25. Januar 2009

Realität in acht Päckchen (5): Postmoderne Toleranz. Postmoderne Intoleranz

Die Realität, in der wir leben, ist, wie im vierten Teil beschrieben, ganz überwiegend eine Realität aus zweiter, aus dritter Hand.

Aus eigener Erfahrung kennen wir nur einen kleinen Teil dessen, was unsere Realität ausmacht - die eigene private und berufliche Welt, die Gegenden, die man bereist hat; von der Natur das Wenige, wovon wir uns mit eigenen Augen überzeugt haben. Wie die bekanntesten Tiere und Pflanzen aussehen; was passiert, wenn man Licht durch ein Prisma schickt, dergleichen. Das meiste aber haben wir von anderen: Aus Büchern und Filmen, aus dem TV; zunehmend aus dem Internet.

Die zeitliche Dimension unserer Realität, sofern sie über die eigene Biografie hinausreicht - die Geschichte also - stammt aus dem Schulunterricht, vielleicht aus dieser und jener Lektüre; gelegentlich aus Erzählungen (oral history) und aus dem, was die Medien uns an Dokumentationen bieten. Aber auch unsere Lehrer, auch die Autoren der Bücher und TV-Produktionen haben es überwiegend nicht selbst erlebt. Sie stützen sich auf Quellen; meist sekundäre, die ihrerseits auf Quellen zurückgehen.

Nicht anders ist es mit der räumlichen Realität. Was wir über die Welt wissen - die "Welt", verstanden als die Gegenden unseres Globus -, das ist ganz überwiegend nicht Erlebtes, sondern Gelerntes. Erst recht gilt das für die "Welt" im Sinn der Realität, wie die Physik sie beschreibt. Da sind wir fast zur Gänze auf das angewiesen, was uns Lehrer sagen, was in Büchern steht, was die Medien vermitteln.

Kurz, die Realität, in der wir leben, verdanken wir im wesentlichen unserer Kultur. Wir erleben sie als eine physische Realität, aber wir erfahren sie nicht physisch. Realität ist das, was unsere Kultur uns als Realität vermittelt.

Hat also Ulrich Schnabel nicht doch recht, wenn er - siehe den ersten Teil - konstatiert: "Vielleicht lautet die beste Antwort auf die Frage nach der Realität daher einfach so: Realität ist stets das, was wir dafür halten"?

"Wir" - das sind die Angehörigen der jeweiligen Kultur. Wenn Realität durch Kultur konstituiert wird, dann wird sie durch die je spezifische Kultur konstituiert, der jemand angehört. Jede Kultur hält etwas anderes für Realität. Wenn Realität allein dadurch entsteht, daß etwas innerhalb einer Kultur für real gehalten wird, gibt es dann nicht so viele Realitäten, wie es Kulturen gibt?

Ist Realität also das, was eine Gesellschaft, eine Religion oder eine Weltanschauung zur Realität erklärt? Ist, pointiert gesagt, der kollektive Wahn das Beste, das sich der individuellen Paranoia entgegensetzen läßt? Viele Menschen, die sich vom postmodernen Denken angezogen fühlen, scheinen das heutzutage zu meinen.



Ersparen Sie es mir, zu definieren, was eigentlich "postmodernes Denken" ist. Man kann das vermutlich nur definieren, wenn man postmodern denkt.

Das Konzept ist so diffus wie dieses postmoderne Denken selbst. Wie auch immer - jedenfalls richtet es sich gegen die "Moderne" (die freilich überwiegend diejenige des 19. Jahrhunderts ist!) mit ihrem Rationalismus, ihrer Überzeugtheit von der Existenz unumstößlicher Wahrheiten, ihrem Gestus der Aufklärung, ihrem Glauben an stetigen Fortschritt.

Mit anderen Worten: Der Postmodernismus ist eine Gegenbewegung gegen die Kultur des aufgeklärten, rational und insbesondere wissenschaftlich denkenden weißen Mannes.

In unserem jetzigen Kontext ist an diesem postmodernen Denken interessant, daß es zum Relativismus tendiert; und speziell zu einem kulturellen Relativismus. Das speist sich teils aus ethnologischen Untersuchungen (die Theorien von Franz Boas und Benjamin Whorf, die Feldstudien von Margaret Mead haben eine große Rolle gespielt). Teils hat es auch seine Wurzeln in der Philosophie und vor allem der Soziologie. Es ist im Kern soziologistisches Denken.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat es Versuche gegeben, Wissenschaften wie die Mathematik psychologisch zu begründen; Jean Piaget hat das auf andere Art ins 20. Jahrhundert hinein fortgesetzt. Dieser Ansatz wurde von seinen Gegnern als Psychologismus bezeichnet; Edmund Husserl war der wichtigste dieser Kritiker. Er vor allem hat das Wort Psychologismus bekannt gemacht.

