5. Januar 2009

Welche Kriegsziele hat Israel? Analysen aus der israelischen und der internationalen Presse

Das primäre Ziel der Operation "Cast Lead" (Bleiguß) ist es natürlich, den Beschuß Israels durch die Raketen und Mörser der Hamas dauerhaft zu beenden.

Das ist das primäre Ziel in dem Sinn, daß es das unmittelbare, das auf der Hand liegende, auch das ein militärisches Vorgehen Israels am offensichtlichsten rechtfertigende Ziel ist. Was aber ist das Kriegsziel in einem weiteren und wichtigeren Sinn: Welche Lage im Gaza- Streifen soll durch den Krieg geschaffen werden?

Dazu gibt es verschiedene Analysen in der israelischen und der internationalen Presse. Sie müssen einander nicht unbedingt widersprechen, denn es könnte gut sein, daß Israels Regierung sich Minimalziele gesetzt hat und weitergehende Ziele.

Sollten diese letzteren nicht erreichbar sein, dann würde man den Krieg immer noch als einen Erfolg betrachten können, wenn die Miminalziele erreicht sind.



Die meisten Kommentatoren, die sich mit der Frage des Kriegsziels befassen, entscheiden sich allerdings für eine von zwei Alternativen:

Die erste wird beispielsweise von der israelischen Tageszeitung Haaretz vertreten. Dort schrieben am Wochenende Amos Harel und Avi Issacharoff eine Analyse, die schon im Titel ihre Antwort nennt: "Israel's aim in Gaza is to break Hamas resistance". Israels Ziel in Gaza sei es, den Widerstand der Hamas zu brechen:
The goal is not to chase after and destroy every last rocket launcher, but rather to break the Hamas' resistance and force it to agree to a long- term cease- fire whose terms are more reasonable from Israel's perspective.

Das Ziel ist es nicht, auch noch die letzte Vorrichtung zum Abschießen von Raketen aufzuspüren und zu zerstören, sondern den Widerstand der Hamas zu brechen und sie zu zwingen, einem langfristigen Waffenstillstand zuzustimmen, dessen Bedingungen aus israelischer Sicht vernünftiger sind.
Dieses Minimalziel würde implizieren, daß Israel erstens mit der Hamas verhandelt (wenn auch eventuell über Vermittler), und daß mit ihr ein formaler Vertrag geschlossen wird. Zweitens würde es das Fortbestehen der Herrschaft der Hamas über den Gaza- Streifen bedeuten.

Auf das Problematische dieses Kriegsziels hat beispielsweise gestern Vincent Jauvert im Nouvel Observateur hingewiesen. Unter der Überschrift "Gaza: que veut vraiment Israël?" (Gaza: Was will Israel wirklich?) schreibt er:
... un cessez le feu négocié conférerait au Hamas une sorte de "reconnaissance diplomatique"- une légitimité internationale dont ni l'Etat hébreu ni les Etats-Unis (ni l'Union Européenne) ne veulent entendre parler. L'opération "Plomb durci" ne peut donc viser qu'au renversement pur et simple du Hamas.

... ein mit ihr ausgehandelter Waffenstillstand würde der Hamas eine Art "diplomatische Anerkennung" gewähren - eine internationale Legitimität, von der weder der hebräische Staat noch die Vereinigten Staaten (noch die Europäische Union) etwas wissen wollen. Die Operation "Bleiguß" kann also nur schlicht und einfach den Sturz der Hamas zum Ziel haben.
Diese Analyse stimmt mit dem überein, was die Jerusalem Post schon vor Beginn des Angriffs geschrieben und worüber ich am 27. Dezember berichtet hatte: Hätte Israel erst einmal die Schlacht gegen die Hamas begonnen, dann dürfe diese erst dann beendet werden, wenn die Hamas nicht mehr regierungsfähig sei. Dann müßte der Gaza- Streifen wieder von Truppen der Fatah übernommen werden.

In der heutigen Jerusalem Post bekräftigt David Horovitz noch einmal diese Analyse:
A premature and ill- conceived cease- fire that leaves Hamas relatively intact and capable of restrengthening itself is the last thing that supporters of peace in the Middle East should be pushing for. The strategic goal, instead, should be an end to Hamas rule in Gaza - the downfall of an organization that has relentlessly targeted Israel's defenseless civilians while cynically hiding behind its own citizens' schools and places of religious worship and hospitals and homes.

