29. Dezember 2008

Zettels Gabentisch: Realität in acht Päckchen (3): Fiktion und Realität. Fiktive Realitäten

Bestseller- Listen werden heute meist getrennt für Fiction und Nonfiction publiziert. Im Deutschen nennt man das "Belletristik" und "Sachbücher".

Wie unterscheiden sich die beiden Gattungen? Auf den ersten Blick scheint die Antwort einfach, ja trivial zu sein: Kauft der Leser Fiction, dann bekommt er Erdachtes, Nichtreales. Kauft er Nonfiction, dann erwartet ihn ... tja, was? Erdachtes oft auch; Bewertungen, Theorien, Erinnerungen zum Beispiel. Die Sache ist also nicht ganz so einfach.

Nonfiction kann durchaus Fiktives zum Inhalt haben. Die hübschen logischen Rätsel, die sich Thomas von Randow jahrelang für die "Zeit" ausgedacht hat, hatten fiktive Inhalte - da wohnten vielleicht in Ypshausen soundsoviel Schwurbels usw. Trotzdem wäre eine Sammlung dieser Rätsel, hätte sie es denn auf die Bestseller- Liste geschafft, unter Nonfiction, wäre sie als Sachbuch rubriziert worden.

Was also ist der Unterschied? Nicht das Fiktive ist das definierende Merkmal der Fiction, sondern der Umstand, daß das Fiktive so dargestellt wird, als sei es real. Das Wesen der Fiction ist es, so zu tun, als schildere sie Realität.



Am Anfang zumindest einiger Gattungen der Literatur war dieses "so tun" keineswegs offensichtlich. Es wurde ja in gewisser Weise Realität dargestellt; wo die Grenze zum "so tun, als ob" begann, war unbestimmt.

Schilderte die Illias Geschehenes oder Erdachtes? Ein Zeitgenosse Homers hätte die Frage vermutlich gar nicht verstanden. Geschildert wurde Überliefertes. Daß es real war, wurde eben dadurch garantiert, daß es überliefert war - daß es schon die Vorfahren so gewußt hatten. Daran zu zweifeln wäre vermutlich einem Griechen vor dem Zeitalter der Aufklärung so wenig in den Sinn gekommen, wie er an der Existenz der Götter gezweifelt hätte.

Der Zweifel setzte erst mit der griechischen Aufklärung ein, also im 6. und 5. vorchristlichen Jahrhundert. Da dann freilich massiv: Herodot läßt nur noch das als real geschehen gelten, was einer kritischen, rationalen Prüfung standhält. Im zweiten Band seines Geschichtswerks zum Beispiel erklärt er die Erzählung, Herkules sei in Ägypten zur Opferung vorgesehen worden, er hätte sich aber befreien können, für lächerlich: Die Ägypter hätten noch nicht einmal das Opfern von Rindern gekannt, geschweige denn von Menschen.

Dergleichen gehörte fortan ins Reich der Sagen, der Märchen. Jedenfalls in der aufgeklärten Antike. Deren Aufgeklärtheit freilich ging mit dem Ende der antiken Kultur weitgehend verloren. Das Nibelungenlied war wieder ebenso Geschichtsschreibung und zugleich Dichtung, wie das die Ilias gewesen war.

Und was Märchen angeht: Wir sehen sie heute als erfundene Geschichten. Für Kunstmärchen wie die von Andersen oder Bechstein gilt das natürlich auch. Aber die ursprünglichen, die vor allem von den Brüdern Grimm gesammelten Märchen waren da viel unbestimmter. Manche sind ganz realistische Berichte über seltsame Begebenheiten, wie zum Beispiel das kurze Märchen "Das eigensinnige Kind
Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und die Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.
Eine ganz und gar realistische Geschichte; denn bei Toten kontrahieren sich die Muskeln, so daß es vorkommen kann, daß ein Arm ausgestreckt wird und dann, wenn eine Leiche nur oberflächlich mit Erde bedeckt wurde, aus dem Grab ragt.



Schauerlich ist ein solches Märchen; darauf kommt es an, ob es nun Reales oder Erfundenes zum Inhalt hat.

