28. Dezember 2009

Das wache und das träumende Jahrzehnt (Kallias)

Gestern hat Zettel die 90er-Jahre als Zeit des "Atemholens" bezeichnet; das vergangene Jahrzehnt der "Nuller"-Jahre sei "unein­heitlich und wider­sprüchlich" gewesen - politisch rotgrün am Anfang, schwarzgelb am Ende: ja, das sieht in der Tat nach einem Umbruch aus.

Um das Jahrzehnt nun aber doch in ein Bild zu fassen, hilft der Vergleich mit dem vorangegangenen, das ich als eine Übergangsperiode ansehe, und also das Nuller-­Jahrzehnt als das erste eines neuen Zeitalters.

Die Zeit nach dem Mauerfall war vom Schutt des zusammengebrochenen Kommunismus geprägt: der Aufbau Ost, die Stasi-Debatte, die Osterweiterung der EU, die Bürgerkriege an den Rändern des früheren sowjetischen Reiches. Man war in Deutschland mit der Vergangenheit beschäftigt, konkret mit der Hinterlassenschaft des marxisti­schen Bankrotts und imaginär mit der Deutung des Dritten Reichs. Beides, die kommunistische Gegen­wart und die national­sozialistische Vergangen­heit hat West­deutschland seit dem Krieg unablässig beschäftigt: Teilung, Kalter Krieg, Mauerbau, Entspannungspolitik, Honeckerkult, Mauerfall - NS-Prozesse, neulinke Faschismus­theorie, Holocaust-Vierteiler, Weizsäcker­rede, Historikerstreit, Knopp-Dokus, Ent­schädigungen. All das lief in den 90er-Jahren aus.

Seit zehn Jahren interessiert man sich weniger für die Vergangen­heit, sondern weit mehr als je zuvor für die Gegenwart, für die Situation des Landes in der Welt von heute. (Was, nebenbei gesagt, als Nebenfolge den Wiederaufstieg der kommunisti­schen Partei sehr begünstigt hat, die sich jetzt in der Gegen­wart verstecken kann.) Die Veränderungen der Welt­wirtschaft erzwingen in den alten Industrie­ländern einen Strukturwandel, den man in den 90er-Jahren schon ahnte, mit dem man sich aber noch nicht massiv befassen musste. Die kraftlose Kohl­regierung konnte die wachsenden Probleme noch vor sich herschieben. Daher beließ man es bei einer Debatte, jener "neoliberalen Reform­diskussion", die den Linken bis heute schwer im Magen liegt. Diese Diskussion ist beendet, die Linke hat die kulturelle Hege­monie wieder fest in Händen. Doch die schweigende Mehrheit hat sich unterdessen souverän vom Einfluß der Medien abgekoppelt, was diesen bei den letzten Bundestags­wahlen aufgefallen sein muß; daher sind selbst dort Veränderungen möglich. Die Sloterdijk-Debatte und Fleisch­hauers Bestseller sind vielleicht ein Vor­geschmack davon.

Und endlich folgten in diesem Jahrzehnt den Worten politische Taten. Nach der letzten "Noch-ist-Sommer"-Wahl 2002 kam Hartz IV als böse Überraschung, als lauter Wecker: plötzlich wurde es ernst, und die meisten, die nicht für den Rest des Lebens abgesichert sind, dürften inzwischen wach geworden sein. Am anderen Ende der Hierarchie hat sich zugleich ein welt­läufiges Groß­bürgertum etabliert, das so selbstverständlich mit Milliarden jongliert, wie man früher mit Millionen gespielt hat. Die Wirtschaft hat sich globalisiert, die alten Strukturen eines "rheinischen Kapitalismus" sind weitgehend auf­ge­löst.

Der raben­schwarze Pessimismus der Jüngeren dürfte ebenfalls damit zu tun haben, daß sie sich die Probleme genauer ansehen und weniger für selbstverständlich nehmen als früher. Die deutsche Industrie verdient im Ausland ganz von alleine Unsummen, die man nur noch edlen Zwecken dienstbar machen muß? So einfach denken heute nur noch wenige.

So scheint mir also das letzte Jahrzehnt ein Zeitalter des Umsichsehens gewesen zu sein: In was für einer Welt befinden wir uns heute? Und was folgt daraus für uns? Fragen wie diese haben die früheren abgelöst: Wer sind wir? Und welche guten Taten warten nur darauf, daß wir sie als erste tun?

So ist das Taggesicht der Nullerjahre: sehr wach, sehr illusionslos.

Das deutsche Nachtgesicht hingegen träumt den grünen Traum: schon in den 90er-Jahren wurde Nord­deutschland mit Windrädchen zugebaut, schon damals tauchten die ersten Bioprodukte in den Supermärkten auf, doch erst in diesem Jahr­zehnt kam der breite Durchbruch mit dem Atom­ausstieg, dem EEG, dem Klima­schutz. Nach den preiswerteren Nichtbio-Lebens­mitteln muß man allmählich suchen. Und seit irgendwer fantasie­voll argumentierte, der Klima­schutz würde weniger kosten als der Klima­wandel, sind alle Dämme gebrochen, sind wir ein einig Volk von Grünen.

Das mag ebenso komisch wirken wie teuer sein.

Aber vielleicht ist es ja nicht einmal der verkehrteste Traum, denn irgendwie ist er ja doch mit der Wirk­lichkeit verknüpft: in einer Welt, in der bald drei oder vier Milliarden Menschen im Wohl­stand leben werden, werden Umwelt­fragen eine immer größere Rolle spielen - und dann auch rational bearbeitet werden; womöglich sogar von uns Träumern.



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