13. August 2011

Der Mauerbau am 13. August 1961 und die Propaganda der Kommunisten, heute wie damals

Dreister geht es schwerlich. Die kommunistische Tageszeitung "Junge Welt" widmet dem heutigen 50. Jahrestag des Mauerbau ein Foto von bewaffneten DDR-Grenzschützern vor dem Brandenburger Tor. Darunter steht: "Wir sagen an dieser Stelle einfach mal: Danke für 28 Jahre Friedenssicherung in Europa". Es folgen weitere derartige Danksagungen, beispielsweise "für 28 Jahre Geschichts-wissenschaft statt Guidoknoppgeschichtchen" und zynischerweise auch noch "für 28 Jahre Hohenschönhausen ohne Hubertus Knabe".

28 Jahre - damit ist die Zeit vom Mauerbau 1961 bis zum faktischen Ende der DDR 1989 gemeint. In den 22 Jahren, die seither vergangen sind, haben die Ewiggestrigen nichts gelernt. Für sie ist der Mauerbau ein Grund zum Feiern und Danken.

Auch in den vergangenen Jahren sind in ZR Artikel zum Jahrestag des Mauerbaus erschienen. Vor zwei Jahren habe ich mich mit Gedenkstätten für die Mauertoten befaßt (Bildzitat des Tages: Am 13. August 1961 begann der Bau der Berliner Mauer. Ein angemessenes Denkmal für die Ermordeten gibt es bis heute nicht; ZR vom 13. 8. 2009). Der Artikel im vergangenen Jahr enthielt persönliche Erinnerungen an den 13. August 1961. Heute möchte ich das durch einige Gedanken zur kommunistischen Propaganda im Zusammenhang mit dem Mauerbau ergänzen.



Was am 13. August 1961 geschah, war für alle Zeitzeugen unmittelbar aus den Nachrichtensendungen dieses Tages und der vorausgehenden Wochen zu erfahren (für Details aus Sicht der heutigen zeithistorischen Forschung siehe zum Beispiel hier):

Die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik und in der DDR hatten sich im vorausgehenden Jahrzehnt immer mehr auseinanderentwickelt. Der Westen erlebte das Wirtschaftswunder; in der DDR ging es vergleichsweise langsam ökonomisch voran. In der Bundesrepublik gab es einen funktionierenden demokratischen Rechtsstaat; die DDR perfektionierte in diesem Jahrzehnt die totalitäre Diktatur. Dort wurde seit dem Jahr 1952 - nachdem Stalins Versuch, ein Gesamtdeutschland nach seinen Bedingungen zu schaffen, gescheitert war - der "Aufbau des Sozialismus" mit Verstaatlichungen auch von kleinen Betrieben, der Kollektivierung der Landwirtschaft, mit ideologischer Gleichschaltung betrieben.

Die zwangsläufige Folge war, daß immer mehr Menschen es vorzogen, im westlichen Teil Deutschlands statt im östlichen zu leben. Ihre "Staatsgrenze" zur Bundesrepublik hatte die DDR bereits weitgehend befestigt. Berlin aber bot die Möglichkeit, aus der Dikatur in die Freiheit zu fliehen, aus einem Teil Deutschlands mit schlechtem Lebensstandard in denjenigen Teil, in dem es in diesen Jahren wirtschaftlich steil aufwärts ging.

Die Fluchtbewegung beschleunigte sich und nahm Züge einer Torschlußpanik an, als sich im Sommer 1961 Gerüchte häuften, die DDR werde demnächst das Schlupfloch Berlin schließen. Vier Tage vor dem 13. August schrieb der "Spiegel" unter der Überschrift "Vor Toresschluß":
Die Motivforscher und Statistiker im Marienfelder Notaufnahmelager verzeichnen denn auch in ihren Akten immer häufiger als Fluchtgrund: Torschlußpanik. Flüchtlingsumfragen lassen keinen Zweifel daran, daß die Berlin-Offensive der SED, die nicht zuletzt auf ein Eindämmen des Flüchtlingsstroms abzielt, zunächst den gegenteiligen Effekt bewirkt: Die Erkenntnis, die von Moskau und Pankow angestrebte "Lösung der Berlin-Frage" werde die Spaltung Deutschlands zementieren und das letzte Schlupfloch in die Freiheit verstopfen, setzt auch einen großen Teil jener Mitteldeutschen gen Westen in Bewegung, die bislang keinen akuten Grund zum Verlassen der DDR sahen.
Die Führung der DDR hatte im Prinzip zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren:

