen der Aufklärung - ihrer Umsetzung in die Praxis der Wissenschaft, der Gesellschaft und der Ökonomie - verdanken wir den Wohlstand, der heute in den, wie man so sagt, "entwickelten Industrieländern" schon erreicht ist und auf den sich andere Länder zubewegen, in denen der Kapitalismus herrscht.

In denen also mindestens wirtschaftliche Freiheit herrscht, wie in China. Gesellschaftliche Freiheit und Freiheit der Wissenschaft herrschen dort freilich nicht; es gibt bisher auch keine Anzeichen dafür, daß sich China auf sie zubewegt. Dennoch ist es im Begriff, zur Supermacht aufzusteigen (siehe "China, China, China". Kein neuer Sputnik-Schock, leider; ZR vom 1. 1. 2011).

Ist also das, was die Aufklärung hervorgebracht hat, gar nicht erforderlich, um in der heutigen Welt erfolgreich zu sein?

Geht es auch ohne geistige, ohne gesellschaftliche Freiheit, sofern nur die Freiheit des Marktes gewährleistet ist?

War die Aufklärung vielleicht nur so etwas wie jene berühmte Leiter, von der Ludwig Wittgenstein am Ende des "Tractatus logico-philosophicus" spricht; die man wegwerfen kann, nach dem man sie zum Aufstieg benutzt hat? Mußte die Aufklärung nur erst einmal die Grundlagen für Technik und allgemeinen Wohlstand legen, die aber, einmal vorhanden, auch ohne sie weiter bestehen und sich entwickeln können?



Man würde sich freuen, das zu wissen. Aber wir wissen es nicht.

Nehmen wir das Beispiel China. Es könnte sein - und viele im Westen scheinen das für nachgerade selbstverständlich zu halten -, daß der Rückkehr zum Kapitalismus in China früher oder später auch die Freiheit der Wissenschaft folgen wird, am Ende auch gesellschaftliche Freiheit und ein demokratischer Rechtsstaat.

Man kann das damit begründen, daß nur so China sich zur Supermacht entwickeln und als eine solche sich in der Konkurrenz mit dem Westen halten kann.

Denn so erfolgreich China wirtschaftlich ist - wissenschaftlich hat es bisher wenig an Innovativem zu bieten, technisch ebenso wenig. Sein gesamter Fortschritt gründet sich auf westliche Wissenschaft, westliche Erfindungen, westliche Technik; China hat diese lediglich hier und da perfektioniert.

Aber wer Klassenbester werden will, der kann sich auf Dauer nicht aufs Abschreiben verlegen. China wird also - so sagt es diese Argumentation - aus nackter machtpolitischer Notwendigkeit seine Gesellschaft liberalisieren, Rechtssicherheit einführen, seinen Wissenschaftlern das freie Denken und den freien Austausch von Informationen erlauben müssen. Die Aufklärung wird auch in China siegen; sie wird weltweit siegen, denn irgendwann will jedes Land am Wohlstand teilhaben.

Vielleicht kommt es so. Aber dies ist nur eines von vielen möglichen Szenarien. Ein anderes könnte so aussehen:

Bereits auf dem jetzigen Stand der Wissenschaft und der Technologie kann China dank seiner schieren Größe, aufgrund des Fleißes und der Intelligenz seiner Bevölkerung den Westen überflügeln und die alleinige Hegemonialmacht werden.

Ob ihm der Westen dabei überhaupt erheblichen Widerstand entgegensetzen wird, ist nach der derzeitigen Lage der Dinge fraglich. In Europa denkt man kaum noch in machtpolitischen Kategorien. Falls sich in den USA die Weltsicht Präsident Obamas durchsetzen sollte, werden auch sie auf Dauer kein ernsthafter Konkurrent Chinas mehr sein; ein sozialdemokratisiertes Land, das sich auf sich selbst zurückzieht.

Ist aber China erst einmal der Hegemon, dann kann es der Welt seine Spielregeln diktieren. Ohne geistige Freiheit wird es kaum noch wissenschaftlichen Fortschritt geben, wird die Technologie stagnieren. Aber warum sollten sie das dann nicht?

Der Sowjet-Kommunismus ist nicht an sich selbst gescheitert, sondern daran, daß es den Kapitalismus gibt. Er zeigte es den Sowjetmenschen und den Menschen im sowjetischen Kolonialreich, daß es ein besseres Leben geben kann als unter der Diktatur der Kommunisten. Ist der Kapitalismus erst einmal besiegt, dann werden die Menschen gar nicht anders können als mit einem schlechten, sozialistischen Leben zufrieden zu sein. Mit einem Leben in Armut und Unterdrückung, wie es Jahrtausende die Regel gewesen war, bis die Aufklärung sich in unserer westlichen Kultur durchsetzte.

Ein Szenario, wie gesagt. Man kann sich andere ausdenken.



In diesem Blog ist kürzlich ein Artikel von Kallias erschienen, der sich mit der Möglichkeit befaßt, das Klima durch Großtechnologie zu beeinflussen (Kleines Klima-Kaleidoskop (18): Der weiße Planet; ZR vom 24. 12. 2010). Am Ende schreibt Kallias:
Offenbar zielen die meisten der vorgeschlagenen Maßnahmen darauf ab, die Erde hell und die Sonne klein und blaß zu machen.

Die kulturellen Implikationen hiervon wären weitreichend und tiefgründig. Das heliozentrische Zeitalter nach Kopernikus ging einher mit den Aufbrüchen in die Weite, der Entdeckung der Seewege, der europäischen Kolonialisierung der Kontinente, der Luft- und Raumfahrt, dem wissenschaftlichen Forschungsdrang ins Unbekannte. Mit dem Blick der Raumfahrer zurück auf den damals noch blauen Planeten, mit den Prognosen des Club of Rome, der Gaia-Hypothese, dem Öko-Biedermeier, der Selbstablehnung der westlichen Zivilisation begann die Rückkehr zu einer geozentrischen Kultur, die in der hellgrauen Welt des Geo-Engineering zu ihrem ästhetischen Ausdruck, zu einer unbestreitbaren sinnlichen Präsenz finden würde.
Ich fand diesen Gedanken faszinierend. Die "Aufbrüche in die Weite" waren die ersten Schritte einer Entwicklung, die zur Aufklärung und dem führten, was sich aus ihr ergab. Das, was Kallias die Selbstablehnung der westlichen Zivilisation nennt, schlägt sich gegenwärtig darin nieder, daß wir darauf verzichten, die Werte der Aufklärung offensiv weltweit zu vertreten; ja daß wir zunehmend auch darauf verzichten, sie wenigstens zu Hause noch uneingeschränkt durchzusetzen.

In sechstausend Jahren menschlicher Hochkulturen hat es niemals eine so schnelle Veränderung gegeben, nie eine so ungeheure Dynamik wie in unserer westlichen Kultur in den vergangenen drei Jahrhunderten. Wir haben uns daran gewöhnt, das als den Beginn eines historischen Prozesses zu sehen, der so immer weitergehen wird. Aber vielleicht war dies ja nur eine Episode, und es stellt sich danach wieder die Stagnation, der nur langsame Wandel ein, wie sie zu anderen Zeiten und anderswo die Regel gewesen waren.

Es kann so werden, es kann anders werden. "Futurologie" ist keine Wissenschaft; nicht science, sondern bestenfalls gute fiction.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Antike Büste von Ianus, des Gottes des Übergangs und der Veränderung; Vatikan-Museum. Fotografie vom Autor Fubar Obfusco in die Public Domain gestellt. Bearbeitet.