7. Dezember 2009

Kurioses, kurz kommentiert: Das Ritual der Gottschalk-Verrisse. Versuch eines Blicks in die Seele des Zuschauers

Mag sein, daß "Spiegel- Online" damit angefangen hat; inzwischen machen es jedenfalls fast alle: Wenn Gottschalk seine Sendung hatte, dann muß bis zum Sonntag Nachmittag ein Verriß im Blatt stehen; oder vielmehr in seiner Internetausgabe.

Bei "süddeutsche.de" lieferte Lilith Volkert gestern bereits um 8.20 Uhr ("Bitte, bitte, einen Wettskandal!"). In "Spiegel- Online" hatte Christoph Twickel um 10 Uhr 36 das Werk vollbracht ("Crazy auf Katzenfutter"). Bei "Welt Online" ließ sich Florian Stark bis 17.47 Uhr Zeit, bevor er seinerseits mit einer Wette einstieg ("Wetten, dass es diese Show nicht mehr lange gibt!").

Wieso diese Autoren so lang gebraucht haben, ist mir unerfindlich. Jeder hätte seine Kritik schon im Lauf der Woche schreiben und in den Stehsatz geben können; die Namen der Gäste und die Art der Wetten wären in ein paar Minuten hineingeschrieben gewesen.

Denn alles, was in derartigen Kritiken steht, ist ja in der Aussage identisch mit dem, was in jeder derartigen Kritik geschrieben wurde; was geschrieben werden wird, bis Gottschalk aufs Altenteil geht: Daß die Gäste gelangweilt sind und nur Promotion machen wollen. Daß die Wetten blöd sind. Daß Gottschalk seicht ist und geschmacklose Witze reißt.

Das ist alles so überraschend, wie daß es beim Bäcker Brötchen gibt und keine LED- Fernseher. Warum in aller Welt wird es uns - ist das nicht kurios? - immer wieder mitgeteilt? Ich weiß es nicht.

Ich habe aber eine Vermutung.



Offenbar gibt es für diese Art von Pseudokritik einen Markt. Vielleicht wollen manche Leute, die eine solche Sendung gesehen haben, sie anhand des Rückblicks noch einmal vor ihrem geistigen Auge vorbeiziehen lassen. Vielleicht interessiert es sie, ob der Praktikant oder Redakteur, der die Kritik verfaßt hat, die Sendung so wahrgenommen hat wie sie selbst.

Das erklärt freilich noch nicht, warum zum Ritual der erbarmungslose Verriß gehört. Möglichst süffissant; möglichst ironisch, soweit die sprachlichen und intellektuellen Mittel das Autors das erlauben.

Daß das vom Leser offenbar gern genommen wird, ist insofern überraschend, als er ja vermutlich am Abend zuvor ein Seher gewesen war. Warum genießt er es jetzt, etwas verhohnepiepelt zu lesen, das er doch freiwillig angesehen hatte?

Meine Vermutung ist, daß viele Leute ambivalent gegenüber solchen Sendungen sind. Sie mögen sie; aber sie schämen sich, daß das so ist. Sie finden, daß es im Grunde unter ihrem Niveau ist, sich Gottschalk anzusehen. Ihr Überich tadelt das. Wenn sie den Verriß lesen, dann wird dem Überich sozusagen Satisfaktion gegeben.



Ich schalte übrigens Gottschalk gern ein. Aber ich käme nie auf den Gedanken, mich vor die Glotze zu setzen, um ihm meine ganze Aufmerksamkeit zu widmen.

Er läuft bei mir im Hintergrund, während ich am Rechner beschäftigt bin. Damit ist, so scheint es, mein Überich zufriedengestellt.



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