6. August 2011

Marginalie: " Unser Bildungssystem ist leistungs- und technikfeindlich". Deutschlands wahre Bildungskatastrophe und die neuen gesellschaftlichen Werte

Wenn ein Sozialwissenschaftler das zu geringe Interesse für Technik und Naturwissenschaften beklagt, dann ist das schon etwas Bemerkenswertes. Gerd Held hat es jetzt getan. Held ist habilitierter Sozialwissenschaftler. Seinen Artikel können Sie in "Welt-Online" lesen.

"Unser Bildungssystem ist leistungs- und technikfeindlich" heißt es im Vorspann. Held begründet dieses vernichtende Verdikt so:
Die Wirtschaft beklagt einen dramatischen Mangel bei qualifizierten Fachkräften, insbesondere bei Ingenieuren und Facharbeitern in der Industrie. (...) Die politische Diskussion über diesen Notstand geht am Bildungswesen fast völlig vorbei. (...) Dabei läge die Frage doch nahe, warum eigentlich das Bildungssystem die Qualifikationen nicht hervorbringt, die so dringend gebraucht werden?

Fragt man so, stößt man oft auf frappierende Zahlen: Bei den Hochschulabsolventen ist der Anteil der Ingenieure im Zeitraum von 1992 bis 2008 von 22 auf 18 Prozent gesunken. Der ganze sogenannte MINT-Sektor (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Ingenieurwissenschaften) hat, trotz Informatik-Boom, an Gewicht verloren. Es gibt also nicht zu wenig Bildung, sondern offenbar die falsche Bildung. (...)

Um die Lücke bei den naturwissenschaftlich-technischen Berufen zu schließen, würde es genügen, wenn das Bildungssystem zu den Fächerquoten zurückkehrte, die in früheren Jahrzehnten Geltung hatten. Die ganze Mobilisierungs-Debatte über deutsche Arbeitslose oder Migranten wäre überflüssig, wenn das Bildungssystem vernünftig seine Arbeit machte.
Warum finden die MINT-Fächer bei deutschen Abiturienten immer weniger Interesse? Am Angebot von Studienplätzen liegt es nicht. In den Hörsälen der einschlägigen Fächer herrscht teilweise gähnende Leere. An der TU Dresden zum Beispiel kann man das Fach Kernenergie studieren; dafür steht sogar ein eigener Ausbildungsreaktor zur Verfügung. Der "Spiegel"-Reporter Thomas Hüetlin hat sich im April dieses Jahres dort umgesehen und berichtet:
Am Kontrollpult des Ausbildungskernreaktors sitzt Robert Schneider. Er trägt einen hellgelben Kittel und blaue Schutzpuschen über schweren schwarzen Stiefeln. Schneider studiert an der TU im 11. Semester, er ist 27 Jahre alt. Es seien nicht viele, die sich auf das Fach Kernenergie spezialisiert haben, sagt Schneider. In seinem Jahrgang hat er zehn Kommilitonen gezählt. In manchen Vorlesungen sitzen nur drei.
Das war die Situation, wie sie schon vor dem Unfall von Fukushima bestanden hatte. In einem der großen Industrieländer mit einer (noch) bedeutenden Nuklearindustrie gibt es kaum junge Leute, die sich für das Studium der Kernenergie interessieren. In anderen MINT-Fächern sieht es kaum besser aus. Im Dezember 2010 schrieb das "Institut der deutschen Wirtschaft":
Die 2,1 Millionen erwerbstätigen Akademiker, die ein Studium der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik absolviert haben, vergreisen zunehmend. So stehen beispielsweise 100 Mathematikern zwischen 56 und 65 Jahren nur 95 jüngere bis 35 Jahre gegenüber; bei den Elektrotechnikern sind es 88 Jüngere. Am ungünstigsten ist das Verhältnis bei den Maschinenbauingenieuren, wo auf 100 ältere Kollegen lediglich 77 jüngere kommen. Darüberhinaus scheiden in den nächsten Jahren immer mehr MINT-Akademiker altersbedingt aus dem Erwerbsleben aus: Im Jahr 2025 werden knapp 50 Prozent mehr MINTler in den Ruhestand gehen als heute. (...)