Seine Kritik und die anderer war so erfolgreich, daß vom Psychologismus wenig geblieben ist. An seine Stelle ist der Soziologismus getreten.

Der Psychologismus wollte zeigen, daß hinter allen (oder jedenfalls bestimmten) Wissenschaften "letztlich" Psychologisches steckt; daß die Mathematik zum Beispiel die Gesetze unseres Denkens widerspiegelt. Ähnlich versucht der Soziologismus, die Wissenschaften "letztlich" auf Gesellschaftliches zurückzuführen.

Dabei begnügt man sich nicht damit (wie zum Beispiel Peter L. Berger und Thomas Luckmann in ihrem immens einflußreichen Buch "The Social Construction of Reality"), die soziale Realität als ein Konstrukt zu interpretieren. Sondern jede Realität, die von irgendeiner Wissenschaft beschrieben wird, sei eigentlich nichts anderes als ein soziales Konstrukt.

Das geht schon recht weit; arg weit geht es.

Bis beispielsweise hinein in die Teilchenphysik. Andrew Pickering hat es unternommen, sie zu soziologisieren: "Constructing Quarks. A Sociological History of Particle Physics" (Die Konstruktion von Quarks. Eine soziologische Geschichte der Teilchenphysik). Und mit ihrem Konzept der "Wissenskulturen" (epistemic cultures) meint Karin Knorr- Cetina nicht etwa Kulturen, in denen das Wissen eine große Rolle spielt, sondern das, was man üblicherweise Scientific Communities nennt - also beispielsweise die Gemeinschaft der Molekularbiologen. Diese versteht sie als Kulturen, die ihre je eigene Realität produzieren; wie es eben jede Kultur tut.

Am Plakativsten haben vielleicht Bruno Latour und Steve Woolgar diesen Standpunkt im Titel ihres Buchs formuliert: "Laboratory Life. The social construction of scientific facts" - "Das Leben im Labor. Die soziale Konstruktion wissenschaftlicher Tatsachen"; ein bewußter Anklang an Arbeiten von Ethnologen, die über das Leben eines Stamms berichten, der sich seine eigene Welt konstruiert.

Eigentlich hätten die beiden Autoren "Tatsachen" in Anführungszeichen setzen müssen; denn ihr Anliegen ist es, zu zeigen, daß das, was als objektive Tatsachen verkauft wird, in Wahrheit nichts anderes sei als inscriptions (Inschriften), auf die sich eine Gruppe von Wissenschaftlern verständigt. Genauso, wie eben für einen Stamm in Neuguinea ein bestimmter Schöpfungs- Mythos sich in den betreffenden Inschriften ausdrückt.



Das sind wissenschaftssoziologische Untersuchungen, die als solche durchaus ihre Verdienste haben mögen.

Ihre Sichtweise ist aber zu so etwas wie einer populären Wissenschaftstheorie geworden. Man triff sie zunehmend beispielsweise bei Studenten an: Realität sei eben ein Konstrukt. Jede Kultur, jede Zeit habe ihre eigene Wahrheit und damit ihre eigene Wirklichkeit. Vor allem "alternatives" Denken aller Art wird damit gerechtfertigt; es stünde auf derselben Stufen wie "etablierte Wissenschaft". Eben nichts als ein anderes Konstrukt.

Es kommt mir so vor, als habe die Attraktivität dieses Gedankens auch etwas damit zu tun, daß er zu einer moralisch erfreulichen Konsequenz zu führen scheint; nämlich einer Aufforderung zur Toleranz, ja der Aufforderung zu einer nachgerade grenzenlosen Toleranz, die allen ihre eigene Wahrheit läßt.

Relativismus ist eine, sagen wir, friedfertige Weltanschauung; so scheinen viele es zu glauben. Deshalb finden sie Gefallen an ihr. Wahr ist der soziologistische Relativismus, meinen sie, aber auch gut - vielleicht sogar schön, denn was könnte es Harmonischeres geben als eine Welt, in der jede community ihre eigene Perspektive entfaltet, und in der alle die Perspektiven aller gelten lassen?

So ganz harmonisch doch nicht. Es gibt da eine eigenartige Dialektik in manchen Strömungen postmodernen Denkens: Diejenigen, die Toleranz einfordern, tun das, so scheint mir, hauptsächlich mit dem Anliegen, ihrer eigenen Wahrheit Geltung zu verschaffen.

Die feministische Geschichtsschreibung möchte als gleichberechtigt neben der offiziellen, "männlich dominierten" Historie Geltung finden (her story statt history); die alternative Medizin neben dem, was sie Schulmedizin nennt; Ufologen und Astrologen möchten als ernst zu nehmende Forscher anerkannt werden. Eine marxistische Wissenschaft soll zur "bürgerlichen" hinzutreten. In den USA möchten sich afro-, latino- und nativ- amerikanische Kulturen mit gleichen Rechten neben der Kultur der toten weißen Männer etablieren.

