15. Januar 2008

Marginalie: Eine "explodierende Diskussion". Die Wiederkehr des Verdrängten

Wahrscheinlich überschätzen viele Deutsche den Anteil von Ausländern und Einwanderern an der hiesigen Kriminalität, vor allem der Gewaltkriminalität Jugendlicher.

Überschätzen? Ja, wieso denn? Wie kann das sein, wo doch unsere Medien sich immer große Mühe gegeben haben, diese Kriminalität nicht hochzuspielen? Wo doch Politiker sich gehütet haben, sie zu thematisieren? Sich davor jedenfalls gehütet haben, bis es zu der jetzigen, wie es Stefanie Galla in einem lesenswerten Artikel treffend nennt, "explodierenden Diskussion" gekommen ist?

Wie kann es sein, daß die Menschen etwas überschätzen, was ihnen doch so wenig nahegebracht oder gar aufgedrängt wurde?

Ja eben. Sie überschätzen diese Kriminalität - behaupte ich; Zahlen sind mir nicht bekannt -, gerade weil darüber nicht so ausführlich, nicht so detailliert berichtet wird, jedenfalls bisher wurde, wie beispielsweise über die ähnliche Kriminalität rechtsextremer Gewalttäter.

Denn es gibt keinen besseren Nährboden für Gerüchte als den Eindruck, daß man über ein Thema nicht ehrlich informiert wird.

1947 führten die Harvard- Psychologen Gordon Allport und Leo Postman eine klassische Untersuchung zur Ausbreitung von Gerüchten durch, insbesondere in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Ihre Ergebnisse besagten, daß Gerüchte umso stärker sind, je mehr das Thema als wichtig wahrgenommen wird - und je mehr man sich über die Fakten im Unsicheren gelassen fühlt (ambiguity).



Hand aufs Herz, ist es Ihnen auch schon so gegangen? Sie lesen im Lokalteil Ihrer Zeitung von einer Messerstecherei, vom Überfall von Jugendlichen auf einen Erwachsenen. Alle möglichen Einzelheiten stehen in der Meldung. Nur nicht, ob die Täter oder Verdächtigen Ausländer oder ausländische Herkunft waren. Dann fängt man an zu rätseln, nicht wahr? Sucht nach versteckten Hinweisen.

Manchmal kann man erfolgreich zwischen den Zeilen lesen. Unsere lokale Zeitung macht es sich oft einfach, indem sie die Namen ermittelter Tatverdächtiger zwar durch Pseudonyme ersetzt, diese aber zum Schlüssel macht. Da steht dann "Ali X. (Name geändert)" oder "Sergej Y. (Name geändert)"; dergleichen.

Ist das nicht unwürdig, daß der Leser, als lebten wir in einem unfreien Land, zwischen den Zeilen lesen, daß die Zeitungen zwischen den Zeilen schreiben müssen, weil die schlichte Berichterstattung anstößig wäre?

Verboten ja nicht, aber eben anstößig. Anstößig sogar in einem gewissermaßen halboffiziellen Sinn, denn es gibt da die Richtlinie 12.1 des Deutschen Presserats (vollständiger Text als PDF-Datei hier):
In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründeter Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber schutzbedürftigen Gruppen schüren könnte.
Gut gemeint, zweifellos. Nur ist es eben eine - wenn auch freiwillige - Einschränkung der unzensierten Berichterstattung, die der Leser, die der Zuschauer erwartet.

Man teilt ihm mit, ob eine Gewalttat mit dem Messer oder mit einem Schlageisen begangen wurde, ob sie vor einer Diskothek oder an einer Haltestelle geschah, wie alt das Opfer war und so fort. Und das, was ihn doch logischerweise auch interessiert, wird ihm bewußt vorenthalten - zu welcher Gruppe denn der Täter oder der Tatverdächtige gehörte.

Das erzeugt Mißtrauen, es bereitet damit den Boden für Gerüchte, für Mundpropaganda. Man traut nicht mehr den üblichen Informationsquellen, sondern glaubt dem, was die Leute so reden. Und die reden viel.

Das Ergebnis dieser illiberalen, eines freiheitlichen Staats unwürdigen Informationspolitik ist das Gegenteil dessen, was man damit bezweckt: Die auf Gerüchte angewiesenen Menschen glauben das Schlimmste.

Jedenfalls besteht die Gefahr, daß sie es tun. So, wie nach den Untersuchungen von Allport und Postman die Gerüchte im Zweiten Weltkrieg wucherten, weil die Regierung wahrheitsgemäße Informationen zurückhielt.



Jetzt also haben wir die "explodierende Diskussion". Wir erleben das, was Sigmund Freud die "Wiederkehr des Verdrängten" nannte.

Zu Freuds ersten Beobachtungen dieses Phänomens gehörte das Verhalten einer Patientin seines Freundes Breuer, die unter Hypnose eine zurückliegende traumatische Situation wieder durchlebte - mit heftigen Ausbrüchen von Affekten. Solche Ausbrüche können zu dem führen, was Freud und Breuer "Katharsis" nannten, eine "Reinigung". Das setzt freilich, wie Freud später hervorgehoben hat, die rationale Auseinandersetzung mit dem voraus, was da an Verdrängtem wiedergekehrt ist.

Wir haben jetzt die Chance zu einer rationalen Diskussion. Führende Journalisten wie Frank Schirrmacher beginnen sie wahrzunehmen. Politiker wie Claudia Roth versuchen eine rationale Diskussion freilich nach Kräften zu verhindern.

Von Roland Koch übrigens, der jetzt Attacken auf sich zieht wie weiland Winkelried bei Sempach die gegnerischen Pfeile, habe ich noch keinen einzigen unsachlichen Satz zu diesem Thema gehört oder gelesen. Auch gestern bei einer Befragung im Hessischen Fernsehen war er wieder ein Muster an Sachlichkeit.

Überhaupt ist es ja interessant, wie dieser hessische Wahlkampf im Augenblick verläuft: Roland Koch thematisiert eine Sachfrage. Die SPD thematisiert Roland Koch.

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