24. Dezember 2009

Realität in acht Päckchen (7): Erkenntnistheorie und Wahrnehmungspsychologie

Diese Serie begann vor einem Jahr. Es soll eine Serie zu Feiertagen sein; deshalb habe ich sie damals zu Ostern fortgesetzt.

Es geht um die Frage, was Realität ist. Also geht es auch darum, was Irrtum und was Täuschung ist. Bis Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Johann Gottlieb Fichte es hinwegzauberten, indem sie Geist und Realität eins werden ließen, hatte sich die nachcartesianische Philosophie an dem Problem abgearbeitet, wie wir uns, in Anbetracht der Existenz von Täuschung, der Realität versichern können.

Eine häufige Argumentationsfigur bestand darin, die Möglichkeit der Täuschung im Ganzen anhand der Möglichkeit von Täuschungen im Einzelfall zu demonstrieren. Das führte dazu, daß der Analyse von Wahrnehmungstäuschungen breiter Raum gegeben wurde.

Am glanzvollsten hat das vielleicht Nicolas de Malebranche in der "Recherche de la vérité" durchgeführt. Wenn wir uns bei der Wahrnehmung der Entfernung von Gegenständen, der Größe des Mondes und so weiter täuschen können, wer sagt uns dann, daß nicht unsere gesamte Wahrnehmung Täuschung ist?

Wenn uns Tiefe und Körperlichkeit (3D würden wir heute sagen) gar nicht unmittelbar gegeben sind, sondern sie durch schnelle, unbewußte Urteilsprozesse (durch das jugement naturel) erst ermittelt werden müssen, wie können wir dann sicher sein, daß diese Urteile nicht falsch sind?

Bei der Erörterung dieser Fragen entwickelte Malebranche eine Psychologie der Wahrnehmungstäuschung, die in mancher Hinsicht die Wahrnehmungspsychologie des 19. Jahrhunderts, insbesondere die von Helmholtz geprägte, vorwegnahm: Wahrnehmung ist Konstruktion. Sie funktioniert wie das Denken, nur unbewußt. Einen "unbewußten Schluß" hat das Helmholtz genannt.

Malebranches Überlegungen beleuchten damit eine interessante Parallele zwischen dem erkenntnistheoretischen und dem psychologischen Aspekt des Täuschungsproblems:

Für die Erkenntnistheorie sind Täuschungen von Interesse, weil sie zeigen, daß man sich seiner Sinne nicht sicher sein kann. Damit stellen sie deren Zuverlässigkeit generell in Frage. Für die Wahrnehmungspsychologie waren und sind optische Täuschungen bedeutsam, weil man erwartet, daß ihre Erklärungen zugleich Einsichten in allgemeinere Mechanismen der Wahrnehmung erbringen werden.



In beiden Forschungstraditionen wird unterstellt, daß Täuschungen wie andere Wahrnehmungen sind, nur daß sie aus bestimmten Gründen nicht zu einem der Realität entsprechenden Ergebnis führen.

In der modernen Wahrnehmungsforschung hat insbesondere James J. Gibson darauf hingewiesen, daß diese Voraussetzung aber möglicherweise gar nicht zutrifft. Die meisten optischen Täuschungen bestehen nur unter eingeschränkten Beobachtungsbedingungen.

Wenn man den ganzen Umfang optischer Information zur Verfügung hat, wie ihn die visuelle Welt liefert, wenn man sich in dieser Welt frei bewegen und wenn man die optische Information mit Information anderer Sinnesmodalitäten verknüpfen kann, dann entlarven sich die meisten Täuschungen als das, was sie sind.

Sie eignen sich deshalb, sagt Gibson, schlecht als Ausgangspunkte für ein funktionelles Verständnis der normalen Wahrnehmung. Man kann hinzufügen: Ebensowenig sagen uns diese Täuschungen etwas darüber, ob unsere sinnliche Erkenntnis überhaupt wahr oder irrtümlich ist. Der modus deficiens, der Ausnahmefall der Ermangelung, eignet sich nicht dazu, das Allgemeine zu belegen.

Eine konstitutive Bedingung für den Irrtum ist im Fall der optischen Täuschungen, daß das Wechselspiel zwischen Wahrnehmung und Handeln beeinträchtigt ist, in dem normalerweise die Wahrnehmung an der Realität überprüft wird.

