Wie in der ersten Folge bereits gezeigt, beträgt die rechnerisch zu erwartende Anzahl der Vorfahren in der Generation n genau 2^n (da jeder Mensch zwei Eltern hat und diese wiederum zwei Eltern).
Dies führt aber zu dem Paradoxon, dass in einer überschaubar kurzen Zeit die Anzahl der rechnerisch zu erwartenden Vorfahren die Zahl der damals gleichzeitig lebenden Menschen übertrifft (ganz zu schweigen davon, dass dies wiederum für jeden Menschen gilt, der heute lebt).
Im Beispiel des Sauerländers aus dem Herzogtum Westfalen ist in der 15. Ahnengeneration etwa zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges der Zeitpunkt erreicht, wo die Anzahl der Vorfahren (32.768) die Anzahl der Bewohner des Herzogtums Westfalen (irgendwo in den 20.000ern) übersteigt. In der 25. Ahnengeneration übersteigt die Anzahl der Vorfahren (33 Millionen) die Anzahl der damals in Mitteleuropa lebenden Menschen.
Dieser Widerspruch löst sich durch das Phänomen des "Ahnenschwundes" oder "Ahnenverlustes" (fachsprachlich "Implex"): Zwangsläufig kommt es in einer Population immer wieder zu Verwandtenehen – bewusst (bei naher Verwandtschaft) oder unbewusst (bei weiterer Verwandtschaft) –, und dies um so häufiger, je kleiner die Gruppe der möglichen Heiratspartner ist. Für den Probanden bedeutet dies, dass bestimmte Vorfahren mehrfach in seiner Ahnentafel auftreten. Dementsprechend wäre statt von "Ahnenschwund" auch besser von "Ahnengleichheit" zu sprechen.
Bleiben wir wieder beim Beispiel des Herzogtums Westfalen: Eine typische Landpfarrei umfasste ein Kirchdorf und vielleicht zehn umliegende Weiler mit jeweils fünf bis zehn Häusern; in einer solchen Pfarrei lebten einige hundert Menschen. Die Mehrzahl der jungen Männer fand ihre Ehepartnerinnen in der gleichen Pfarrei, manchmal auch in einer Nachbarpfarrei, suchte ihn also in einem sehr kleinen Pool von (allenfalls einigen Dutzend) potentiellen Heiratskandidaten. Dabei reichte es im übrigen ja nicht, einen noch unvergebenen Partner im passenden Alter zu finden; er musste auch hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Stellung passen. Der Sohn eines reichen Bauern heiratete in aller Regel eine Tochter eines ähnlich wohlhabenden Bauern, nicht etwa eine arme Tagelöhnerstochter – was die Anzahl der in Frage kommenden Ehepartner noch einmal reduzierte.
Aufgrund der kirchlichen Ehegesetze waren in katholischen Gebieten Eheschließungen zwischen Nahverwandten bis zum vierten kanonischen Grad (= gemeinsame Ururgroßeltern) untersagt, konnten aber auf Antrag vom zuständigen Generalvikariat genehmigt werden. Die Akten über solche Trauungserlaubnisse bzw. Befreiungen vom Ehehindernis der Nahverwandtschaft sind für das Erzbistum Köln seit dem 17. Jahrhundert erhalten und zeigen, dass ein häufiger Grund, warum um eine solche Befreiung (fachsprachlich: Dispens) nachgesucht wurde, die "Enge des Ortes" war – mit dieser Formulierung ist gemeint, dass in den kleinen Orten der Umgebung kein passender Ehepartner zu finden ist, mit dem die Antragsteller NICHT im vierten Grad (mit gemeinsamen Ururgroßeltern) verwandt war.
Nehmen wir als Beispiel ein Paar, das die Erlaubnis zur Heirat trotz Verwandtschaft im dritten Grad (gemeinsame Urgroßeltern) erhält. Jeder der Ehepartner hat acht Urgroßeltern – ein Kind aus dieser Verbindung aber hat nicht sechzehn Ururgroßeltern, sondern nur vierzehn, da aufgrund der Verwandtschaft der Eltern ein Ururgroßelternpaar väterlicherseits mit einem Ururgroßelternpaar mütterlicherseits identisch ist.