Freilich erhöht Realität den Schauer; überhaupt den Effekt einer Erzählung. Das mag einer der Gründe dafür gewesen sein, daß auch nach der Entstehung der Gattung "Roman" viele Autoren die Grenze zwischen Fiction und Nonficition noch bewußt offen gelassen haben.

Der Robinson Crusoe zum Beispiel ist abgefaßt wie die Erinnerungen eines realen Menschen. Einen "Erzähler" gibt es nicht; es ist eine wirkliche Person, die ihr Abenteuer erzählt. Defoe verstärkt diesen Eindruck durch Details, die in einem Roman nichts zu suchen hätten, zum Beispiel genaue Listen der Gegenstände, die Robinson aus dem gestrandeten Schiff retten kann, oder die "Dokumentation" von Eintragungen in Robinsons Tagebuch mit genauem Datum.

Noch im 19. Jahrhundert hat man mit der Unbestimmtheit der Grenze zwischen Realität und Fiktion gespielt. In der Romantik war es beliebt, einem Roman dadurch den Anstrich des Nichtfiktiven zu geben, daß der Verfasser als Herausgeber auftrat, der auf irgendeinem verschlungenen Weg an die Aufzeichnungen eines anderen geraten war. Die von Heinrich von Kleist herausgegebenen "Berliner Abendblätter" waren eine Zeitung, die überwiegend Meldungen brachte - über Brandstiftungen in und bei Berlin zum Beispiel. Eingestreut aber waren eigene Texte Kleists wie "Das Bettelweib von Locarno", die keineswegs als Fiktion gekennzeichnet waren.

Sind wir darüber hinaus? In der Belletristik vielleicht, obwohl es auch dort noch Autoren gibt, die es manchmal im Unklaren lassen, was in Werken real und was fiktiv ist. W. G. Sebald war ein solcher Wanderer zwischen Realität und Fiktion. Interessanter sind zu diesem Thema aber heutzutage andere Medien, vor allem das Fernsehen und das Internet.



Seit wir einen großen Teil unserer Kenntnis der Realität aus dem Fernsehen beziehen, ist es ein notorischer, immer wieder beschriebener Sachverhalt, daß dort Realität und Fiktion nicht mehr klar geschieden sind.

Die scheinbar dokumentarische Aufnahme in der Tagesschau kann gestellt sein. Diesen Szenen zum Verwechseln ähnliche Aufnahmen können Teil eines Spielfilms sein.

Das in eine Sendung eingeblendete "Live" kann bedeuten, daß das gezeigte Geschehen sich jetzt im Augenblick abspielt. Aber die Einblendung kann auch noch in einer Aufzeichnung erhalten geblieben sein, die Jahre später gesendet wird. Sie kann auch in einem Spielfilm erscheinen, in dem eine Szene gezeigt wird, die im fiktiven Fernsehen live übertragen wird.

Ein- und dieselbe Szene kann eine Zufallsaufnahme sein, gedreht wie ein Schnappschuß. Sie kann aber auch vorbereitet gewesen sein, vielleicht nach einem genauen Drehbuch. Sie kann irgend etwas dazwischen sein - eine mit den Akteuren zuvor abgesprochene reale Szene, oder eine am realen Ort nachgestellte Szene, oder eine im Studio oder auf irgendeinem Set nachgespielte. Dabei sind die Übergänge fließend. Was in Sendungen wie "Das Dschungelcamp" ist gestellt, was echt? Was abgesprochen, was spontan? Was Rollenspiel der Beteiligten, was Einfall des Regisseurs, des Produzenten?

Es gibt eine ganze neue Kunstgattung, die sich diese Ambivalenz von Bildern zunutze macht, ja die darauf basiert: Das sogenannte Doku- Drama. Es behandelt ein historisches Thema - sagen wir, die Verschwörung des 20. Juni 1944, den "deutschen Herbst" 1977 oder dem Fall der Mauer - und verwendet dabei sowohl Bildmaterial aus Wochenschauen, der Tagesschau usw. als auch neu gedrehte Szenen.

