Schon vor einem Vierteljahr habe ich eine kleine Reihe zur Genealogie oder Familiengeschichtsforschung (umgangs-sprachlich: "Ahnenforschung") angekündigt. Es wird Zeit, den Worten Taten Folgen zu lassen.
Die Genealogie zählt zu den historischen Hilfswissenschaften (zusammen mit der Heraldik, der Kodikologie, der Metrologie etc.) und beschäftigt sich mit der Abstammung und den Verwandtschaftsverhältnissen von Personen oder Personengruppen. Im Rahmen der Geschichtswissenschaften ist die Genealogie insbesondere von Bedeutung für die Erforschung des Frühmittelalters und Mittelalters, wo zum Verständnis historischer Ereignisse die Kenntnis von Verwandtschaftsverhältnissen oft unerlässlich ist.
Universitär wird die Genealogie in Deutschland noch an den (nach den deutlichen Stellenstreichungen in diesem Bereich) verbliebenen Lehrstühlen für Historische Hilfswissenschaften gelehrt; ansonsten sind es in der universitären Geschichtswissenschaft v.a. Mediävisten, die sich mit genealogischen Fragen befassen (z.B. Eduard Hlawitschka, Donald Jackman, Armin Wolf).
Neben der Genealogie im universitären Bereich gibt es die – von universitären Forschern lange verlachte oder skeptisch betrachtete – private Familiengeschichtsforschung, die der Erforschung der eigenen Vorfahren und Verwandten gilt. Was bei einigen in der Tat nicht über ein reines "Ahnensammeln" hinausgeht, erreicht bei passionierten Hobbyforschern aber durchaus ein wissenschaftliches Niveau, was sicher auch damit zusammenhängt, dass eine Familiengeschichtsforschung, die in die Frühe Neuzeit oder gar ins Spätmittelalter zurückgeht, einiges Spezialwissen voraussetzt (Fähigkeit, alte Handschriften zu lesen; wenigstens Grundkenntnisse im Lateinischen; Kenntnis alter Kalender, des kanonischen Eherechts, des Erbrechts, des Lehns- und Besitzrechtes etc.). Eine solcherart ernsthaft betriebene Familiengeschichtsforschung hat Überschneidungen z. B. mit der Regional- und der Sozialgeschichtsforschung.
Das Interesse an der eigenen Familiengeschichte hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Während "Ahnenforschung" vor zwanzig Jahren überwiegend eine Freizeitbeschäftigung von älteren Herren im Rentenalter war und oft mit dem im Dritten Reich geforderten "Ariernachweis" assoziiert wurde, werden heute familiengeschichtliche Themen sogar im Fernsehen behandelt ("Die Spur der Ahnen", MDR seit 2006; "Auf der Spur meiner Ahnen", ZDF 2007; "Vorfahren gesucht", WDR seit 2007; "Das Geheimnis meiner Familie", ARD 2008; "Die Spurensucher", ARTE 2008).
Über die Gründe für dieses zunehmende Interesse lässt sich trefflich spekulieren. Die Beschäftigung mit der eigenen Herkunft und Abstammung mag vielleicht der Selbstvergewisserung dienen in Zeiten zunehmender Unsicherheit; vielleicht aber ist es auch ganz prosaisch die gegenüber früher unendlich erleichterte Zugänglichkeit vieler Quellen durch zahlreiche Digitalisierungsvorhaben und die einfache Vernetzung von Gleichgesinnten über das Internet.
Sind wir alle miteinander verwandt?
Es ist eine einfache Tatsache, dass jeder Mensch zwei Eltern hat, einen Vater und eine Mutter ("Tatsache" zumindest, solange Menschen nicht geklont werden), und daraus ergibt sich, dass die Zahl der Vorfahren eines jeden Menschen von Generation zu Generation exponentiell wächst. Ein Proband (derjenige, dessen Vorfahren erforscht werden) hat zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern, 16 Ururgroßeltern und so fort.
Geht man der Einfachheit halber davon aus, dass der Generationenabstand im Schnitt 30 Jahre beträgt, so hat jemand, der im Jahr 1980 geboren ist, 64 Vorfahren, die ca. im Jahr 1800 geboren sind (die siebte Generation, den Probanden mitgezählt), 65.536 Vorfahren, die im Jahr 1500 geboren sind (die 17. Generation), 67.108.864 Vorfahren, die im Jahr 1200 geboren sind, und 68 Milliarden Vorfahren im Jahr 900 – d.h., schon im Spätmittelalter übertrifft die rechnerische Zahl der Vorfahren eines jeden heute lebenden Menschen die Gesamtzahl der damals in Europa lebenden Menschen.
