3. Januar 2009

Realität in acht Päckchen (4): Realität als Konsens. Cues und distales Fokussieren

Wenn, wie im dritten Teil beschrieben, Fernsehzuschauer den Mann, der sie freundlich vom Bildschirm anguckt, als eine reale Person erleben, mit der man intime Zwiesprache halten kann und die gar ins Wohnzimmer zu schauen vermag, dann folgen sie in einer unschuldigen und eigentlich sehr verständlichen Weise ihrem unmittelbaren Eindruck.

Ich bin weit davon entfernt, die geschilderte Verwischung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion als ein Produkt raffinierter Manipulation durch die Medien zu verurteilen. Es scheint sich eher um die Rückkehr zu einer Normalität zu handeln, die vielleicht durch das wissenschaftliche Weltbild ein wenig in den Hintergrund gedrängt worden war.

Don Camillo hat - er selbst freilich eine fiktive, aber doch realistische Gestalt - in ähnlich unschuldiger Weise mit dem Christus in seiner Kirche Zwiesprache gehalten. Der Faun im Walde, die Trolle und Elben, das Gespenst im Schloß hatten und haben für viele Menschen mindestens so viel Realität wie für uns der Sprecher der "Tagesschau": Wir erleben diesen nur sozusagen in effigie, als Abbild, sind aber überzeugt, daß es ein realer Mensch ist, der zu uns spricht.

"Eigentlich" sind nur Farben und Formen auf dem Bildschirm; aber wir sehen den Sprecher. "Eigentlich" gibt es im Spukhaus nur Klirren und Klappern, aber dessen Bewohner hören das Gespenst. "Eigentlich" ist in Don Camillos Kirche nur ein Kruzifix aus Holz, aber er nimmt den Gekreuzigten wahr, mit dem er Zwiesprache halten kann.

Wenn wir wahrnehmen, dann gehen wir über die unmittelbar gegebene Information hinaus: "Going beyond the information given", wie es Jerome S. Bruner 1957 als Titel eines berühmten Artikels formuliert hat.

Wir gehen über die sinnlich gegebene Information hinaus, wenn wir sinnlich wahrnehmen. Wir gehen erst recht über die gegebene Information hinaus, wenn unsere Kenntnis aus zweiter, aus dritter Hand stammt. Das unseren Sinnen Zugängliche - das sind ja sozusagen nur die innersten Zwiebelschalen der Realität. Darum legen sich nach außen hin Horizonte, die überhaupt nicht mehr der Wahrnehmung, sondern nur noch dem Wissen zugänglich sind.

Einem Wissen, dem es aber keineswegs an unmittelbarer Realität fehlt. Die Beziehungskisten und Intrigen im Olymp dürften für die Griechen dieselbe Realität gehabt haben wie heute für uns das, was sich an europäischen Königshöfen und in Hollywood zuträgt. Zeitschriften und Fernsehen vermitteln diese moderne Realität ebenso getreu, wie diese damaligen Realitäten von den Sängern und Priestern mitgeteilt wurden.

Daß der normale Sterbliche die Prinzessin von Monaco, Paris Hilton oder Britney Spears nicht anfassen und nicht mit ihnen interagieren kann, nimmt ihnen nicht ihre Realität. So wenig, wie einst Aphrodite, Frau Holle oder der Erlkönig irreal waren, nur weil kaum jemand sie selbst gesehen oder mit ihnen gesprochen hatte.

Woher rührt diese unmittelbare, diese anschauliche Realität dessen, das den Sinnen gar nicht oder jedenfalls nicht vollständig zugänglich ist? Wie nehmen wir dasjenige als real wahr, das sich dem unmittelbaren Realitätstest - es anzufassen, es zu untersuchen - entzieht?

Auf zwei Grundlagen: Erstens aufgrund dessen, was der Wahrnehmungs- Psychologe Egon Brunswik "distal focussing" genannt hat, - "distales Fokussieren", das Ausrichten der Aufmerksamkeit auf das Objekt (und nicht die Anzeichen für das Objekt). Zweitens durch sozialen Konsens.



Als "distales Fokussieren" bezeichnete Brunswik einen Sachverhalt, der die Philosophie seit dem achtzehnten Jahrhundert beschäftigt hat: Unsere Wahrnehmung der äußeren Welt basiert auf einfachen Empfindungen - Farben, Formen, Tönen. Aber wir leben nicht in einer Welt solcher Empfindungen, sondern in einer Welt von Gegenständen und Ereignissen. Wir achten nicht auf die Zeichen, sondern auf das, worauf sie hinweisen. Wie gelangen wir vom einen zum anderen?