Zunehmend wird das so geschnitten, daß der Zuschauer bewußt im Unklaren gelassen wird, ob er jetzt gerade ein Bilddokument oder Nachgestelltes sieht. Manchmal hat man den Eindruck, daß der Regisseur, der Kameramann, der Cutter sich geradezu ein Vergnügen daraus machen, die nachgestellten Szenen so aussehen zu lassen, daß man sie von dem echten Material nicht mehr unterscheiden kann. Seit man alle Möglichkeiten der Bearbeitung im Computer hat, ist das nicht mehr allzu schwer.



Wie bei den TV-Gattungen, so gehen bei den Akteuren, die im Fernsehen auftreten, nicht selten Realität und Fiktion ineinander über.

Man liest, daß die Darsteller von Fernsehdoktoren auf der Straße angesprochen und um Hilfe bei einem Gesundheitsproblem gebeten werden. Schauspieler, die Fernsehkommissare darstellen, werden in Talkshows zu Fragen der Verbrechensbekämpfung interviewt. Vollends verschwinden die Grenzen zwischen der realen und der gespielten Person bei Kleinkünstlern. Was an Harald Schmidt oder Hella von Sinnen die eigene Person und was das Bühnen-Ich ist, weiß der Zuschauer nicht, und es interessiert ihn wahrscheinlich auch nicht.

Nur wenige dieser Humoristen, die man heute Entertainer oder Comedians nennt, halten den Künstler und sein Produkt - die Figur - so klar auseinander wie Olli Dittrich, der Dittsche nicht ist, sondern ihn spielt. Wen aber spielt Oliver Pocher? Oder sollte man fragen: Wer spielt Oliver Pocher?

Während so die dargestellte Realität dazu tendiert, von Fiktion überlagert zu werden, schlägt die Fiktion, die dem Medium als solchem eigen ist, leicht in Realität um. Die Situation des Konsumenten eines Mediums, in der man sich tatsächlich befindet, wird zu kommunikativen Situation umgedeutet.

Vor einiger Zeit - es ist schon etwas her, Heinz Köpcke war damals noch der sogenannte Chefsprecher der Tagesschau - las ich einen Bericht über eine Frau, die sich immer zur Tagesschau ihr bestes Kleid anzog, damit sie sich vor Köpcke nicht schämen mußte. Sie verehrte ihn.

In der nächtlichen Telefontalk- Sendung "Domian", übertragen im Hörfunkprogramm "WDR Live" und im Fernsehen des WDR, habe ich anrufende Zuschauer sagen hören, daß sie mit dem Gesprächspartner Domian gern etwas besprechen möchten, von dem aber niemand sonst wissen dürfe. Diesen Anrufern scheint gar nicht bewußt gewesen zu sein, daß sie sich nicht in einem privaten Gespräch befanden, sondern Teilnehmer einer Show vor Massenpublikum waren.



Das Fernsehen hat offenkundig die Grenze zwischen Fiktion und Realität ins Unbestimmte verlegt, was die Darstellung von Wirklichkeit angeht. Das Internet tut das auch; aber hier kommt ein paralleler Prozeß bei der Kommunikation zwischen Menschen hinzu.

Anfangs beschränkte sich das darauf, daß man sich in Chats, in Foren hinter einem Pseudonym, einem Nick verbergern konnte. Wer unter einem solchen Pseudonym schreibt, der kann ehrlich als er selbst schreiben. Aber er muß nicht. Er kann auch aufschneiden, kann sich zu jemandem machen, der er gar nicht ist. Ein in bescheidenen Verhältnissen lebender ewiger Student kann, sagen wir, als ein in Saus und Braus lebender Millionär auftreten, als Sportwagenfahrer und fröhlicher Junggeselle. Es wird Chatter und Foranten geben, die ihm das abnehmen; oder die es gar nicht interessiert, was real ist und was nicht, wenn es nur amüsant ist.

Seit mit den Breitband- Anschlüssen die visuelle Kommunikation im Web zur sprachlichen hinzugetreten ist, sind zwar einerseits die Möglichkeiten, sich als ein ganz anderer darzustellen, ein wenig eingeschränkt worden (die WebCam kann da ernüchternd wirken). Andererseits aber "existieren" nun die virtuellen Welten, in denen man Bürger werden, ein Haus bewohnen und einen Beruf ausüben und Geld verdienen kann - kurz, in denen es einem so geht wie im Real Life; nur alles schöner und in jeder Hinsicht attraktiver.