Ein vorzeitiger und unüberlegter Waffenstillstand, der die Hamas relativ intakt und sie in der Lage läßt, ihre Stärke wieder zurückzugewinnen, ist das Letzte, auf das diejenigen drängen sollten, die einen Frieden im Nahen Osten wollen. Das strategische Ziel sollte vielmehr sein, die Herrschaft der Hamas über Gaza zu beenden - der Sturz einer Organisation, die ohne Unterlaß wehrlose Bürger Israels zum Ziel ihrer Angriffe genommen hat, während sie sich zugleich zynisch hinter den Schulen und Gebetsstätten, Krankenhäusern und Wohnungen ihrer eigenen Bürger versteckt.
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Das klingt logisch und überzeugend: Wenn die Hamas - so wie die Hisbollah im Libanon - schließlich doch mit einem neuen Waffenstillstand davonkommt, dann wird sie das erstens als einen Sieg feiern; zweitens wird ihr ein förmlich ausgehandelter Waffenstillstand internationale Reputation einbringen; und drittens ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie ihre alte Stärke zurückgewonnen hat.

Und warum eigentlich sollte sie sich an einen neuen Waffenstillstand mehr halten als an denjenigen, den sie im November vergangenen Jahres gebrochen hat? Das Ergebnis der Operation "Bleiguß" wäre dann nur eine Atempause; keine irgendwie tragfähige Lösung.

Nur - ist dieses Ziel eines Sturzes der Hamas überhaupt ein realistisches Kriegsziel? Zweifel daran äußert Ethan Bronner in der gestrigen New York Times:
... while it may sound decisive to speak of taking Hamas out of power, almost no one familiar with Gaza and Palestinian politics considers it realistic. Hamas legislators won a democratic majority in elections four years ago, and the group has 15,000 to 20,000 men under arms. It has consolidated its rule in the past 18 months (...)

And while there are plenty of Gazans who would prefer Fatah, they seem hardly organized or strong enough to become the new rulers, even with the help of former colleagues in exile in Ramallah who say, anyway, that they would never be willing to ride into Gaza on the back of an Israeli tank. In fact, the longer Israel pounds Gaza, the weaker Fatah is likely to become because it will be seen as collaborating.

The likelier result of a destruction of the Hamas infrastructure, then, would be chaos, anathema not only to the people of Gaza but also to those hoping for peace in southern Israel.

... es mag entschieden klingen, von einer Entmachtung der Hamas zu sprechen, aber kaum jemand, der mit der Politik in Gaza und Palästina vertraut ist, betrachtet es als realistisch. Abgeordnete der Hamas erreichten vor vier Jahren bei Wahlen eine demokratische Mehrheit, und diese Gruppierung hat 15.000 bis 20.000 Männer unter Waffen. Sie hat in den vergangenen 18 Monaten ihre Herrschaft konsolidiert (...)

Zwar gibt es viele Einwohner Gazas, die lieber die Fatah an der Macht hätten, aber sie erscheint kaum organisiert oder stark genug, um die Herrschaft zu übernehmen; nicht einmal mit Hilfe früherer Kollegen, die jetzt in Ramallah im Exil sind und die im übrigen ohnehin sagen, daß sie niemals bereit sein würden, auf einem israelischen Panzer nach Gaza zurückzukehren. Je länger Israel Gaza mit Bomben belegt, umso schwächer dürfte die Fatah in der Tat werden, weil sie als Kollaborateur gesehen wird.

Würde die Infrastruktur der Hamas zerstört, dann wäre das wahrscheinlichere Ergebnis ein Chaos - das Schreckensbild nicht nur für die Bevölkerung Gazas, sondern auch für diejenigen, die auf Frieden für den Süden Israels hoffen.



Ist diese Analyse zu pessimistisch? Ethan Bronner ist Träger des Pulitzer- Preises, hat sich auf den arabischen Terrorismus spezialisiert und berichtet jetzt aus Jerusalem. Man wird voraussetzen dürfen, daß seine Analyse Hand und Fuß hat.

Aber das gilt natürlich auch für die von David Horovitz, der für einen Sturz der Hamas eintritt. Er ist der Chefredakteur der Jerusalem Post und einer der führenden internationalen Journalisten; Autor unter anderem der New York Times, der Los Angeles Times und des britischen The Independent.

Die Fachleute sind sich - wie auch anders in einem Krieg? - über die Chancen und Risiken nicht einig. Die israelische Regierung kann, wie immer sie sich entscheidet oder vielleicht schon entschieden hat, nur eine Option wählen, die mit dem Risiko des Scheiterns behaftet ist. Das ist nun einmal die reale Lage.



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