11. Dezember 2009

Gedanken zu Frankreich (33): Die Debatte über nationale Identität wird heftiger. Eine kleine Hommage an Jean Daniel

Weitgehend unbeachtet von den deutschen Medien läuft seit Monaten in Frankreich eine Debatte über nationale Identität. Über ihren Beginn habe ich im Oktober berichtet; in der vorausgehenden Folge dieser Serie. Daß sie eine derartige Heftigkeit annehmen würde, wie es sich jetzt abzeichnet, hatte ich nicht erwartet. Der aktuelle Nouvel Observateur mit Datum vom 10. 12. widmet ihr seine Titelgeschichte.

Der Minister Eric Besson steht dem Ministère de l'immigration, de l'integration, de l'identité nationale de du developpement solidaire vor, dem Ministerium für Einwanderung, Integration, nationale Identität und solidarische Entwicklung.

Eric Besson ist ein früherer Linker. Die Linke sieht ihn als Überläufer. Die Rechte sieht ihn als jemanden, der sich von seinen Irrtümern lösen konnte. Dieser Minister hat Veranstaltungen zum Thema der nationalen Identität in ganz Frankreich angeordnet. Schon das würde genügen, die Debatte anzuheizen.

Zentral aber geht es um ein Thema, das wir in Deutschland bisher unter der Decke gehalten haben: Wieviel Assimilation muß man von Einwanderern erwarten? Wieviel Abweichung von der Kultur der Mehrheit sollte man ihnen zugestehen?

Im Nouvel Observateur gibt es dazu eine einigermaßen miese Geschichte über Besson von Agathe Logeart und Ariane Chemin, die sich auf das Privatleben von Besson konzentriert. Indiskutabel.

Es gibt aber auch kluge Beiträge zum Thema.

Jean Daniel - nordafrikanischer Jude, in der französischen Kultur verwurzelt, unbeirrbarer Linker- , den ich seit dem Tod von Augstein schätze wie keinen lebenden Journalisten, schreibt in seinem Kommentar
Je maintiens qu'il y a bien eu, en France, un vertige identitaire avec la fin de l'empire colonial, la constitution de l'Europe, la guerre froide, le déclin du général de Gaulle et Mai-68. On avait besoin de faire le bilan. J'ai sur ce point précis, et sur bien d'autres, l'appui non pas de mes proches mais de tous mes amis musulmans. Ce n'est pas la première fois.

Es hat, dabei bleibe ich, in Frankreich mit dem Ende des Kolonialreichs, der Schaffung Europas, dem Kalten Krieg, dem Scheitern des General de Gaulle und des Mai '68 ein nationales Herumirren gegeben. Es mußte eine Bilanz gezogen werden. Ich habe zu diesem Punkt, wie zu nicht wenigen anderen, die Unterstützung nicht nur meiner engen, sondern aller meiner moslemischen Freunde. Das ist nicht das erste Mal.
In der Tat. Es geht ja nicht um Moslems und Christen. Es geht um Aufklärung und Rückständigkeit. Dazu Jean Daniel:
Les élites musulmanes de France sont très conscientes de la nécessité de procéder par étapes pour assurer une adaptation harmonieuse de l'islam à la société française. C'est en France, dans notre pays, que des écrivains, des savants, des universitaires approfondissent le mieux ce problème de la modernisation. (...) Les grands arabisants et islamologues français de confession musulmane sont à la veille d'une réforme quasi luthérienne, mais ils n'ont encore que peu d'audience. La plupart d'entre eux font tout pour favoriser l'émergence d'un islam français et ils comprennent tous que les ondes, mêmes lointaines, d'une virtualité islamiste sont un obstacle.

Die moslemischen Eliten Frankreichs sind sich der Notwendigkeit sehr wohl bewußt, schrittweise vorzugehen, um eine harmonische Anpassung des Islam an die französische Gesellschaft zu erreichen. (...) Die großen Arabisten und Islamisten islamischer Konfession in Frankreich befinden sich am Vorabend einer gewissermaßen lutherischen Reformation, aber es fehlt ihnen noch an Zustimmung. Die meisten tun alles, um die Entstehung eines französischen Islam zu begünstigen. Sie verstehen alle, daß die - auch entfernten - Wellen einer Wirkmächtigkeit des Islamismus ein Hindernis sind.
Jean Daniel, dieser große Aufklärer, der im Juli 89 Jahre wurde, sagt das so gut, daß ich dem nichts mehr hinzufügen will.

Wann werden wir auch in Deutschland verstehen, daß es nicht um die Alternative zwischen einer naiv- romantischen Multikulti- Ideologie und einer Ablehnung des Islam geht, sondern darum, den Islam in unsere - ihm weit überlegene - Kultur zu integrieren?


© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Eugène Delacroix, La Liberté guidant le peuple (1830); Ausschnitt. Mit Dank an Gorgasal, der mich auf eine ungenaue Übersetzung aufmerksam gemacht hat.