Das gilt auch für zwei in früheren Folgen dieser Serie erwähnte Fälle kognitiver Repräsentationen, die nicht der Realität entsprechen, nämlich für den Traum und die Wahnwelt des Paranoikers.

Betrachtet man die Struktur der beiden kognitiven Welten, dann zeigt sich zwischen ihnen ein bemerkenswerter Unterschied.

Der Traum besitzt Eigenheiten, die Sigmund Freud unter der Bezeichnung "Primärvorgang" zusammengefaßt hat. Das Traumgeschehen unterliegt nicht den Gesetzen von Raum, Zeit und Logik. Jedenfalls an der Oberfläche - auf der Ebene des, wie Freud sagte, "manifesten Trauminhalts" - ist das Geschehen oft inkohärent, sprunghaft, gewissermaßen fahrig.

Personen wechseln ihre Identität; man befindet sich unversehens an einem anderen Ort; Tote leben wieder; in einem Raum ist plötzlich ein Gegenstand, der vorher nicht da war. Die Welt ist sozusagen aus den Fugen.

In der Sicht des Paranoikers ist hingegen die Welt nur allzu gut verfugt. Es gibt kaum Zufall. Das meiste, was in dieser Welt geschieht, ist kausal miteinander verknüpft; ist Teil eines geschlossenen Geschehens, hinter dem eine einheitliche Ordnung waltet - eine freilich gegen die betreffende Person gerichtete, sie bedrohende Ordnung.



Offenbar weichen die kognitiven Welten des Träumenden und des Paranoikers in zwei entgegengesetzte Richtungen von der realen Welt ab. Der einen mangelt es an der Regelhaftigkeit, die in der realen Welt herrscht. Die andere steckt voll zusätzlicher Regelhaftigkeit, die keine hinreichende Grundlage in der realen Welt hat.

Die kognitive Welt des Traums läßt Zusammenhänge außer acht, die in der realen Welt existieren. Die des Paranoikers konstruiert Zusammenhänge, von denen wir wissen, daß sie nicht existieren.

Gesunde Menschen im Wachzustand vermeiden beide Abweichungen von der Realität mit demselben Mittel, mit dem wir auch in der alltäglichen Wahrnehmung den meisten Irreführungen durch optische Täuschungen entgehen: Das Bild der Welt ist kein Konstrukt aus Sinnesdaten, die uns, wie die eidola des Demokrit (Bildchen die sich von den Gegenständen ablösen), zufliegen. Unser Bild der Welt entsteht vielmehr aus den Reafferenzen unseres Handelns.

Regelhaftigkeiten in der Welt werden entdeckt, wenn die antizipierte Folge einer Handlung auch tatsächlich eintritt. Zu Unrecht vermutete Regelhaftigkeiten entlarven sich dadurch, daß eine auf ihrer Grundlage vorhergesagte Folge ausbleibt. So erkennt man Täuschungen.

Unerwartete Folgen des Handelns führen dazu, daß neue Regelhaftigkeiten aufgedeckt werden. So entstehen kognitive Strukturen aus dem Wechselspiel von Antizipation, Handeln und Rückmeldung. Das ist in vielen psychologischen Theorien beschrieben worden; unter anderem von Sechenov, Piaget, Berlyne und Wolff.

Die Wahrnehmung ist wirklichkeitsgetreu, weil sie als sensomotorischer Vorgang sonst gar nicht möglich wäre. Realität ist keine beliebige kognitive Konstruktion, sondern sie ist das, worauf wir als Handelnde - im Wortsinn - stoßen.



Hier die Gliederung der Serie. Bereits erschienene Folgen sind jeweils verlinkt.
1. Eine Frage der "Zeit". Ein paar Happen Philosophie
2. Ein Alptraum. Vom Träumen überhaupt
3. Fiktion und Realität. Fiktive Realitäten
4. Realität als Konsens. Cues und distales Fokussieren
5. Postmoderne Toleranz. Postmoderne Intoleranz
6. Erkenntnis und Interesse. Fromme Lügen
7. Erkenntnistheorie und Wahrnehmungspsychologie
8. Wissenschaftliche Erkenntnis


Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen der Serie sowie eine Zusammenfassung finden Sie hier. Titelvignette: Alice im Wunderland. Frei, weil das Copyright erloschen ist.