31. Dezember 2009

Realität in acht Päckchen (8): Wissenschaftliche Erkenntnis

In der letzten Folge dieser Serie ging es um Wahrheit und Täuschung. Sie unterscheiden sich, so können wir einem Blick in die Wahrnehmungspsychologie entnehmen, offenbar nicht nur in Bezug auf ihr Ergebnis, sondern auch in funktioneller Hinsicht.

Täuschung entsteht, wenn die Interaktion mit der Welt beeinträchtigt ist - sei es durch eine verarmte Reizgrundlage, wie bei den optischen Täuschungen; durch den Schlafzustand, wie im Traum; oder durch eine partielle Verweigerung der Interaktion, wie bei Wahnkranken. In dem Maß, in dem sie auf Handeln basiert, entgeht Erkenntnis dem Irrtum.

Dieser einfache Sachverhalt liegt dem Erfolg der naturwissenschaftlichen Welterkenntnis zugrunde.



Im dritten vorchristlichen Jahrhundert maß Eratosthenes den Umfang der Erde. Er hatte bemerkt, daß in Syene, dem heutigen Assuan, die Sonne am Tag der Sommersonnenwende zur Mittagszeit senkrecht steht, d.h. daß ihre in einen Brunnen fallenden Strahlen dann keinen Schatten werfen. Eine entsprechende Messung des Schattens im 800 km entfernten Alexandria ergab, daß der Sonnenwinkel am selben Tag zur selben Zeit um sieben Grad von der Senkrechten abweicht.

Eratosthenes nahm an, daß die Sonne so weit von der Erde entfernt ist, daß die Sonnenstrahlen, welche die Erde an diesen beiden Punkten treffen, als parallel angesehen werden können. Der Winkel von sieben Grad mußte also identisch mit dem Winkel zwischen zwei Erdradien sein, deren Schnittpunkte mit der Erdoberfläche 800 Kilometer voneinander entfernt sind. Wenn 800 Kilometer sieben Grad entsprechen, dann entsprechen 360 Grad ungefähr 41.000 Kilometern.

Das war Eratosthenes' Schätzung des Erdumfangs. Wie exakt er den tatsächlichen Wert getroffen hat, läßt sich nicht mehr feststellen, weil man nicht weiß, mit welchem genauen Wert für das Längenmaß Stadium er rechnete. Die Annahmen liegen zwischen Abweichungen von einem halben Prozent und siebzehn Prozent von den 40.000 Kilometern, die der Erdumfang tatsächlich mißt.



Das Kloster Ebstorf bei Lüneburg birgt als seinen größten Schatz eine mittelalterliche Weltkarte (Hier können Sie sie sich mit allen Einzelheiten interaktiv ansehen). Diese Karte zeigt unter anderem in der Mitte der Welt Rom und Jerusalem, nicht weit von dieser Mitte Lüneburg und Celle, und am Rand der Erdscheibe, jenseits des Mittelmeers, das Land schrecklich aussehender Halbmenschen.

Das Kloster ist heute ein evangelisches Stift für adelige Damen. Zu ihren Pflichten gehört es, die Besucher zu führen. Die Führerin, die ich dort erlebte, war sehr kenntnisreich. Sie betonte, daß man die Karte nicht einfach als etwas Geographisches betrachten dürfe. Vielmehr zeige sie auch die mittelalterliche Wertordnung, deretwegen z.B. die heiligen Städte Rom und Jerusalem sich in der Weltmitte befinden müßten.

Mit anderen Worten, diese Weltkarte spiegelte ein Konstrukt der mittelalterlichen Gesellschaft wider; eine Welt, die gemäß der gültigen Ordnung gegliedert war. Sie zeigt eine sozusagen religiös- gesellschaftlich durchdrungene Geographie.

Die Welt des Eratosthenes spiegelte aber keine antike Gesellschaftsordnung wider. Er hielt die Erde für eine Kugel, nicht weil dies seinem Wertesystem entsprach, sondern weil es sich aus vielen Beobachtungen, z.B. von Mondfinsternissen, schließen ließ. Der ganz andere gesellschaftliche Kontext, in dem er lebte, hat ihn nicht daran gehindert, genauso zu messen und zu folgern, wie das auch nach heutigen Maßstäben zur Lösung des Problems angemessen wäre.



Bilder von der Welt sind fast beliebig zu erzeugen. Sie hängen von der kulturellen Tradition ab, vom gesellschaftlichen Kontext, von den persönlichen Präferenzen. Man kann eine Sache so sehen oder auch anders. Das Handeln geschieht aber in der einen, realen Welt. Der Speer, den ein Neandertaler vor 50.000 Jahren auf ein Tier schleuderte, folgte demselben Wurfgesetz wie der Speer, den ein römischer Legionär benutzte und wie der Speer, der heute von einem Athleten im Stadion geworfen wird.

Wissenschaftliche Realität ist nicht "stets das, was wir dafür halten" wie ich Ulrich Schnabel am Beginn der Serie zitiert habe. Sondern wissenschaftliche Realität ist das, was uns als Objekt wissenschaftlichen Handelns gegenübertritt.

Es gibt keine "physikalische Welt", die hinter der "phänomenalen Welt" oder der "Alltagswelt" steckt, diese sozusagen fundierend oder sie hervorbringend. Es gibt nur eine einzige Welt, in der wir handeln. Wissenschaftliche Erkenntnis unterscheidet sich von der Erkenntnis im Alltag nicht dadurch, daß sie eine andere Realität zum Gegenstand hätte, sondern nur durch ihr tieferes Eindringen in diese eine Realität; mit Hilfe von Geräten und Instrumenten.

