Das Thema der fünften Folge war postmoderner Relativismus; die Auffassung, daß die Realität etwas Konstruiertes sei, bezogen auf die jeweilige Kultur und in diesem Sinn relativ.
Der Ausgangspunkt ist ein unstreitiger Sachverhalt: Unser Bild der Welt ist weithin kulturell vermittelt. Was wir wissen, das wissen wir ganz überwiegend nicht aus eigener sinnlicher Erfahrung, sondern wir haben es erfahren, wir haben es gelernt, es ist uns beigebracht und mitgeteilt worden.
Wenn also die Realität uns in so großem Maß nur durch die Kultur bekannt ist - ist sie dann nicht vielleicht auch nur ein Erzeugnis der Kultur? Bestehend aus Konstrukten, aus Narratives, aus gemeinsamen Annahmen und Überzeugungen, die aber von Kultur zu Kultur verschieden sind?
Ob das eine haltbare Position ist, habe ich vorerst offen gelassen und zunächst nur darauf hingewiesen, welche eigenartige und bedenkliche Dialektik dieser Haltung innewohnt:
Wenn es so viele gleichwertige Realitäten gibt wie Kulturen und Communities, dann scheint das auf den ersten Blick eine große Toleranz zu begründen. Denn Jeder ist sich ja bewußt (oder sollte es jedenfalls sein), daß andere Weltsichten genauso berechtigt sind wie seine eigene. Also sollte er diese respektieren.
Zu beobachten ist aber, daß diese Toleranz leicht in Intoleranz umschlägt.
Indem die Realität zum Erzeugnis einer Kultur deklariert wird, wird sie in ihrer jeweiligen Gestalt auch sozusagen zum Besitz dieser Kultur. Verbindlich für ihre Mitglieder, so wie es religöse Wahrheiten sind. Kritik wird abgewiesen; man immunisiert sich dagegen. Diskussionen sind ja auch im Grunde sinnlos, wenn jede Kultur und Community ihre eigene Wahrheit hat.
Man kann diese Realität, diese Wahrheit dann instrumentalisieren; man macht von seinem Besitz Gebrauch. Perspektivität, ja Parteilichkeit wird verordnet und im Extremfall erzwungen. Kurz, die Erkenntnis verliert ihr Eigengewicht; sie wird in den Dienst des Interesses gestellt. Dies will ich in der jetzigen Folge weiter beleuchten.
Erkenntnis im Dienst von Interesse hört auf, Erkenntnis zu sein. Der Kommunismus mit seiner Instrumentalisierung der Wahrheit ist dafür ein besonders empörendes Beispiel, aber gewiß nicht das einzige. Der Sachverhalt tritt in unzähligen Varianten auf.
Das gegenwärtig vielbeklagte Phänomen, daß die Menschen das Vertrauen in die Politik verloren hätten, hat, beispielsweise, damit zu tun. Es gehört zu den Regeln des politischen Spiels, daß jeder die Dinge so darstellt, wie es seinen - den von ihm vertretenen - Interessen entspricht. Es gehört auch zu diesen Regeln, daß er das nicht sagt, sondern vorgibt, einfach die Wahrheit zu sagen. Er verbirgt sein Interesse hinter dem, was er für objektiv notwendig, für sachlich geboten erklärt.
Das dürfte zu allen Zeiten so gewesen sein. Möglicherweise tritt es heute aber sichtbarer zutage, weil das Spiel einerseits perfekter, andererseits aber auch offener gespielt wird.
Ähnlich wie die moderne kommerzielle Werbung beim Adressaten die Erkenntnis voraussetzt, er solle verführt werden, und sie mit dieser Situation spielt, scheint auch die politische Reklame auf dem Weg zu einer Ästhetisierung ihrer Botschaft zu sein. So als wolle man den Wähler zu der Einsicht bringen: Da alle ohnehin dieselbe Politik machen, laßt uns doch den wählen, der sie am ansprechendsten verkauft.