Dieser Ahnenschwund macht sich um so stärker bemerkbar, je kleiner der Raum oder "Pool" ist, aus dem die Vorfahren stammen. Der Ahnenschwund ist also besonders groß bei Menschen, deren Vorfahren sämtlich aus einem geographisch eng umrissenen Gebiet stammen (etwa: Vorfahren nur aus dem Herzogtum Westfalen) oder wo die Ehepartnerwahl aus sozialen Gründen engen Regeln unterlag wie beim Hochadel.
Um ein konkretes Beispiel aus dem Bereich des früheren Herzogtums Westfalen zu wählen: Ein 1991 in Meschede geborener junger Mann kommt allein unter den nur teilweise erforschten Vorfahren der 15. Ahnengeneration auf einen Ahnenschwund von etwa 50 % (und der noch höher wäre, wenn man die Lücken in der Ahnentafel durch weitere Forschung schließen würde). Der ca. 1615 geborene Bauer Volpert Kemper aus einem Dorf südlich von Meschede zum Beispiel tritt allein nach jetzigem Kenntnisstand achtmal als Vorfahre des jungen Mannes auf. –
Andererseits treten aber keine Bayern, Ostfriesen, Schlesier oder Pfälzer unter den Vorfahren dieses als Beispiel gewählten jungen Mannes auf. Die Bejahung der im ersten Teil gestellten Frage "Sind wir alle miteinander verwandt?" muss also dahingehend eingeschränkt werden, dass es relativ leicht ist, die Verwandtschaft zweier Sauerländer nachzuweisen, aber deutlich schwieriger, die Verwandtschaft eines Sauerländers mit einem Oberbayern (sofern es nicht vor zweihundert Jahren einen Sauerländer nach Oberbayern verschlagen hat).
Besonders gut erforscht ist der Ahnenschwund beim Hochadel. In der (vollständig erforschten) zwölften Ahnengeneration mit rechnerisch 4.096 Vorfahren hat Friedrich der Große nur 1.108 verschiedene Individuen als Vorfahren (Ahnenschwund 73 %), August der Starke gar nur 499 Individuen (Ahnenschwund 89 %) (Zahlen nach dem Artikel "Ahnenschwund" der Wikipedia).
Wohl den krassesten Fall von Ahnenschwund bzw. Ahnengleichheit bietet die Ahnentafel der ägyptischen Königin Kleopatra VII. (70–30 v.Chr.). Unter den Ptolemäern waren über Generationen Verwandten- und sogar Geschwisterehen üblich. Für Kleopatra bedeutet dies: Drei ihrer vier Großeltern (Ptolemaios IX., Kleopatra IV., Ptolemaios X.) sowie eine Urgroßmutter (Kleopatra Selene) waren Geschwister, und das vierte Großelternteil, die Großmutter mütterlicherseits (Berenike III.) war ihrerseits Tochter von Kleopatras Großeltern väterlicherseits. So kommt Kleopatra nach wenigen Generationen auf einen Ahnenschwund von weit über 90 %.
Umgekehrt reduziert sich der Anteil der mehrfach auftretenden Vorfahren, wenn die Eltern oder Großeltern eines Probanden aus unterschiedlichen Gegenden stammen, wie es infolge der heute höheren Mobilität und infolge der Bevölkerungsverschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg heute eher die Regel denn die Ausnahme sein dürfte.
Wenn ich mich selbst als Beispiel nehme: Von meinen 16 Ururgroßeltern stammen vier aus (drei verschiedenen Teilen) Schlesiens, einer aus dem Harz, einer aus dem Saarland, zwei aus dem Hunsrück, fünf aus dem Bergischen Land, einer aus Brandenburg, einer aus dem Rheinland, einer aus dem Sauerland. Bei dieser geographisch so heterogenen Vorfahrenschaft beträgt der Ahnenschwund in der fünfzehnten Generation erst 5 % (bei dem oben genannten Sauerländer hingegen 50 % und bei Friedrich d. Gr. schon drei Generationen früher 73 %).
Obwohl Laie in Fragen der Genetik, wage ich doch die Behauptung, dass sich die Bevölkerung auf dem Land (nicht in den Städten) durch eine regional hohe genetische Homogenität ausgezeichnet hat, während jetzt die höhere Mobilität zu einer deutlich höheren genetischen Diversität geführt hat und weiter führt.