Das ist heute eine zentrale Frage der neuro- physiologischen Wahrnehmungs- Forschung: Damit wir etwas sehen und erkennen, müssen sich, so weiß es diese Forschung, komplexe Prozesse im Gehirn abspielen; weit komplexer als das, was man vor einem Jahrhundert vermutete. Sie zerlegen gewissermaßen die Welt in ihre Aspekte. Diese werden aber schließlich wieder integriert: Aus Empfindungen werden Gegenstände und Ereignisse.

Prozesse in zahlreichen Arealen sind da am Werke, in denen die einzelnen Aspekte der aufgenommenen Information - Farbe, Form, Orientierung, Bewegung; aber auch Bedeutung und emotionaler Gehalt - analysiert und zu einem Gesamteindruck von dem Objekt und seinem Kontext zusammengefügt werden. Die beteiligten Areale reichen von der Area Striata im Okzipitallappen, die man einmal für das "Sehzentrum" hielt, über den Scheitel- und den Schläfenlappen bis ins Frontalhirn; auch subcorticale Strukturen bis hinunter zur Vierhügelplatte im Mittelhirn, ja zur Retina selbst leisten ihren Beitrag, indem sie die Information vorverarbeiten.

Im Gehirn arbeiten eine Vielzahl von Spezialisten zusammen; jeder dafür zuständig, einen bestimmten Teil der Information zu analysieren. Wo und wie das geschieht, darüber hat die interdisziplinäre Forschung in den vergangenen Jahrzehnten viel herausgefunden. Wie aus allen diesen Ergebnissen der Spezialisten schließlich das Bild einer einzigen, kohärenten Außenwelt zusammengefügt wird - darüber ist noch weit weniger bekannt. Die Synchronistation der Aktivität von Neuronenverbänden könnte eine entscheidende Rolle spielen.

Welche auch immer die Gehirnmechanismen sind - das distale Fokussieren ist ein Grundsachverhalt der Wahrnehmung. Wir sehen, daß das eine Objekt weiter von uns entfernt ist als ein anderes, können aber nicht angeben, woran wir das eigentlich erkennen. Wir sehen einen Menschen, sagen wir, "ungläubig" gucken - aber welche Anzeichen in seiner Mimik sagen uns das eigentlich?

Solche Anzeichen nennt die Wahrnehmungspsychologie Cues; ein Begriff, der eigentlich aus der Theatersprache kommt und dort "Stichwörter" bedeutet. Cues für die Entfernung eines Objekts sind zum Beispiel seine relative Größe, seine Verdecktheit, die Farbsättigung seiner Oberfläche, seine Einordnung in eine Perspektive usw. Keinen dieser Cues nehmen wir normalerweise bewußt als solchen wahr. Wir nutzen sie, um das Objekt in seiner richtigen Entfernung wahrzunehmen.

Ebenso können im Spukhaus das Knirschen und Rasseln, das Klappern und der kalte Luftzug als Cues für die Anwesenheit des Gespensts verarbeitet werden; ebenso verwendet unser Gehirn die Farben, Formen, Bewegungen auf dem Bildschirm, dazu die Schallwellen aus dem Lautsprecher, als Cues dafür, daß uns Claus Kleber die Welt erklärt.

Kurzum: Unsere Wahrnehmung (dh die sie konstituierenden Prozesse im Gehirn) arbeitet mit Indizien und zieht Schlüsse aus ihnen. Das hat schon im 18. Jahrhundert der französische Philosoph Nicolas de Malebranche beschrieben; er nannte diese Art des impliziten Schlußfolgerns ein jugement naturel, ein natürliches Urteil, dessen Geschwindigkeit so groß ist, daß wir es gar nicht bemerken. Herrmann v. Helmholtz prägte dafür später den Begriff des "unbewußten Schlusses".

Ein Schluß kann irrig sein. Unsere Wahrnehmung kann uns also täuschen. Ähnlich wie der Traum (siehe die zweite Folge) haben auch Wahrnehmungs- Täuschungen immer wieder die Philosophie unter der Frage beschäftigt: Wenn wir uns in diesen Fällen täuschen können (wenn wir zum Beispiel irrigerweise den Mond am Horizont größer sehen als im Zenith) - was gibt uns dann die Gewißheit, daß nicht alles Wahrnehmen Täuschung ist?

Gewißheit gibt uns unter anderem, daß alle es so sehen wie wir. Ein sigillum veri, ein Siegel des Wahren, ist der soziale Konsens. Ein subjektives Sigel des Wahren jedenfalls.



An der Existenz der Götter zu zweifeln, war vor dem Auftreten der ersten Skeptiker in der Antike genauso absurd, wie im Mittelalter an der Existenz Gottes oder heute an der Existenz, sagen wir, von Barack Obama zu zweifeln. Wer das täte, der wäre mindestens ein Sonderling, wenn nicht verrückt.