Die tapsige Raffinesse früherer Politiker wirkt dagegen fast schon anheimelnd. Ihr politisches Spiel glich den Trickaufnahmen in einem alten Film, die sich gegenüber der Realität des übrigens Films sofort als unecht entlarvten; während die heutige Vermarktung von Politik einem modernen Science- Fiction- Film ähnelt, in dem sich die Frage nach der Trickaufnahme gar nicht mehr stellt, weil alles, ob Trick oder echt, ohnehin aus demselben Computer kommt.
Viele Menschen reagieren darauf mit einem grundlegenden Mißtrauen gegenüber allem, was öffentlich verlautbart wird. Diesem nicht unberechtigten Mißtrauen korrespondiert eigenartigerweise eine große Bereitschaft, die abstrusesten Behauptungen zu glauben, wenn sie aus gewissermaßen inoffiziellen Quellen stammen.
Das reicht von den zahllosen Verschwörungstheorien (siehe dazu die Serie in diesem Blog) zum Mord an Kennedy über die Ufologie bis zum Glauben an die Wirksamkeit der Bach- Blüten- Therapie. Diejenigen, die ihren Regierungen, die der Industrie, die der Wissenschaft und die den Medien nicht glauben, weil sie hinter dem, was diese als Wahrheit ausgeben, Interessen vermuten - dieselben Menschen sind eigenartigerweise bereit, dem, was Scharlatane, Phantasten und Dummköpfe aus durchsichtigem eigenen Interesse als Wahrheit deklarieren, nahezu kritiklos Glauben zu schenken.
Es ist, als würde man aus der Erkenntnis, daß die Mächtigen ihre Interessen als Wahrheit verkaufen, den Umkehrschluß ziehen, daß das, was die Ohnmächtigen behaupten, interessefreie Wahrheit sei.
Ob man die Wahrheit für bestimmte Ziele instrumentalisieren darf, ist - das versteht sich - eine alte Frage. Zu denen, die sie am gründlichsten diskutiert haben, gehört Arthur Schopenhauer.
Im fünfzehnten Kapitel des zweiten Bandes von "Parerga und Paralimpomena", seinen gesammelten Kleinen Schriften, benutzt Schopenhauer unter der Überschrift "Über Religion" ein Stilmittel, das er meines Wissens in keiner anderen Schrift eingesetzt hat: Er läßt zwei fiktive Personen auftreten, Philalethes und Demopheles, also zu deutsch den Wahrheitsfreund und den Fürsprecher des Volkes. Sie disputieren über Religion.
Schopenhauer war bekanntlich Atheist. Die beiden Personen, in die er sich hier aufspaltet, streiten also nicht für oder wider Religion in dem Sinn, daß einer ihr Anhänger und der andere ihr Gegner wäre. Daß ein intelligenter und philosophisch gebildeter Mensch nicht einer Religion anhängen kann, setzen sie gemeinsam voraus. Vielmehr geht es darum, ob die Religion dem weniger gebildeten Volk nicht trotzdem nahegebracht werden müsse, um es zur Sittlichkeit anzuhalten und um das dem Menschen eigene metaphysische Bedürfnis zu befriedigen.
Die beiden Disputanten setzen sich fair auseinander. Es ist offensichtlich, daß Schopenhauer jedem der beiden eine vernünftige und mit guten Argumenten begründbare Position zubilligt. Am Ende läuft es aber doch auf ein eindeutiges Ergebnis hinaus. Philalethes setzt sich durch mit dem zentralen Argument "Kein Irrthum aber ist unschädlich; sondern jeder wird früher oder später Dem, der ihn hegt, Unheil bereiten". Kein noch so guter Zweck rechtfertigt nach Schopenhauers Überzeugung die pia fraus, die fromme Lüge.
In einer anderen seiner kleinen Arbeiten, der "Skizze der Lehre vom Idealen und Realen", kommentiert Schopenhauer die Schriften von Fichte, Hegel und Schelling. Er tut das in einem Anhang zu dem Aufsatz, um diese Autoren noch nicht einmal äußerlich in die Nähe von Philosophen wie Descartes, Locke oder Kant zu rücken, mit denen er sich zuvor befaßt hat. Einer Auseinandersetzung würdigt er diese drei nämlich nicht.
