1. Dezember 2009

Marginalie: "Seelische Erhebung" an den Sonntagen des Advent? Über die Weltfremdheit des Grundgesetzes. Nebst einem Nachtrag

Seit gut zwei Stunden melden es die Agenturen. In der Fassung von FAZ.Net:
Die großzügige Regelung zur Ladenöffnung an Sonntagen im Land Berlin ist teilweise verfassungswidrig. Die Freigabe aller vier Adventssonntage verstößt gegen den besonderen Sonntagsschutz im Grundgesetz, hat das Bundesverfassungsgericht am Dienstag in Karlsruhe entschieden. (...) "Gesetzliche Schutzkonzepte müssen erkennbar die Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe zur Regel erheben", sagte Gerichtspräsident Hans- Jürgen Papier bei der Urteilsverkündung.
Als ich das las, war ich zunächst verblüfft. Regelt das Grundgesetz tatsächlich, ob die Berliner an den Sonntagen des Advent einkaufen dürfen?

Ja, es tut das. Artikel 140 GG:
Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.
Artikel 139 der Verfassung vom 11. August 1919:
Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.
Der seelischen Erhebung. So steht es tatsächlich in der Weimarer Verfassung von 1919. So ist es, weil ins Grundgesetz übernommen, auch heute noch geltendes Recht. Das hat das BVerfG mit seinem heutigen Urteil klargestellt.

Aber ist dieses geltende Recht, das 1919 so formuliert wurde, im Jahr 2009 noch vernünftig? Ist es in der heutigen pluralistischen Gesellschaft noch begründbar, daß der Staat es als seine Aufgabe ansieht, "seelische Erhebung" zu ermöglichen, zu befördern, zu schützen?

Die Weimarer Kirchenartikel, die ins GG übernommen wurden, bedeuteten damals vor allem eine Liberalisierung gegenüber der Gesetzeslage im Kaiserreich. Es wurde beispielsweise festgelegt, daß niemand verpflichtet ist, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren (Artikel 136), daß es keine Staatskirche gibt und daß nichtreligiöse Weltanschauungen den Religionen gleichgestellt sind (Artikel 137).

Das "bleiben gesetzlich geschützt" des Artikel 139 setzt dieser Liberalisierung damals gewissermaßen eine Grenze: Auch wenn der säkulare Staat sich nicht in die Angelegenheiten der Religionen einzumischen hat, will er doch gewährleisten, daß diejenigen, die dafür ein Bedürfnis empfinden, für ihre "seelische Erhebung" den arbeitsfreien Sonntag haben.

Mit der heutigen Realität hat das wenig zu tun. Der Sonntag ist für die meisten Menschen nicht mehr ein Tag seelischer Erhebung. Sondern er ist der Tag, an dem Vati der Familie gehört, an dem Mutti Zeit hat, für die ganze Familie ein leckeres Essen zu kochen.

Der Sonntag ist der Tag, an dem man gemeinsam, vielleicht zusammen mit Freunden, etwas unternimmt. An dem man also, je nach Jahreszeit, beispielsweise an den Baggersee fährt, eine Ausstellung besucht oder mal richtig schön Shoppen geht, um Weihnachtsgeschenke auszusuchen.

Das ist es, was für die meisten Menschen heute den Sonntag ausmacht; nicht "innere Erhebung".

Die Entscheidung des BVerfG schützt nicht den Sonntag, sondern sie schränkt die Freude am Sonntag ein.

Sie ist weltfremd, auch wenn das Gericht nicht anders konnte, als so zu entscheiden. Das Grundgesetz sollte in diesem Punkt geändert werden.




Nachtrag am 1. 12., 22 Uhr: Die Leitsätze des Urteils können jetzt hier nachgelesen werden. Sie sind ausgesprochen weitschweifig. Mir scheint die folgende Passage den Kern zu treffen:
Der Schutz des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV ist nicht auf einen religiösen oder weltanschaulichen Sinngehalt der Sonn- und Feiertage beschränkt. Umfasst ist zwar die Möglichkeit der Religionsausübung an Sonn- und Feiertagen. Die Regelung zielt in der säkularisierten Gesellschafts- und Staatsordnung aber auch auf die Verfolgung profaner Ziele wie die der persönlichen Ruhe, Besinnung, Erholung und Zerstreuung. An den Sonn- und Feiertagen soll grundsätzlich die Geschäftstätigkeit in Form der Erwerbsarbeit, insbesondere der Verrichtung abhängiger Arbeit, ruhen, damit der Einzelne diese Tage allein oder in Gemeinschaft mit anderen ungehindert von werktäglichen Verpflichtungen und Beanspruchungen nutzen kann. Geschützt ist damit der allgemein wahrnehmbare Charakter des Tages, dass es sich grundsätzlich um einen für alle verbindlichen Tag der Arbeitsruhe handelt. Die gemeinsame Gestaltung der Zeit der Arbeitsruhe und seelischen Erhebung, die in der sozialen Wirklichkeit seit jeher insbesondere auch im Freundeskreis, einem aktiven Vereinsleben und in der Familie stattfindet, ist insoweit nur dann planbar und möglich, wenn ein zeitlicher Gleichklang und Rhythmus, also eine Synchronität, sichergestellt ist. Auch insoweit kommt gerade dem Sonntag im Sieben-Tage-Rhythmus und auch dem jedenfalls regelhaft landesweiten Feiertagsgleichklang besondere Bedeutung zu. Diese gründet darin, dass die Bürger sich an Sonn- und Feiertagen von der beruflichen Tätigkeit erholen und das tun können, was sie individuell für die Verwirklichung ihrer persönlichen Ziele und als Ausgleich für den Alltag als wichtig ansehen. Die von Art. 139 WRV ebenfalls erfasste Möglichkeit seelischer Erhebung soll allen Menschen unbeschadet einer religiösen Bindung zuteil werden (vgl. BVerfGE 111, 10 <51>).
Schöne Gedanken. Daß sie ein Verbot begründen, an den Adventssonntagen einkaufen zu gehen, kann ich nicht erkennen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.