Sie hätte darauf verzichten können, den Aufbau des Sozialismus voranzutreiben, und stattdessen wirtschaftliche und politische Freiheit zulassen, zunächst zumindest ankündigen können. Oder sie konnte die Diktatur des Proletariats zu retten versuchen, indem sie ihre Untertanen zwang, in diesem Staat zu leben; ob sie das wollten oder nicht. Sie konnte ihren Staat entweder zu einem lebenswerten, einem wenigstens akzeptablen Staat machen, in dem man als Bürger freiwillig bleibt; oder ihn in ein KZ verwandeln, dessen Befestigungsanlagen man nur unter Lebensgefahr überwinden kann.

Sie finden, lieber Leser, daß ich das jetzt zu einfach, zu holzschnittartig geschildert habe? Es ist aber der Kern der Sache.

Daß die DDR-Führung von Moskau abhängig war, ändert daran nichts. Denn dasselbe Argument gilt ja auch für die Moskauer Kommunisten: Sie hätten die DDR in die Freiheit entlassen können; so, wie sie 1956 Ungarn hätten in die Freiheit entlassen können. Daß sie das aus machtpolitischen Gründen nicht getan haben, ist allein ihnen anzulasten. Man kann den Überfall Hitlers auf Polen ja auch nicht damit rechtfertigen, daß er seinen Machtinteressen diente.



Am 13. August 1961 ereignete sich die Ungeheuerlichkeit, daß eine Staats- und Parteiführung sich entschied, ihre Staatsbürger einzusperren wie KZ-Insassen, weil immer mehr ihr sonst davongelaufen wären. Aber die kommunistische Propaganda hat diesen schlichten Sachverhalt zu vernebeln versucht; und nicht ohne Erfolg.

Die Propaganda der Kommunisten unterscheidet bekanntlich zwischen der Massenlinie und der Kaderlinie. Die Massenlinie legt fest, was man der Bevölkerung erzählt. Die Kaderlinie liefert Aufklärungen für Eingeweihte; keineswegs ungefilterte Informationen - wir sind auch hier im Bereich der Agitprop - , aber doch Agitation auf einer anderen Ebene: Es wird über Strategie und Taktik gesprochen. Nach dem Bau der Mauer gab es von Anfang an eine klare Trennung zwischen Massen- und Kaderlinie.

Die Massenlinie besagte, daß die Mauer gar nicht gegen die Flucht aus der DDR errichtet worden sei, sondern vielmehr, um das Eindringen von Agenten, Abwerbern usw. in die DDR zu unterbinden. Sie sei ein "antifaschistischer Schutzwall".

Das war nun wahrlich dreist und mag auch mehr auf die Wirkung im Ausland berechnet gewesen sein, wo man die wahren Verhältnisse weniger gut kannte. Für die DDR-Kader und die westdeutsche Linke wurde eine andere Linie ausgegeben: Die Mauer hätte gebaut werden müssen, um das "Ausbluten" der DDR zu verhindern. Unter ihrem Schutz würde man in Ruhe den Sozialismus aufbauen können.

Vor allem wurde argumentiert, daß viele DDR-Bürger, die dem Staat ablehnend gegenüberstanden, sich mit ihm jetzt arrangieren würden, wenn ihnen erst einmal der Ausweg einer Flucht versperrt wäre. Denn darüber, wie die Mehrheit der Bürger zum sozialistischen System stand, hatte man in der Führung der SED keine Illusionen. Ulbricht sagte im Juli 1961 vor dem ZK der SED:
Es ist bisher nicht gelungen, die Massen der Bevölkerung auch nur in den Grundfragen der Politik der Arbeiter- und Bauernmacht aufzuklären und zu überzeugen.
Es war das Prinzip einer Zwangsheirat mit der Erwartung, die Liebe werde schon in der Ehe kommen.

Diese Argumentation fiel damals in der westdeutschen Linken auf fruchtbaren Boden. Ich kann mich an manche Diskussion erinnern, in der nachgerade euphorisch ausgemalt wurde, wie jetzt unter dem Schutz der Mauer in der DDR die "sozialistische Demokratie" Einzug halten würde; wie nun, wo man sich seiner Ingenieure, Wissenschaftler, Akademiker sicher sein könnte, sich die "Produktivkräfte entfalten" und der Reichtum einziehen würde, den Marx doch für den Sozialismus versprochen hatte.