Dies führt aber zu dem Paradoxon, dass in einer überschaubar kurzen Zeit die Anzahl der rechnerisch zu erwartenden Vorfahren die Zahl der damals gleichzeitig lebenden Menschen übertrifft (ganz zu schweigen davon, dass dies wiederum für jeden Menschen gilt, der heute lebt).
Im Beispiel des Sauerländers aus dem Herzogtum Westfalen ist in der 15. Ahnengeneration etwa zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges der Zeitpunkt erreicht, wo die Anzahl der Vorfahren (32.768) die Anzahl der Bewohner des Herzogtums Westfalen (irgendwo in den 20.000ern) übersteigt. In der 25. Ahnengeneration übersteigt die Anzahl der Vorfahren (33 Millionen) die Anzahl der damals in Mitteleuropa lebenden Menschen.
Dieser Widerspruch löst sich durch das Phänomen des "Ahnenschwundes" oder "Ahnenverlustes" (fachsprachlich "Implex"): Zwangsläufig kommt es in einer Population immer wieder zu Verwandtenehen – bewusst (bei naher Verwandtschaft) oder unbewusst (bei weiterer Verwandtschaft) –, und dies um so häufiger, je kleiner die Gruppe der möglichen Heiratspartner ist. Für den Probanden bedeutet dies, dass bestimmte Vorfahren mehrfach in seiner Ahnentafel auftreten. Dementsprechend wäre statt von "Ahnenschwund" auch besser von "Ahnengleichheit" zu sprechen.
Bleiben wir wieder beim Beispiel des Herzogtums Westfalen: Eine typische Landpfarrei umfasste ein Kirchdorf und vielleicht zehn umliegende Weiler mit jeweils fünf bis zehn Häusern; in einer solchen Pfarrei lebten einige hundert Menschen. Die Mehrzahl der jungen Männer fand ihre Ehepartnerinnen in der gleichen Pfarrei, manchmal auch in einer Nachbarpfarrei, suchte ihn also in einem sehr kleinen Pool von (allenfalls einigen Dutzend) potentiellen Heiratskandidaten. Dabei reichte es im übrigen ja nicht, einen noch unvergebenen Partner im passenden Alter zu finden; er musste auch hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Stellung passen. Der Sohn eines reichen Bauern heiratete in aller Regel eine Tochter eines ähnlich wohlhabenden Bauern, nicht etwa eine arme Tagelöhnerstochter – was die Anzahl der in Frage kommenden Ehepartner noch einmal reduzierte.
Aufgrund der kirchlichen Ehegesetze waren in katholischen Gebieten Eheschließungen zwischen Nahverwandten bis zum vierten kanonischen Grad (= gemeinsame Ururgroßeltern) untersagt, konnten aber auf Antrag vom zuständigen Generalvikariat genehmigt werden. Die Akten über solche Trauungserlaubnisse bzw. Befreiungen vom Ehehindernis der Nahverwandtschaft sind für das Erzbistum Köln seit dem 17. Jahrhundert erhalten und zeigen, dass ein häufiger Grund, warum um eine solche Befreiung (fachsprachlich: Dispens) nachgesucht wurde, die "Enge des Ortes" war – mit dieser Formulierung ist gemeint, dass in den kleinen Orten der Umgebung kein passender Ehepartner zu finden ist, mit dem die Antragsteller NICHT im vierten Grad (mit gemeinsamen Ururgroßeltern) verwandt war.
Nehmen wir als Beispiel ein Paar, das die Erlaubnis zur Heirat trotz Verwandtschaft im dritten Grad (gemeinsame Urgroßeltern) erhält. Jeder der Ehepartner hat acht Urgroßeltern – ein Kind aus dieser Verbindung aber hat nicht sechzehn Ururgroßeltern, sondern nur vierzehn, da aufgrund der Verwandtschaft der Eltern ein Ururgroßelternpaar väterlicherseits mit einem Ururgroßelternpaar mütterlicherseits identisch ist.