Der Fortschritt der Wissenschaften besteht aus dieser Sicht darin, unsere Handlungsmöglichkeiten innerhalb der einen, realen Welt zu erweitern - durch Versuchsanordnungen wie diejenige des Eratosthenes, durch das Teleskop des Galilei (siehe Mein Buch des Jahres; ZR vom 27. 12. 2007) oder jetzt aktuell beispielsweise durch den Teilchenbeschleuniger von CERN.

Man wirkt auf die Welt ein und beobachtet, was passiert. Das ist bei CERN nicht anders als bei dem Kind - das Beispiel stammt von Jean Piaget - , das in der Badewanne seine Plastikente unter Wasser drückt um zu sehen, was sie dann macht.

Wissenschaft hat es so wenig mit "Konstrukten" zu tun wie unsere alltägliche Erkenntnis.

Wenn wir etwas noch nicht hinreichend kennen, dann können wir uns irren; oder wenn wir unzureichende Informationen haben. Wenn ich aus dem Fenster auf das verschneite Feld blicke, dann kann es sein, daß ich eine nahe Krähe für ein entfernteres Reh halte. Es begegnen uns Dinge, auf die wir uns keinen Reim machen können; seltsame Erscheinungen am Himmel zum Beispiel.

So ist es auch in den Wissenschaften. Sie stoßen auf Neues, für das sie noch keine Erklärung haben. Sie können sich irren, wenn Informationen unzulänglich sind. Im Alltag merzen wir Irrtümer aus, indem wir neue Erfahrungen suchen. So macht es auch die Wissenschaft. Wenn ich wissen will, ob ich eine Krähe oder ein Reh sehe, dann nehme ich den Feldstecher. Wenn die Physiker von CERN Neues über Teilchen erfahren wollen, dann jagen sie sie durch den Beschleuniger.



Zwei Anmerkungen zum Schluß.

Erstens versteht es sich, daß der Begriff von Realität, den ich vertrete, keinen metaphysischen Ansprüchen über die Erfahrung hinaus genügen kann. Die Möglichkeiten der Erfahrung sind durch die Bedingungen vorgegeben, die der menschliche Erkenntnisapparat setzt. Diese Einsicht Kants lebt in unserer Gegenwart als "evolutionäre Erkenntnistheorie" wieder auf.

Besser als Kant sehen wir heute, daß die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung ihrerseits bedingt sind durch Möglichkeiten des Handelns, die sich zusammen mit ihnen entwickelt haben. Kants Grundposition, die transzendentalen Idealismus mit empirischen Realismus verbindet, wird davon nicht berührt.

Die zweite Schlußbemerkung führt noch einmal zu der postmodernen Idee zurück, Realität sei eine gesellschaftliche Konstruktion.

Am Beispiel der Paranoia hatte ich darauf hingewiesen, daß auch Deduktionen, die aus sorgfältigen Beobachtungen nach logisch richtigen Regeln abgeleitet werden, Wahncharakter haben können. Die richtige Beurteilung anderer Menschen, ihrer Absichten und ihres Verhaltens ist - und insofern wird Realität in der Tat durch einen gesellschaftlichen Konsens begründet - ohne ein gewisses Maß an Vertrauen in die soziale Umwelt nicht möglich.

Dies gilt in noch größerem Maß für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß. Der geniale Wissenschaftler, der isoliert von seiner wissenschaftlichen Umwelt, ja gegen sie, zu umwälzenden Erkenntnissen kommt, ist eine Mystifikation. Ausnahmslos zeigt die historische Untersuchung, daß gerade die großen Entdeckungen auf genauester Kenntnis der Arbeiten anderer beruhen, zeitgenössischer wie vorausgehender, und daß sie sich im Austausch mit anderen Wissenschaftlern entwickelten.

Es kann auch gar nicht anders sein. Das Handeln, das hier das Erkennen in Gang setzt und korrigiert, kann ja nicht das physische Handeln eines Individuums sein. Wer als Wissenschaftler meint, ohne die Prüfung seiner Erkenntnisse mittels deren Bewertung durch die Gemeinschaft der Wissenschaftler auskommen zu können, der gleicht in der Tat dem Paranoiker, der vermeint, ein Bild seiner sozialen Umwelt ohne Vertrauen in andere Menschen konstruieren zu können. Eine solche Überheblichkeit führt unweigerlich in die Pseudowissenschaft.

Insofern ist Wissenschaft natürlich ein gesellschaftlicher Prozeß und Realität ein Produkt gesellschaftlicher Bedingungen. Gesellschaftliche Bedingungen schaffen aber diese Realität nicht, sondern sie ermöglichen, im günstigen Fall, daß sie aufgedeckt wird. Im ungünstigen Fall verhindern sie es. In dem Maß, in dem sie es verhindern, können ungeprüfte, von Interessen getragene Annahmen an die Stelle der Erkenntnis von Realität treten. Was dann als Realität gilt, ist in der Tat ein gesellschaftliches Konstrukt.



Hier die Gliederung der Serie. Bereits erschienene Folgen sind jeweils verlinkt. Eine Zusammenfassung der Serie finden Sie hier.

1. Eine Frage der "Zeit". Ein paar Happen Philosophie
2. Ein Alptraum. Vom Träumen überhaupt
3. Fiktion und Realität. Fiktive Realitäten
4. Realität als Konsens. Cues und distales Fokussieren
5. Postmoderne Toleranz. Postmoderne Intoleranz
6. Erkenntnis und Interesse. Fromme Lügen
7. Erkenntnistheorie und Wahrnehmungspsychologie
8. Wissenschaftliche Erkenntnis


Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Alice im Wunderland. Frei, weil das Copyright erloschen ist.