Bekanntlich geschah nichts davon, auch wenn es zeitweise gewisse Lockerungen gab. Da die meisten Menschen dem System nun nicht mehr entkommen konnten, brauchte die Führung sich erst Recht nicht an ihrem Bedürfnis nach Freiheit und ihrem Wunsch nach einem Lebensstandard wie im Westen zu orientieren.



Der Mauerbau wurde in dieser Propaganda also als die vorgebliche Voraussetzung für den Aufbau eines besseren Sozialismus gerechtfertigt. Inzwischen wird dieses Argument nur noch selten verwendet; die Geschichte hat es allzu deutlich widerlegt. Ganz im Vordergrund steht heute der Versuch, den Mauerbau überhaupt nicht primär als Reaktion auf die desolate Situation der DDR zu sehen, sondern als eine friedenspolitische Tat. Im "Neuen Deutschland" schreibt heute Stefan Bollinger:
DDR-Politiker und Militärs wie Heinz Kessler und Fritz Strelitz hoben jüngst hervor: "Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben". Tatsächlich: Krieg war die ultima ratio der antikommunistischen Strategie der USA und ihrer Verbündeten seit Beginn der 1950er Jahre. Der "Kommunismus" sollte gewaltsam ausgeschaltet und der Osten "befreit" werden, obschon Präsident Dwight D. Eisenhower als alter Militär der Risiken bewusst war.
In diesem Licht erscheint der Bau der Mauer nachgerade als eine friedenssichernde Maßnahme. Bollinger spricht von einem "Ausweg", der
das Problem der DDR lösen könnte – eine Grenzschließung. Denn sonst drohte deren Krise mit einer unkalkulierbaren Eigendynamik. Unruhen, gewaltsame Grenzdurchbrüche, westdeutsche Alleingänge hinsichtlich Hilfeleistungen – offiziell oder inoffiziell. Es war hohe Zeit für eine Lösung und der Osten handelte. Ein Krieg war vermieden worden.
Bezeichnenderweise ignoriert Bollinger die Frage, wie diese Kriegsgefahr - die sich ja dann gut ein Jahr später in der Cuba-Krise konkretisierte - denn entstanden war.

Es waren nicht die USA und nicht die NATO, die 1961 etwas am Status Quo ändern wollten. Es war die UdSSR, die sich als eine aufstrebende Macht sah.

Sie schickte mit dem Sputnik 1957 den ersten Erdsatelliten in den Orbit; Chruschtschow rühmte sich der sowjetischen Langstreckenraketen. Ende 1958 stellte er das Berlin-Ultimatum; es wurde die Errichtung einer Freien Stadt Westberlin innerhalb von sechs Monaten gefordert. 1960 polterte Chruschtschow in der UNO und hämmerte mit seinem Schuh auf den Tisch. Im April 1961 schickte die UdSSR den ersten Menschen in den Weltraum. Dann schließlich, neun Wochen vor dem Mauerbau, erneuerte Chruschtschow bei dem Treffen mit Kennedy am 3./4. Juni 1961 in Wien das Berlin-Ultimatum.

Es stimmt, daß dieses riskante Machtspiel Chruschtschows die unmittelbare Gefahr eines Kriegs beschwor; so wie erneut im Oktober 1962, als er mit der Stationierung von Raketen auf Cuba das strategische Gleichgewicht zwischen den USA und der UdSSR kippen wollte. Und es stimmt auch, daß Kennedy mit seinen Three Essentials vom 25. Juli 1961 die Garantien der USA ausdrücklich auf Westberlin beschränkte.

Das machte den Mauerbau möglich, weil das Risiko danach Chruschtschow vertretbar erschien, so daß er Ulbricht das von diesem schon lange erbetene grüne Licht gab. (Ende Oktober 1961 standen sich dann doch am Checkpoint Charly die russischen und amerikanischen Panzer schußbereit gegenüber).

Aber das ändert ja nichts an den Verantwortlichkeiten. Die Ursache für die Fluchtbewegung aus der DDR war der Aufbau des Sozialismus. Die Ursache für die Kriegsgefahr, die durch den Bau der Mauer abgewendet wurde, war der Versuch Chruschtschows, den Status Quo zugunsten der Sowjetunion zu verändern.
Zettel



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