Wenig Toleranz zeigen diese Strömungen aber oft, was die Beurteilung der eigenen Wahrheit durch andere angeht. Kritik wird als Angriff verstanden, den man abwehren muß.

Eine häufige Abwehrstrategie besteht darin, daß innerhalb der eigenen Weltsicht Kritiker gewissermaßen vorgesehen sind. Ihre Kritik wird erklärt, nicht beantwortet.

Das klassische Beispiel ist die marxistische Lehre von der Ideologie als falschen Bewußtsein. Zum Wesen der kapitalistischen Herrschaft gehört es nach diese Lehre, daß die Menschen über ihre wahre Lage getäuscht werden. Wer sich der marxistischen Wahrheit verweigert, der braucht also nicht widerlegt zu werden. Man muß nur sein falsches Bewußtsein entlarven.

Ähnlich wird der sogenannten Schulmedizin von Anhängern der alternativen Medizin unterstellt, sie sei in dogmatischem Denken befangen. Feministische Autorinnen machen gelegentlich Unterschiede im männlichen und weiblichen Denken dafür verantwortlich, daß Kritiker sich nicht von ihren Wahrheiten überzeugen lassen. (Verschließen sich auf Frauen feministischen Einsichten, dann haben sie sich noch nicht von männlichem Denken befreit). Anhänger der afro- amerikanischen Kultur sprechen von einem schwarzen Fühlen, das Weiße nicht nachvollziehen können. Eine Auseinandersetzung erübrigt sich in allen diesen Fällen.



Ich fürchte, eine solche Haltung gegenüber Andersdenkenden liegt im Wesen postmoderner Toleranz. Wenn es ohnehin keine gemeinsame, für alle verbindliche Wahrheit gibt, wenn Realität ein Konstrukt der jeweiligen Kultur oder Gruppe ist, dann stellt sich in Bezug auf die Wahrheit der anderen nicht mehr die Frage, ob diese nicht vielleicht recht haben könnten. Aus ihrer Perspektive ja, aber aus der eigenen eben nicht. Eine Auseinandersetzung, gar ein rationaler Diskurs ist dann nicht mehr sinnvoll.

Die Toleranz, die man einfordert, solange man in der schwächeren Position ist, kann damit leicht in Intoleranz umschlagen, wenn sich die Machtverhältnisse ändern. Die Wahrheit, die einer Gesellschaft, einer Klasse oder einer gesellschaftlichen Gruppe eigen ist, wird zu ihrem Eigentum; zum Instrument, mit dem sie sich durchzusetzen und zu behaupten versucht; mindestens gegenüber abtrünnigen oder auch nur skeptischen Mitgliedern der eigenen Gruppe.

Im Marxismus (jedenfalls sofern er an der Macht ist) wurde und wird diese Instrumentalisierung der Realität ganz unverhohlen betrieben. Die Retuschen, mit denen zur Zeit des Stalinismus und Maoismus Personen von Fotos entfernt oder auf ihnen hinzugefügt wurden, waren nur der offenkundigste, sicher auch der lächerlichste Ausdruck dieser Einstellung. Parteilichkeit im Umgang mit der Wahrheit herrscht auch in weniger drastischen Fällen, ja sie wird vom gläubigen Marxisten geradezu gefordert. "Objektivismus" gehört zu den schlimmsten Vorwürfen, denen sich ein Kommunist von seiten seiner Partei aussetzen kann.

Gewiß, das war ein Extremfall. Aber jede Spielart des Soziologismus, jeder Form einer Relativierung wissenschaftlicher Aussagen als Ausdruck des "Denkens einer Gruppe" legt es nahe, die damit verbundene Parteilichkeit nicht nur zu konstatieren, sondern auch einzufordern und gegebenenfalls durchzusetzen.

Anders gesagt: Wenn Erkenntnis relativ ist, dann fehlt ihr das Eigengewicht. Dann wird sie leicht zu einem Instrument des Interesses. Das ist das Thema der nächsten Folge.



Hier die Gliederung der Serie. Bereits erschienene Folgen sind jeweils verlinkt.
1. Eine Frage der "Zeit". Ein paar Happen Philosophie
2. Ein Alptraum. Vom Träumen überhaupt
3. Fiktion und Realität. Fiktive Realitäten
4. Realität als Konsens. Cues und distales Fokussieren
5. Postmoderne Toleranz. Postmoderne Intoleranz
6. Erkenntnis und Interesse. Fromme Lügen
7. Erkenntnistheorie und Wahrnehmungspsychologie
8. Wissenschaftliche Erkenntnis


Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen der Serie sowie eine Zusammenfassung finden Sie hier. Titelvignette: Alice im Wunderland. Frei, weil das Copyright erloschen ist.