Er würde als ein Außenseiter, vielleicht als ein Irrer angesehen werden, weil er sich außerhalb des Denkens Aller stellen würde; weil er hinweggeirrt wäre, hinaus aus dem sicheren Gehäuse gemeinsamer Überzeugungen, hinein in eine Wildnis, eine Verwilderung des Denkens, in der alles geht. Also in der nichts mehr geht.

Die Mechanismen - welche immer es sein mögen -, die dem distalen Fokussieren zugrundeliegen, machen Sinn aus dem Mosaik der Sinneseindrücke, der Informationen, die uns ständig erreichen. Sie machen daraus einen Sinn, genauer gesagt. Daß es aber der richtige Sinn ist - das garantiert erst der gesellschaftliche Konsens; verspricht er jedenfalls zu garantieren.

Er allein sagt uns, ob ein Gedanke verrückt ist oder nicht. Dem Konsens zu widersprechen, ihm zu widerstehen, wäre unvernünftig. So unvernünftig, als würde ein TV-Zuschauer behaupten, Claus Kleber gebe es gar nicht; das sei nichts als eine im Computer generierte Figur.

Nun ist es mit dem sozialen Konsens aber so eine Sache. Es gibt ihn leider nicht im Singular. Es gibt nur Konsense; wenn denn dieser Plural grammatisch erlaubt ist. So viele, wie es Gesellschaften gibt. Nein, noch viel mehr. Denn innerhalb vieler Gesellschaften gibt es wiederum Subkulturen, religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften. Alle mit ihrem je eigenen Konsens.

Und jeder solche Konsens konstituiert wahrgenommene Wirklichkeit. Nehmen wir das Beispiel des Spuks. Zu unserem Bekanntenkreis gehört eine aus Mazedonien stammende Familie, die in der alten Heimat noch ein Haus hat. In diesem Haus spukt es; davon ist die gesamte Familie - gut in Deutschland assimilierte Leute, keine Hinterwäldler - überzeugt. Woher rührt die Sicherheit ihrer Überzeugung? Alle im Dorf sagen es. Jeder weiß es. Es ist der Konsens der Dorfgemeinschaft, der die Realität schafft.

Nicht an den Spuk zu glauben wäre unvernünftig. Dagegen kommt nicht an, was hier in Deutschland studierte Freunde sagen. Diese haben ja keine Ahnung von der Wirklichkeit in einem mazedonischen Dorf; von der Realität, die sie konstituiert.



Dieses Vertrauen auf indirekte Sinneserfahrung und gesellschaftlichen Konsens liegt nun allerdings auch unserem Glauben an die Realität der wissenschaftlich beschriebenen Welt zugrunde.

Atome, Gene und schwarze Löcher entziehen sich unserer eigenen, unmittelbaren Erfahrung ebenso wie Hera, Apoll und Poseidon sich der eigenen, unmittelbaren Erfahrung eines Griechen in der Antike entzogen haben. Und auch diese wissenschaftlichen Entitäten sind das Ergebnis distalen Fokussierens; einzelne Beobachtungen und Meßergebnisse werden zu ihnen so zusammengefügt, wie wir Farben, Formen, Bewegungen zum Bild eines Objekts vereinen.

Ohne Vertrauen in sozialen Konsens können wir uns der Existenz von Atomen und Genen, ja der Richtigkeit des heliozentrischen Weltbilds so wenig sicher sein, wie die Griechen ohne sozialen Konsens der Existenz der Götter gewiß sein konnten.

Aus dieser Übereinstimmung speist sich der postmoderne Verdacht, beim einen wie beim anderen handle es sich um nichts als gesellschaftliche Konstruktionen: Was alle glauben, innerhalb einer Gemeinschaft, das ist für sie Realität. Das gilt, so wird behauptet, für das gegenwärtige wissenschaftliche wie für jedes andere Weltbild.

Nur in diesem Sinn gibt es überhaupt Realität, behaupten die Konstruktivisten. Oder wie es Ulrich Schnabel formuliert hat - ich habe ihn im ersten Teil zitiert -: "Vielleicht lautet die beste Antwort auf die Frage nach der Realität daher einfach so: Realität ist stets das, was wir dafür halten".



Ich halte das, wie schon im ersten Teil gesagt, für unzutreffend.

Daß der Konsens mit anderen Menschen für die Konstitution von Realität wichtig ist, kann man den Konstruktivisten allerdings schwerlich bestreiten.

Man sieht das an Paranoikern und anderen Wahnkranken. Ihre deformierte Realität basiert ja nicht weniger auf eigener Erfahrung als die unsere; eher auf mehr.

Ich habe einmal in einer Kneipe einen jungen Mann kennengelernt, der wie ich in die betreffende Stadt gefahren war, um dort ein Fußballspiel zu sehen. Er hat mir beschrieben, wie ihm zu jedem Auswärtsspiel seiner Mannschaft ein bestimmter Mensch nachreist, der ihn verfolgt und überwacht, ihm über Stimmen Befehle erteilt und so weiter.