Sie sind für ihn "bloße Sophisten: sie wollen scheinen, nicht seyn ... Daß sie ... in der Philosophie nichts Wirkliches leisten konnten, lag, im letzten Grunde, daran, daß IHR INTELLEKT NICHT FREI GEWORDEN, sondern im Dienst des WILLENS geblieben war; da kann er zwar für diesen und dessen Zwecke außerordentlich viel leisten, für die Philosophie hingegen, wie für die Kunst, nichts. Denn diese machen gerade zur ersten Bedingung, daß der Intellekt nur aus eigenem Antrieb thätig sei und, für die Zeit dieser Thätigkeit, aufhöre, dem Willen dienstbar zu seyn, d.h. die Zwecke der eigenen Person im Auge zu haben. Er selbst aber, wenn allein aus eigenem Triebe thätig, kennt, seiner Natur nach, keinen anderen Zweck, als eben nur den der Wahrheit".
Wie kaum ein anderer Philosoph des 19. Jahrhunderts war Schopenhauer sensibel für eine solche Inanspruchnahme der Erkenntnis durch Interesse (sieht man von Nietzsche ab, der davon freilich fasziniert war). Als der große Verehrer Kants sah er mit Abscheu, wie Fichte und Hegel Kants Idealismus aus seiner Sicht ruinierten, indem sie aus dem strengen transzendentalen einen gewissermaßen libertären subjektiven Idealismus hervorzauberten.
Was Kant als Grenzen der Erkenntnis analysiert hatte - ihre Bedingtheit durch Anschauungsformen und die Kategorien unseres Verstands -, verdrehte dieser subjektive Idealismus zu Freiheiten der Subjektivität: In den Begriffen entfaltet sich die Wirklichkeit, das Ich setzt die Welt.
Man kann das durchaus als die idealistische Variante des postmodernen "Anything goes" sehen; und gewiß ist es kein Zufall, daß Fichte sich politisch engagierte und daß Hegel eine gewaltige Anziehungskraft auf Politiker ausübte, die es nach einer philosophischen Untermauerung ihres politischen Wollens verlangte. Wer als Politiker die Welt verändern will, der wird leicht Affinität zu einer Philosophie empfinden, die die Welt als Hervorbringung des Menschen versteht.
Das ist sie aber nicht. Religionen mögen menschliche Hervorbringungen sein; Ideologien sind es sicher. Der Realität aber, so wie sie sich der Wissenschaft erschließt, fehlt diese Beliebigkeit.
Die heidnischen Religionen der Antike sind vergangen. Aber die Euklidische Geometrie hat ihre Gültigkeit nicht verloren; wenngleich sie natürlich erweitert wurde. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften sind kumulativ; das Frühere wird aufgenommen und weiterentwickelt, manchmal auch modifiziert.
Es ist ein kontinuierlicher Erkenntisprozeß, in dem das geschieht. Demokrits Atomistik ist eine frühe Wurzel der modernen Physik, und die Methode, mit der Eratosthenes im drittten vorchristlichen Jahrhundert den Umfang der Erde bestimmte, hat noch immer ihre Gültigkeit.
In den Wissenschaften werden nicht je eigene Realitäten konstruiert, sondern man arbeitet gemeinsam - jeder auf den Schultern der Vorausgehenden stehend, jeder angewiesen auf die Zusammenarbeit mit seinen Zeitgenossen - an der Erkenntnis der einen, der einzigen Realität.
Erkenntnis der Realität ist eben etwas anderes als Meinen; so, wie schon im sinnlichen Erkennen sich Wahrnehmung und Täuschung unterscheiden lassen. Darum geht es in der nächsten Folge.
Hier die Gliederung der Serie. Bereits erschienene Folgen sind jeweils verlinkt.
Der Ausgangspunkt ist ein unstreitiger Sachverhalt: Unser Bild der Welt ist weithin kulturell vermittelt. Was wir wissen, das wissen wir ganz überwiegend nicht aus eigener sinnlicher Erfahrung, sondern wir haben es erfahren, wir haben es gelernt, es ist uns beigebracht und mitgeteilt worden.
