10. Dezember 2009

Gorgasal liest ein Buch (3): Zum Zweiten Weltkrieg

Gerhard L. Weinbergs A World At Arms (deutsch: Eine Welt in Waffen) ist eines der besten Bücher über den Zweiten Weltkrieg, die ich bisher gelesen habe. Weinberg hält sich nicht mit endlosen Schlachtenbeschreibungen oder Augenzeugenberichten auf, sondern legt sein Hauptaugenmerk einerseits auf die Hintergründe der getroffenen Entscheidungen - warum unterstützte die Sowjetunion Deutschland bis 1941, während das Dritte Reich sich den Rücken für den Angriff nach Osten freimachte? - und andererseits auf die globalen Zusammenhänge rund um den Krieg. Sehr lesenswert!

Aus Weinbergs Buch lernt man (oder zumindest: lerne ich) vieles Neues, und vieles erscheint in einem neuen Licht und wird viel verständlicher. So etwa die fundamentale Rolle der Ideologie im Zweiten Weltkrieg: für orthodoxe Kommunisten - und nach den "Säuberungen" der Dreißiger Jahre in der Sowjetunion waren keine anderen mehr übrig - waren die deutschen Nationalsozialisten einerseits Handlanger, andererseits Kulminationspunkt des "Monopolkapitalismus". Nach marxistisch-leninistischer Lehre bekämpften sich die Monopolkapitalisten gegenseitig, und "natürlich" führte Deutschland daher gegen Frankreich und England Krieg. Noch immer nach der reinen Lehre ging es dabei hauptsächlich um Ressourcen, Absatzmärkte und Kolonien. Also würde Deutschland weiter den Krieg im Westen führen, um die englischen und die französischen Kolonialreiche zu übernehmen. Nach dieser Sicht der Dinge gab es überhaupt keinen Grund für Deutschland, die Sowjetunion anzugreifen. Die UdSSR musste nur zuschauen, wie sich die kapitalistischen Staaten gegenseitig ausbluteten, und auf das Übergreifen der Weltrevolution auf die werktätigen Massen im Westen warten. Marx und Lenin hatten das ja alles "wissenschaftlich" vorhergesagt, und die Entwicklung bis kurz vor dem 22. Juni 1941 schien diese Sicht der Dinge zu bestätigen. Und so unterstützte die UdSSR Deutschland enthusiastisch bis kurz vor Operation Barbarossa mit Rohstoffen dabei, den Kontinent zu unterjochen, und musste dann jahrelang in Europa die Hauptlast des Krieges gegen Deutschland tragen.

Ein weiteres Beispiel für die zentrale Rolle der Ideologie in diesem Konflikt sind - wenig überraschend - die deutschen Entscheidungen. Schon früh drängten deutsche Militärs und japanische Diplomaten Hitler zu einem Frieden mit der Sowjetunion, damit sich Deutschland auf den Krieg mit den gefährlicheren Westmächten konzentrieren konnte. Dies alles verkannte die sinnstiftende Dimension des Krieges im Osten zur Gewinnung von "Lebensraum" - dagegen war der Krieg im Westen für Hitler nur Mittel zum Zweck.

Hatte überhaupt irgendjemand bei den Alliierten Hitlers Mein Kampf gelesen und ernstgenommen?

Der zweite Schwerpunkt bei Weinberg ist die globale Dimension des Krieges. Beispielsweise wurde die Sowjetunion ja in großem Umfang aus den USA mit Rüstungsgütern versorgt. In Deutschland ist hier vor allem der Transport über den Atlantik nach Murmansk im Bewusstsein, gegen den Deutschland mit U-Booten vorzugehen versuchte. Weniger bekannt ist, dass über diese Route nur etwa ein Viertel der amerikanischen Lieferungen an die UdSSR ging. Ein weiteres Viertel ging durch den Iran, und die Hälfte wurde über den Pazifik transportiert - unter der Nase von Deutschlands Verbündetem Japan. Als Japan mit den USA im Krieg stand, wurden Schiffe in den USA gebaut, an der Westküste sowjetisch umgeflaggt und schipperten unter sowjetischer Flagge ungehindert durch das japanische Gebiet, da die UdSSR ja 1941 einen Neutralitätspakt mit Japan geschlossen hatte und penibel einhielt. Natürlich waren die Deutschen darüber nicht glücklich und drängten Japan wiederholt zu Angriffen auf diesen Nachschub. Allerdings hatte Japan schlechte Erinnerungen an die schweren japanischen Verluste gegen sowjetische Truppen in Grenzkämpfen 1938/39 in Nordchina, und überdies hätten die japanischen Inseln von Flugplätzen in der UdSSR aus erreicht und bombardiert werden können. Die Sowjetunion erlaubte den USA derlei Bombardierungen von ihrem Territorium aus in der Tat nicht, und solange dem so war, störte sich Japan nicht an dem Nachschub für die Sowjetunion, der gegen Deutschland eingesetzt wurde.