Zumindest finanziell durchdringen solche virtuellen Welten manchmal schon die reale. In der einen verdientes Geld kann in der anderen ausgegeben werden.

Wenn ein Medium uns ständig Fiktion als Realität vorgaukelt, dann leidet der Glaube an die Realität. Dann wachsen Skepsis und Zweifel. Man beginnt das als fiktiv, als Hoax, als Ergebnis einer Verschwörung zu sehen, was als real gilt. Verschwörungs- Theorien (vor zwei Jahren haben ich versucht, sie in einer Serie zu analysieren) sind eine Folge dieser Unsicherheit darüber, was überhaupt real ist, was fiktiv. Je mehr die Fiktion Züge der Realität annimmt, umso fiktiver erscheint die Realität.



"Kunst & Fantasie ist die wahre Welt, the rest is a nightmare. Nur die Phantasielosn flüchtn in die Realität (und zerschellen dann, wie billich, daran)" hat Arno Schmidt geschrieben.

Fiktion liefert uns in der Tat vieles von dem, was wir uns von der wahren Welt wünschen. Im Grunde fast alles. Auch und gerade soziale Beziehungen.

Nicht nur der Leser, auch der Autor kann seine Figuren lieben lernen, kann in ihnen eher selbständige Individuen sehen als nur Ausgeburten seines Gehirns. Romangestalten können ihr Eigenleben gewinnen, wie Gesine Cressphal für Uwe Johnson. In Arno Schmidts letztem, Fragment gebliebenen Roman "Julia, oder die Gemälde" war für eines der Schlußkapitel vorgesehen: "Begegnung mit den Gestalten meiner Bücher". Von Thomas Mann wird berichtet (oder er hat es selbst berichtet; ich bin da nicht sicher), daß er den kleinen Echo im "Doktor Faustus" so liebgewonnen hatte, daß er bei dessen Tod weinen mußte.

Unsere Emotionen unterscheiden kaum zwischen Fiktion und Realität. Auch unsere Kognition tut es nicht unentwegt; wir können uns in fiktive Realitäten verlieren.

Aber nicht auf Dauer. Denn das Handeln ist unerbittlich. Die mit ihm verbundene Rückkopplung zwingt uns in die Realität. "The eating is the proof of the pudding". Vorstellungen und Träume machen uns nicht satt.

Nicht unser Geist, aber unser Körper definiert erbarmungslos, was real und was nur Fiktion ist.

Als realistisch erweist sich am Ende allein dasjenige Bild von der Wirklichkeit, das, wenn wir es zur Leitung unseres Handelns nutzen, zu der erwarteten Rückmeldung führt. Ein Hologramm mag wie ein realer Gegenstand aussehen; aber wenn man diesen anzufassen versucht, entlarvt er sich als Gaukelspiel.

Dieses Thema - Realität konstitutiert sich durch Feedback, durch Rückmeldung - wird uns durch die folgenden Abschnitte der Serie begleiten. In der nächsten Folge in einem negativen Sinn: Weil das so ist, irrt der kulturelle Relativismus, der Realität aus einem sozialen Konsens ableiten möchte.



Hier die Gliederung der Serie. Bereits erschienene Folgen sind jeweils verlinkt.
1. Eine Frage der "Zeit". Ein paar Happen Philosophie
2. Ein Alptraum. Vom Träumen überhaupt
3. Fiktion und Realität. Fiktive Realitäten
4. Realität als Konsens
5. Postmoderne Toleranz. Postmoderne Intoleranz
6. Erkenntnis und Interesse. Fromme Lügen
7. Erkenntnistheorie und Wahrnehmungspsychologie
8. Wissenschaftliche Erkenntnis


Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen der Serie sowie eine Zusammenfassung finden Sie hier. Titelvignette: Alice im Wunderland. Frei, weil das Copyright erloschen ist.