Dieser Ahnenschwund macht sich um so stärker bemerkbar, je kleiner der Raum oder "Pool" ist, aus dem die Vorfahren stammen. Der Ahnenschwund ist also besonders groß bei Menschen, deren Vorfahren sämtlich aus einem geographisch eng umrissenen Gebiet stammen (etwa: Vorfahren nur aus dem Herzogtum Westfalen) oder wo die Ehepartnerwahl aus sozialen Gründen engen Regeln unterlag wie beim Hochadel.
Um ein konkretes Beispiel aus dem Bereich des früheren Herzogtums Westfalen zu wählen: Ein 1991 in Meschede geborener junger Mann kommt allein unter den nur teilweise erforschten Vorfahren der 15. Ahnengeneration auf einen Ahnenschwund von etwa 50 % (und der noch höher wäre, wenn man die Lücken in der Ahnentafel durch weitere Forschung schließen würde). Der ca. 1615 geborene Bauer Volpert Kemper aus einem Dorf südlich von Meschede zum Beispiel tritt allein nach jetzigem Kenntnisstand achtmal als Vorfahre des jungen Mannes auf. –
Andererseits treten aber keine Bayern, Ostfriesen, Schlesier oder Pfälzer unter den Vorfahren dieses als Beispiel gewählten jungen Mannes auf. Die Bejahung der im ersten Teil gestellten Frage "Sind wir alle miteinander verwandt?" muss also dahingehend eingeschränkt werden, dass es relativ leicht ist, die Verwandtschaft zweier Sauerländer nachzuweisen, aber deutlich schwieriger, die Verwandtschaft eines Sauerländers mit einem Oberbayern (sofern es nicht vor zweihundert Jahren einen Sauerländer nach Oberbayern verschlagen hat).
Besonders gut erforscht ist der Ahnenschwund beim Hochadel. In der (vollständig erforschten) zwölften Ahnengeneration mit rechnerisch 4.096 Vorfahren hat Friedrich der Große nur 1.108 verschiedene Individuen als Vorfahren (Ahnenschwund 73 %), August der Starke gar nur 499 Individuen (Ahnenschwund 89 %) (Zahlen nach dem Artikel "Ahnenschwund" der Wikipedia).
Wohl den krassesten Fall von Ahnenschwund bzw. Ahnengleichheit bietet die Ahnentafel der ägyptischen Königin Kleopatra VII. (70–30 v.Chr.). Unter den Ptolemäern waren über Generationen Verwandten- und sogar Geschwisterehen üblich. Für Kleopatra bedeutet dies: Drei ihrer vier Großeltern (Ptolemaios IX., Kleopatra IV., Ptolemaios X.) sowie eine Urgroßmutter (Kleopatra Selene) waren Geschwister, und das vierte Großelternteil, die Großmutter mütterlicherseits (Berenike III.) war ihrerseits Tochter von Kleopatras Großeltern väterlicherseits. So kommt Kleopatra nach wenigen Generationen auf einen Ahnenschwund von weit über 90 %.
Umgekehrt reduziert sich der Anteil der mehrfach auftretenden Vorfahren, wenn die Eltern oder Großeltern eines Probanden aus unterschiedlichen Gegenden stammen, wie es infolge der heute höheren Mobilität und infolge der Bevölkerungsverschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg heute eher die Regel denn die Ausnahme sein dürfte.
Wenn ich mich selbst als Beispiel nehme: Von meinen 16 Ururgroßeltern stammen vier aus (drei verschiedenen Teilen) Schlesiens, einer aus dem Harz, einer aus dem Saarland, zwei aus dem Hunsrück, fünf aus dem Bergischen Land, einer aus Brandenburg, einer aus dem Rheinland, einer aus dem Sauerland. Bei dieser geographisch so heterogenen Vorfahrenschaft beträgt der Ahnenschwund in der fünfzehnten Generation erst 5 % (bei dem oben genannten Sauerländer hingegen 50 % und bei Friedrich d. Gr. schon drei Generationen früher 73 %).
Obwohl Laie in Fragen der Genetik, wage ich doch die Behauptung, dass sich die Bevölkerung auf dem Land (nicht in den Städten) durch eine regional hohe genetische Homogenität ausgezeichnet hat, während jetzt die höhere Mobilität zu einer deutlich höheren genetischen Diversität geführt hat und weiter führt.
Gansguoter
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