Wenn also die Realität uns in so großem Maß nur durch die Kultur bekannt ist - ist sie dann nicht vielleicht auch nur ein Erzeugnis der Kultur? Bestehend aus Konstrukten, aus Narratives, aus gemeinsamen Annahmen und Überzeugungen, die aber von Kultur zu Kultur verschieden sind?
Ob das eine haltbare Position ist, habe ich vorerst offen gelassen und zunächst nur darauf hingewiesen, welche eigenartige und bedenkliche Dialektik dieser Haltung innewohnt:
Wenn es so viele gleichwertige Realitäten gibt wie Kulturen und Communities, dann scheint das auf den ersten Blick eine große Toleranz zu begründen. Denn Jeder ist sich ja bewußt (oder sollte es jedenfalls sein), daß andere Weltsichten genauso berechtigt sind wie seine eigene. Also sollte er diese respektieren.
Zu beobachten ist aber, daß diese Toleranz leicht in Intoleranz umschlägt.
Indem die Realität zum Erzeugnis einer Kultur deklariert wird, wird sie in ihrer jeweiligen Gestalt auch sozusagen zum Besitz dieser Kultur. Verbindlich für ihre Mitglieder, so wie es religöse Wahrheiten sind. Kritik wird abgewiesen; man immunisiert sich dagegen. Diskussionen sind ja auch im Grunde sinnlos, wenn jede Kultur und Community ihre eigene Wahrheit hat.
Man kann diese Realität, diese Wahrheit dann instrumentalisieren; man macht von seinem Besitz Gebrauch. Perspektivität, ja Parteilichkeit wird verordnet und im Extremfall erzwungen. Kurz, die Erkenntnis verliert ihr Eigengewicht; sie wird in den Dienst des Interesses gestellt. Dies will ich in der jetzigen Folge weiter beleuchten.
Erkenntnis im Dienst von Interesse hört auf, Erkenntnis zu sein. Der Kommunismus mit seiner Instrumentalisierung der Wahrheit ist dafür ein besonders empörendes Beispiel, aber gewiß nicht das einzige. Der Sachverhalt tritt in unzähligen Varianten auf.
Das gegenwärtig vielbeklagte Phänomen, daß die Menschen das Vertrauen in die Politik verloren hätten, hat, beispielsweise, damit zu tun. Es gehört zu den Regeln des politischen Spiels, daß jeder die Dinge so darstellt, wie es seinen - den von ihm vertretenen - Interessen entspricht. Es gehört auch zu diesen Regeln, daß er das nicht sagt, sondern vorgibt, einfach die Wahrheit zu sagen. Er verbirgt sein Interesse hinter dem, was er für objektiv notwendig, für sachlich geboten erklärt.
Das dürfte zu allen Zeiten so gewesen sein. Möglicherweise tritt es heute aber sichtbarer zutage, weil das Spiel einerseits perfekter, andererseits aber auch offener gespielt wird.
Ähnlich wie die moderne kommerzielle Werbung beim Adressaten die Erkenntnis voraussetzt, er solle verführt werden, und sie mit dieser Situation spielt, scheint auch die politische Reklame auf dem Weg zu einer Ästhetisierung ihrer Botschaft zu sein. So als wolle man den Wähler zu der Einsicht bringen: Da alle ohnehin dieselbe Politik machen, laßt uns doch den wählen, der sie am ansprechendsten verkauft.
Die tapsige Raffinesse früherer Politiker wirkt dagegen fast schon anheimelnd. Ihr politisches Spiel glich den Trickaufnahmen in einem alten Film, die sich gegenüber der Realität des übrigens Films sofort als unecht entlarvten; während die heutige Vermarktung von Politik einem modernen Science- Fiction- Film ähnelt, in dem sich die Frage nach der Trickaufnahme gar nicht mehr stellt, weil alles, ob Trick oder echt, ohnehin aus demselben Computer kommt.