Daraus ergeben sich zwangsläufig zwei Schlussfolgerungen: a) Jeder ist mit jedem verwandt – die Frage ist nur, wie nah oder fern diese Verwandtschaft ist und ob sie sich nachweisen lässt oder nicht (das hängt davon ab, ob die notwendigen historischen Quellen erhalten sind und welchen Aufwand man bereit ist zu treiben); b) Jeder Mitteleuropäer stammt mehrfach oder vielfach von (fast) allen Menschen ab, die im Mittelalter in Mitteleuropa lebten (vorausgesetzt natürlich, diese hatten selbst Nachkommen).
Berücksichtigt man die geringe(re) Mobilität in den früheren Jahrhunderten, lässt sich dies noch enger fassen. Das Beispiel sei der frühere Herzogtum Westfalen, das Gebiet etwa zwischen Arnsberg im Westen, Brilon im Osten, Soest im Norden und Olpe im Süden. Das Herzogtum Westfalen war katholisch, grenzte aber zu einem großen Teil an protestantische Territorien (Mark, Siegen-Wittgenstein, Hessen); außerdem standen die naturräumlichen Gegebenheiten (Mittelgebirge), die Wirtschaftsstruktur (keine überregional bedeutsamen Städte, die Zuwanderer hätten anziehen können) sowie das Erbrecht (Anerbenrecht) einer übermäßigen Mobilität entgegen. Man heiratete in gleichen Pfarrei, allenfalls in der Nachbarpfarrei.
Noch heute haben viele Menschen im Hochsauerland Vorfahren fast ausschließlich aus dem ehemaligen Herzogtum Westfalen, oft aus einem Gebiet mit einem Radius von vielleicht zwanzig oder dreißig Kilometern. In diesen Fällen lässt sich mit wenig Aufwand zeigen, dass alle Einheimischen oft vielfach miteinander verwandt sind und dass die Heutigen von fast allen Menschen abstammen, die dort im 17. Jahrhundert lebten (und zwar teils zehn- oder zwanzigfach) (wieder vorausgesetzt natürlich, dass diese Nachkommen hatten). Das bedeutet für die Frage, ob wir alle miteinander verwandt sich, allerdings dann auch eine Einschränkung: Zwar sind - um im Beispiel zu bleiben - zwar die Sauerländer nachweisbar untereinander verwandt; deren Verwandtschaft mit den Eiflern oder Bayern oder Ostfriesen aber ist deutlich weitläufiger.
Die Bevölkerungsverschiebungen im Laufe des 20. Jahrhunderts und die allgemein höhere Mobilität führen allerdings heute dazu, dass diese abgegrenzten Teilpopulationen sich mehr und mehr auflösen und es zu einer überregionalen Vermischung kommt - und in dem Maße, in dem dies zunimmt, nimmt auch die "Verwandtschaft" (oder besser: Ahnen- oder Abstammungsgemeinschaft) zu.
Populationsgenetisch stellten also zumindest bis ins 19. Jh. die Bewohner des Herzogtums Westfalen eine überschaubare Population dar, und unter diesem Gesichtspunkt dürfte es auch auf der Hand liegen, dass sich diese mitteleuropäische Teilpopulation im Sauerland unterscheidet bzw. unterschied von einer Teilpopulation in der Vulkaneifel oder in einem Alpental oder in Niederschlesien, sei es in äußeren Körpermerkmalen (in der Südeifel etwa findet man bis heute öfter als z.B. im Sauerland Menschen mit schwarzen Haaren und dunklen Augen), sei es in Merkmalen, die sich nur bei medizinischen oder genetischen Untersuchungen feststellen ließen (vielleicht: Verteilung der Blutgruppen ...).
Eine umfassende genealogische Erforschung einer solchermaßen abgegrenzten Teilpopulation seit dem 17. Jahrhundert (hier beginnt in der Regel die Überlieferung der notwendigen Quellen) könnte möglicherweise nicht nur für die Sozial- und Regionalgeschichte interessant sein, sondern auch für die medizinische und genetische Forschung.
Gansguoter
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