Das war mit einer Fülle an Beobachtungen und scharfsinnigen Folgerungen untermauert, die jedem Wissenschaftler Ehre gemacht hätte. Daß es sich dennoch um ein Wahnsystem handelte, ließ sich keineswegs an einem Mangel an empirischem Material erkennen, oder an fehlender Logik der Schlüsse, die der junge Mann zog. Wäre er ein Dissident aus der DDR gewesen und hätte er nicht von den Stimmen berichtet (einem nahezu untrüglichen Hinweis auf eine schizophrene Erkrankung), dann hätte man ihm durchaus die Realität der Verfolgung abnehmen können, der er sich ausgesetzt wähnte.

Noch eklatanter tritt diese empirische Fundierung und logische Stringenz bei geschlossenen Glaubenssystemen von Gruppen zutage, die ja oft ebenfalls einen paranoiden Charakter tragen.

Als Jugendlicher hatte ich einmal Gelegenheit, das Weltbild der Ludendorff- Bewegung kennenzulernen, dem zufolge die ganze moderne Geschichte vom Kampf "überstaatlicher Mächte" - ich glaube, es waren der Vatikan, die Freimauerer und das "Weltjudentum" - beherrscht wird. Es ging alles ohne Rest auf. Daß auch kluge Menschen anfällig für solche umfassenden, mit paranoiden Zügen ausgestattete Welterklärungen sein können, wird durch die Faszination belegt, die der Kommunismus auf viele Intellektuelle ausgeübt hat.

In den USA steht gegenwärtig bei fundamentalistischen Christen ein Argument hoch im Kurs, das den Kreationismus - also die Auffassung, daß die Welt, wie die Bibel es lehrt, vor einigen Jahrtausenden erschaffen wurde - , logisch und empirisch unangreifbar macht. Es ist das sogenannte Bauchnabel- Argument: Eva hatte einen Bauchnabel (man sieht ihn in vielen religiösen Darstellungen), obwohl sie nicht geboren wurde. Das erklärt sich daraus, daß Gott sie so geschaffen hat, als wäre sie geboren worden. Ebenso hat er die Welt vor ungefähr sechstausend Jahren so geschaffen, als sei sie Milliarden Jahre alt, als hätte sich eine Evolution abgespielt, als hätten Mensch und Affe gemeinsame Vorfahren usw.

Das ist ebensowenig widerlegbar wie der Marxismus oder die Auffassung, alles Elend der Menschheit rühre von der Unterdrückung der Frau durch den Mann her.



Nun sind wir allerdings in einem Dilemma gelandet. Ich hatte das Beispiel des Paranoikers genannt, um zu demonstrieren, daß jemand, der sich nicht dem sozialen Konsens unterwirft, auf eine durchaus logisch stringente, durchaus empirisch unterfütterte Art zu einem abwegigen Weltbild kommen kann. Nun habe ich aber Beispiele dafür angeführt, daß just ein solcher sozialer Konsens ein ebenso abwegiges, ebenso mit paranoiden Zügen ausgestattetes Weltbild beinhalten kann.

Ob ein Weltbild vernünftig ist oder abwegig, ob einsichtig oder paranoid - das hängt offenbar nicht davon ab, ob es das Weltbild eines Einzelnen ist oder einer Gemeinschaft. Es scheint, daß wir uns der resignativen Behauptung Ulrich Schnabels "Realität ist stets das, was wir dafür halten" am Ende doch nicht verschließen können.

Resignativ? Vielleicht ist sie das ja gar nicht. Wenn es keine für alle verbindliche Realität gibt, wenn "alles geht", wenn jede Gruppe, jede Community und jede Kultur ihre eigene Wahrheit hat, und wenn alle das anerkennen, - ist das dann nicht eine wunderbare Welt der Toleranz? Das ist das Thema der nächsten Folge.




Hier die Gliederung der Serie. Bereits erschienene Folgen sind jeweils verlinkt.
1. Eine Frage der "Zeit". Ein paar Happen Philosophie
2. Ein Alptraum. Vom Träumen überhaupt
3. Fiktion und Realität. Fiktive Realitäten
4. Realität als Konsens. Cues und distales Fokussieren
5. Postmoderne Toleranz. Postmoderne Intoleranz
6. Erkenntnis und Interesse. Fromme Lügen
7. Erkenntnistheorie und Wahrnehmungspsychologie
8. Wissenschaftliche Erkenntnis


Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen der Serie sowie eine Zusammenfassung finden Sie hier. Titelvignette: Alice im Wunderland. Frei, weil das Copyright erloschen ist.