Ein weiterer Punkt, den Weinberg sehr schön herausarbeitet, ist die zentrale Rolle der Erfahrungen im und Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg. Alle politischen Führer und hochrangigen Offiziere hatten ihn miterlebt, teilweise in den Materialschlachten an der Westfront, und alle zogen ihre Schlussfolgerungen daraus. Erstens nahmen die westlichen Entscheider unter dem Eindruck der schrecklichen Materialschlachten 1914-18 an, kein vernünftig denkender Politiker wollte noch einen Krieg in Europa. Dies - zusammen mit dem auch im Westen weit verbreiteten Gefühl, Hitlers Forderungen seien prinzipiell nicht unbillig - war sicherlich ein Faktor, der mit zur anfänglichen Nachgiebigkeit gegenüber Hitler führte. Einen Krieg konnte dieser komische Österreicher ja sicher nicht wollen.

Eine zweite wichtige "Lehre" aus dem Ersten Weltkrieg war die "Dolchstoßlegende", die (falsche) Ansicht, die deutschen Truppen seien "im Feld unbesiegt" und nur politische Winkelzüge durch Zivilisten in Berlin für die Kapitulation verantwortlich gewesen. Diese Legende, die ja von der Nazipropaganda gebetsmühlenartig aufgegriffen wurde, war im Zweiten Weltkrieg weithin anerkannt, auch unter den Alliierten. Daraus ergaben sich zwei Konsequenzen: erstens musste der alliierte Sieg diesmal "überzeugend" ausfallen, daher auch die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation der Achsenmächte. Und zweitens: die Dolchstoßlegende führte dazu, dass der Moral der Heimatfront ein sehr hohes Gewicht beigemessen wurde. Schließlich hatte die Heimatfront der Legende zufolge zur deutschen Kapitulation 1918 geführt! Die logische Konsequenz war einerseits die Ausplünderung der deutsch besetzten Gebiete, um die deutsche Heimatfront ruhigzustellen; bis 1945 waren die deutschen Rationen die höchsten in Europa. Und zweitens wurden natürlich große Hoffnungen auf die alliierten Bombenangriffe und deren Auswirkungen auf die Moral der Deutschen gesetzt, allerdings vergebens - und umgekehrt erwarteten sich die Deutschen auch noch ähnliche Erfolge von den Bombardierungen Englands, sei es 1940 mit Flugzeugen oder 1944/45 mit V1 bzw. V2.

Eine dritte Konsequenz aus den Erfahrungen im Ersten Weltkrieg war der grundlegende strategische Dissens zwischen den Westmächten 1942-1944. Nach Operation Torch, der Landung amerikanischer und britischer Truppen in Nordafrika 1942, und dem dortigen Bewegungskrieg gegen Rommels Afrikakorps folgte die Invasion Siziliens und Italiens und das langsame Vordringen nach Norden. Gleichzeitig wurde aber die Invasion in der Normandie geplant. Sollte diese Invasion durchgeführt werden, oder sollten lieber Ressourcen nach Italien gebracht und Europa von Süden her aufgerollt werden? Die USA waren der Meinung, der Angriff auf die Normandie sollte auf jeden Fall durchgeführt werden - das Vordringen in Italien ging sehr langsam vor sich, und bis diese Truppen nach Deutschland vordringen könnten, standen ja noch die Alpen im Weg. Und wenn all das zu lange dauerte, könnte sich die immer im Raum stehende Gefahr eines Separatfriedens Deutschlands mit der Sowjetunion konkretisieren. Die Engländer hingegen erinnerten sich einerseits daran, wie sie vor nicht allzu langer Zeit in Frankreich und Griechenland vom Kontinent verdrängt worden waren - ein weiteres Debakel, diesmal in der Normandie, wäre politisch katastrophal gewesen - andererseits aber auch an die Blutmühlen in Frankreich 1914-1918, die viele Kommandeure selbst miterlebt hatten. Weinberg zitiert hier einen Brief von General Sir Hastings Ismay an Field Marshal Archibald Wavell, in der Ismay darauf hinweist, dass vielerorts ein Blutbad wie an der Somme und bei Passchendaele (in Deutschland als "Dritte Flandernschlacht" bekannt) erwartet wurde - bezeichnenderweise beides Schlachten vor dem Kriegseintritt der USA 1917, die zwar im britischen, aber nicht im US-amerikanischen Bewusstsein verankert waren.

