9. August 2011

Marginalie: Neue Entwicklung im Fall Strauss-Kahn. Nebst Erläuterungen zur amerikanischen Justiz

Der Fall Strauss-Kahn hat kurzzeitig Aufsehen erregt, ist dann aber in Deutschland - anders als in Frankreich und in den USA - wieder schnell aus den Schlagzeilen verschwunden.

Ich habe von Anfang an versucht, ergänzend zu der deutschen Berichterstattung und Kommentierung den Fall aus französischer und aus amerikanischer Sicht zu beleuchten. Artikel zur französischen Sicht waren Die Affäre Strauss-Kahn aus französischer Sicht; ZR vom 16. 5. 2011, sowie Jean Daniel über die Diskussion zum Fall Strauss-Kahn; ZR vom 1. 7. 2011. Über den Fall vor dem Hintergrund des US-Justizsystems habe ich u.a. in diesen Artikeln berichtet: Wie Dominique Strauss-Kahn im Augenblick als U-Häftling lebt; ZR vom 17. 5. 2011 und Der Fall Strauss-Kahn ein "US-Justizdebakel"? Das Gegenteil ist richtig; ZR vom 2. 7. 2011).

Jetzt gibt es eine neue Entwicklung, die auf einen interessanten Aspekt des US-Rechtssystems aufmerksam macht: Wie die New York Times in ihrer heutigen Ausgabe berichtet, hat der Anwalt der Hotelangestellten Nafissatou Diallo, Kenneth P. Thompson, im Namen seiner Mandantin jetzt Zivilklage gegen Dominique Strauss-Kahn eingereicht. Sie verlangt eine finanzielle Entschädigung für mental anguish (seelischen Schmerz) wegen
... both physical and psychological harm, as well as permanent harm to her professional and personal reputations, and severe mental anguish and emotional distress, from which she may never recover.

... sowohl körperlichem als auch psychologischem Schaden sowie dauerhafter Beschädigung ihrer beruflichen und persönlichen Reputation und schwerem seelischem Schmerz und emotionalem Leid, von dem sie sich möglicherweise nie mehr erholen wird.
Diese Zivilklage ist ein weiterer ungewöhnlicher Schritt der Verteidigung und von Frau Diallo, die zuvor schon den Weg gegangen war, noch vor Beginn eines Prozesses gegen Strauss-Kahn öffentlich im Fernsehen aufzutreten.

Das Interview in der ABC-Sendung Good Morning, America vom 25. Juli können Sie hier sehen. In der Sendung äußerte sich auch ein Redakteur von Newsweek, der Diallo ebenfalls interviewt hatte und auf den sie, wie er sagte, einen glaubwürdigen Eindruck gemacht hatte.

Daß Personen, die von der Staatsanwaltschaft als mögliche Zeugen vernommen wurden, vor Beginn eines eventuellen Prozesses vor den Medien auftreten, ist zwar in den USA nicht verboten, aber sehr ungewöhnlich. Es ist im US-Rechtssystem andererseits nicht selten, daß auf einen Strafprozeß ein Zivilprozeß mit Schadensersatz-Ansprüchen folgt. Da die beiden Prozesse unabhängig voneinander sind, kann es sein, daß jemand, der im Strafprozeß freigesprochen wurde, dennoch im Zivilprozeß zu Schadenersatz verurteilt wird.

Der bekannteste derartige Fall ist der von O.J. Simpson, der zwar 1994 von der Anklage, seine Frau ermordet zu haben, freigesprochen wurde, den dann aber im Jahr 1997 ein Gericht in einem Zivilprozeß zu einem Schadensersatz von 33,5 Millionen Dollar an die Hinterbliebenen verurteilte.

In aller Regel wird aber mit der Zivilklage bis nach dem Strafprozeß gewartet; zumal wenn - wie jetzt im Fall Diallo/Strauss-Kahn - die Klägerin im Zivilprozeß, aus dem sie unter Umständen eine hohe Geldsumme zu erwarten hat, zugleich die einzige Zeugin im Strafprozeß ist. Es liegt auf der Hand, daß dies zu Problemen bei der Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit als Zeugin führt.

Warum sind Frau Diallo und ihr Anwalt Thompson jetzt diesen ungewöhnlichen Weg gegangen? Die New York Times:
The timing of the lawsuit was unusual for cases that also involve criminal prosecutions; typically, accusers will wait until a criminal matter is resolved before proceeding with a civil action.

Nonetheless, the action seemed noteworthy for its choice of jurisdiction, the Bronx. The housekeeper lives there, and jurors in that borough may be more sympathetic to an African woman’s claims against a powerful Frenchman than jurors would be in Manhattan, where the encounter occurred.

Der Zeitpunkt der Klage war unüblich für Fälle, die ebenfalls eine Strafverfolgung umfassen; in der Regel werden Kläger warten, bis eine Strafsache abgeschlossen ist, bevor sie zivilrechtlich vorgehen.

Jedoch erscheint dieser Schritt bemerkenswert wegen der Wahl des Gerichtsorts, der Bronx. Das Zimmermädchen wohnt dort, und Geschworene aus diesem Bezirk könnten der Anschuldigung einer Frau afrikanischer Herkunft gegen einen mächtigen Franzosen mehr Sympathie entgegenbringen als Geschworene in Manhattan, wo sich der Vorfall ereignete.
Daß der Anwalt Thompson schon jetzt klagt, wird so gedeutet, daß er auf den Strafprozeß keine großen Hoffnungen mehr setzt, aber möglichst gute Aussichten für den Zivilprozeß haben möchte.

Weitere Informationen zu dem Fall finden Sie in dieser Dokumentation der New York Times.
Zettel



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