Viele Menschen reagieren darauf mit einem grundlegenden Mißtrauen gegenüber allem, was öffentlich verlautbart wird. Diesem nicht unberechtigten Mißtrauen korrespondiert eigenartigerweise eine große Bereitschaft, die abstrusesten Behauptungen zu glauben, wenn sie aus gewissermaßen inoffiziellen Quellen stammen.
Das reicht von den zahllosen Verschwörungstheorien (siehe dazu die Serie in diesem Blog) zum Mord an Kennedy über die Ufologie bis zum Glauben an die Wirksamkeit der Bach- Blüten- Therapie. Diejenigen, die ihren Regierungen, die der Industrie, die der Wissenschaft und die den Medien nicht glauben, weil sie hinter dem, was diese als Wahrheit ausgeben, Interessen vermuten - dieselben Menschen sind eigenartigerweise bereit, dem, was Scharlatane, Phantasten und Dummköpfe aus durchsichtigem eigenen Interesse als Wahrheit deklarieren, nahezu kritiklos Glauben zu schenken.
Es ist, als würde man aus der Erkenntnis, daß die Mächtigen ihre Interessen als Wahrheit verkaufen, den Umkehrschluß ziehen, daß das, was die Ohnmächtigen behaupten, interessefreie Wahrheit sei.
Ob man die Wahrheit für bestimmte Ziele instrumentalisieren darf, ist - das versteht sich - eine alte Frage. Zu denen, die sie am gründlichsten diskutiert haben, gehört Arthur Schopenhauer.
Im fünfzehnten Kapitel des zweiten Bandes von "Parerga und Paralimpomena", seinen gesammelten Kleinen Schriften, benutzt Schopenhauer unter der Überschrift "Über Religion" ein Stilmittel, das er meines Wissens in keiner anderen Schrift eingesetzt hat: Er läßt zwei fiktive Personen auftreten, Philalethes und Demopheles, also zu deutsch den Wahrheitsfreund und den Fürsprecher des Volkes. Sie disputieren über Religion.
Schopenhauer war bekanntlich Atheist. Die beiden Personen, in die er sich hier aufspaltet, streiten also nicht für oder wider Religion in dem Sinn, daß einer ihr Anhänger und der andere ihr Gegner wäre. Daß ein intelligenter und philosophisch gebildeter Mensch nicht einer Religion anhängen kann, setzen sie gemeinsam voraus. Vielmehr geht es darum, ob die Religion dem weniger gebildeten Volk nicht trotzdem nahegebracht werden müsse, um es zur Sittlichkeit anzuhalten und um das dem Menschen eigene metaphysische Bedürfnis zu befriedigen.
Die beiden Disputanten setzen sich fair auseinander. Es ist offensichtlich, daß Schopenhauer jedem der beiden eine vernünftige und mit guten Argumenten begründbare Position zubilligt. Am Ende läuft es aber doch auf ein eindeutiges Ergebnis hinaus. Philalethes setzt sich durch mit dem zentralen Argument "Kein Irrthum aber ist unschädlich; sondern jeder wird früher oder später Dem, der ihn hegt, Unheil bereiten". Kein noch so guter Zweck rechtfertigt nach Schopenhauers Überzeugung die pia fraus, die fromme Lüge.
In einer anderen seiner kleinen Arbeiten, der "Skizze der Lehre vom Idealen und Realen", kommentiert Schopenhauer die Schriften von Fichte, Hegel und Schelling. Er tut das in einem Anhang zu dem Aufsatz, um diese Autoren noch nicht einmal äußerlich in die Nähe von Philosophen wie Descartes, Locke oder Kant zu rücken, mit denen er sich zuvor befaßt hat. Einer Auseinandersetzung würdigt er diese drei nämlich nicht.