Neben all diesen "großen Zusammenhängen" geht Weinberg aber auch teilweise detailliert auf einige mir neue Facetten des Krieges ein. Neu war mir beispielsweise, dass die Führungsspitze der Wehrmacht, alle Feldmarschälle und ein guter Teil der Generalität, systematisch von der Naziführung bestochen wurden, um ihre Loyalität zu sichern. Dies ging so weit, dass Generäle die Zeit für ausgiebige Besichtigungstouren in den eroberten Ostgebieten fanden, um mögliche Landgüter auszusuchen, die ihnen übertragen werden sollten. Oder auch: Hitler hoffte bis zuletzt - in dieser Meinung unterstützt von Dönitz, den Hitler testamentarisch zum Reichspräsidenten und Oberbefehlshaber bestimmte - dass die neuen U-Boot-Klassen XXI und XXIII den Krieg doch noch zu Deutschlands Gunsten entscheiden würden, indem sie den Nachschub der Westalliierten abschneiden würden. Aus diesem Grund igelte sich die Heeresgruppe Kurland in Lettland ein, während die Rote Armee weiter nach Westen vordrang: es galt, möglichst lange das Baltikum für Probefahrten und Ausbildung der neuen U-Boot-Besatzungen frei von sowjetischen Schiffen zu halten, und dazu mussten vor allem die baltischen Häfen gehalten werden. Und das auch um den Preis einer Einkesselung von mehreren 100.000 Soldaten, die zurückgenommen hätten werden können. In diesem Zusammenhang räumt Weinberg auch mit dem Gerücht auf, Hitler hätte auch militärisch gebotene Rückzüge stets verboten. Wie die Beispiele Griechenland und Jugoslawien sowie Südwestfrankreich zeigen, stimmte er Rückzügen durchaus zu, wenn politisch "saubere" Offiziere dafür plädierten, denen Hitler vertraute, etwa Jodl oder Guderian.

Weinbergs Buch beleuchtet vielerlei Ereignisse und Entscheidungen im Zweiten Weltkrieg und stellt sie in den Zusammenhang der Umstände und vorherrschenden Ansichten 1939-1945, die uns im Jahre 2009 teilweise fremd bis unverständlich sind. Allerdings ist das Buch mit seinen über 900 Seiten Text und 180 Seiten Quellenangaben nicht ganz leicht verdaulich. Die großen Schlachten werden recht kurz beschrieben, und für das Verständnis etwa der verwirrenden Schiffsbewegungen der Seeschlacht bei Leyte wären ein paar detailliertere Karten nützlich gewesen; das Kartenmaterial beschränkt sich auf einige lieblose und wenig informative Zeichnungen, in denen man gerade einmal die Lage großer Städte erkennt - allerdings habe ich nur die Ausgabe von 1994, die Neuausgabe mag da besser sein und sollte auch einige neue Informationen aus mittlerweile geöffneten sowjetischen Archiven beinhalten. Man sollte also eine gewisse Vertrautheit mit den groben Eckdaten des Zweiten Weltkriegs mitbringen; auch "Vichy-Frankreich" wird wiederholt erwähnt, bevor erklärt wird, was dieser kleine Kurort mit Restfrankreich zu tun hatte. Insofern ist A World At Arms wohl kein Buch für deutsche Neuntklässler, aber mit einigen Vorkenntnissen und Durchhaltevermögen liest man es mit viel Gewinn.




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