Sie sind für ihn "bloße Sophisten: sie wollen scheinen, nicht seyn ... Daß sie ... in der Philosophie nichts Wirkliches leisten konnten, lag, im letzten Grunde, daran, daß IHR INTELLEKT NICHT FREI GEWORDEN, sondern im Dienst des WILLENS geblieben war; da kann er zwar für diesen und dessen Zwecke außerordentlich viel leisten, für die Philosophie hingegen, wie für die Kunst, nichts. Denn diese machen gerade zur ersten Bedingung, daß der Intellekt nur aus eigenem Antrieb thätig sei und, für die Zeit dieser Thätigkeit, aufhöre, dem Willen dienstbar zu seyn, d.h. die Zwecke der eigenen Person im Auge zu haben. Er selbst aber, wenn allein aus eigenem Triebe thätig, kennt, seiner Natur nach, keinen anderen Zweck, als eben nur den der Wahrheit".
Wie kaum ein anderer Philosoph des 19. Jahrhunderts war Schopenhauer sensibel für eine solche Inanspruchnahme der Erkenntnis durch Interesse (sieht man von Nietzsche ab, der davon freilich fasziniert war). Als der große Verehrer Kants sah er mit Abscheu, wie Fichte und Hegel Kants Idealismus aus seiner Sicht ruinierten, indem sie aus dem strengen transzendentalen einen gewissermaßen libertären subjektiven Idealismus hervorzauberten.
Was Kant als Grenzen der Erkenntnis analysiert hatte - ihre Bedingtheit durch Anschauungsformen und die Kategorien unseres Verstands -, verdrehte dieser subjektive Idealismus zu Freiheiten der Subjektivität: In den Begriffen entfaltet sich die Wirklichkeit, das Ich setzt die Welt.
Man kann das durchaus als die idealistische Variante des postmodernen "Anything goes" sehen; und gewiß ist es kein Zufall, daß Fichte sich politisch engagierte und daß Hegel eine gewaltige Anziehungskraft auf Politiker ausübte, die es nach einer philosophischen Untermauerung ihres politischen Wollens verlangte. Wer als Politiker die Welt verändern will, der wird leicht Affinität zu einer Philosophie empfinden, die die Welt als Hervorbringung des Menschen versteht.
Das ist sie aber nicht. Religionen mögen menschliche Hervorbringungen sein; Ideologien sind es sicher. Der Realität aber, so wie sie sich der Wissenschaft erschließt, fehlt diese Beliebigkeit.
Die heidnischen Religionen der Antike sind vergangen. Aber die Euklidische Geometrie hat ihre Gültigkeit nicht verloren; wenngleich sie natürlich erweitert wurde. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften sind kumulativ; das Frühere wird aufgenommen und weiterentwickelt, manchmal auch modifiziert.
Es ist ein kontinuierlicher Erkenntisprozeß, in dem das geschieht. Demokrits Atomistik ist eine frühe Wurzel der modernen Physik, und die Methode, mit der Eratosthenes im drittten vorchristlichen Jahrhundert den Umfang der Erde bestimmte, hat noch immer ihre Gültigkeit.
In den Wissenschaften werden nicht je eigene Realitäten konstruiert, sondern man arbeitet gemeinsam - jeder auf den Schultern der Vorausgehenden stehend, jeder angewiesen auf die Zusammenarbeit mit seinen Zeitgenossen - an der Erkenntnis der einen, der einzigen Realität.
Erkenntnis der Realität ist eben etwas anderes als Meinen; so, wie schon im sinnlichen Erkennen sich Wahrnehmung und Täuschung unterscheiden lassen. Darum geht es in der nächsten Folge.
Hier die Gliederung der Serie. Bereits erschienene Folgen sind jeweils verlinkt.
1. Eine Frage der "Zeit". Ein paar Happen Philosophie
2. Ein Alptraum. Vom Träumen überhaupt
3. Fiktion und Realität. Fiktive Realitäten
4. Realität als Konsens. Cues und distales Fokussieren
5. Postmoderne Toleranz. Postmoderne Intoleranz
6. Erkenntnis und Interesse. Fromme Lügen
7. Erkenntnistheorie und Wahrnehmungspsychologie
8. Wissenschaftliche Erkenntnis
Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen der Serie sowie eine Zusammenfassung finden Sie hier. Titelvignette: Alice im Wunderland. Frei, weil das Copyright erloschen ist.