Zwar steigen die Absolventenzahlen in den MINT-Fächern seit Anfang des Jahrzehnts wieder. Viele dieser Akademiker stehen dem deutschen Arbeitsmarkt aber nicht zur Verfügung – weil sie sogenannte Bildungsausländer sind. Für diese Absolventen, die ihre Hochschulzugangsberechtigung in einem anderen Land erworben haben, gelten Beschränkungen bei der Aufnahme einer Beschäftigung sowie ein begrenztes Aufenthaltsrecht. In den Ingenieurwissenschaften betrifft dies jeden zweiten zusätzlichen Absolventen seit 2000. Über alle Studiengänge hinweg verlassen laut OECD mehr als zwei Drittel der Bildungsausländer aus Nicht-EU-Staaten Deutschland nach Studienende wieder.
In Deutschland zu studieren ist attraktiv, dank geringer oder ganz fehlender Studiengebühren. Deutsche Studienplätze werden gern genommen. Unserer Wirtschaft bringt das vergleichsweise wenig, wenn das Ergebnis nicht Wissenschaftler und Ingenieure sind, die auch in Deutschland arbeiten.



Wenn es nicht an den Studienmöglichkeiten liegt - woher kommen dann die zu geringen Studentenzahlen in den MINT-Fächern? Solche Fragen lassen sich meist auf verschiedenen Ebenen beantworten; und meist ist es schwierig oder unmöglich, empirisch zu prüfen, ob eine Antwort richtig ist.

Gerd Held sieht vor allem ein Defizit in unserem Schulsystem, das Leistung zu wenig belohnt. Und die MINT-Fächer sind nun einmal leistungsorientiert; sie verlangen Büffeln und stringentes Denken. Held konstatiert, daß "die Normen des Bildungssystems aufgeweicht werden":
So geht die abnehmende Beliebtheit bestimmter anstrengender Fächer einher mit der Entwertung der Zensuren und mit der Einebnung der Schulstufen. Wo klare Leistungsmaßstäbe verloren gehen, gehört naturgemäß derjenige Bildungszweig zu den Verlierern, bei dem exaktes Messen eine große Rolle spielt – der Zweig der technisch-naturwissenschaftlichen Fächer.
Das dürfte wohl richtig sein; aber aus dieser Antwort ergibt sich natürlich sofort wieder eine Frage: Woher kommt denn dieses Verlorengehen klarer Leistungsmaßstäbe?

Leistung muß sich lohnen, so lautet das Schlagwort. Die Zahl der jungen Leute, die für ein Studium im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich begabt sind, dürfte heute nicht niedriger sein als vor einem halben Jahrhundert. Vermutlich ist auch das Interesse an Technik nicht geringer; vielleicht nicht einmal das an Mathematik und Naturwissenschaften. Aber wie sieht es mit dem Sich-Lohnen aus?

Lange bevor sie ein eventuelles Studium abschließen und in einem MINT-Fach möglicherweise gutes Geld verdienen, erleben die jungen Leute, wie wenig diese Fächer in unserer Gesellschaft gelten. Mit Ausnahme der Biologie und der Informatik (wo auch tatsächlich die Studentenzahlen vergleichsweise gut sind) haben sie durch die Bank einen schlechten Ruf.

Physik? Igitt, das hat doch mit Atomen zu tun. Chemie? Ist schlecht in Lebensmitteln, bläst Gifte in die Luft. Mathematik? Versteht kein normaler Mensch. (Siehe dazu Über Leonhard Euler; nebst Anmerkungen zur Mathematik; ZR vom 19. 6. 2007, sowie Zettels OsterfragerEi (2): Warum gilt die Mathematik als grau und langweilig?; ZR vom 20. 5. 2008).

Wir leben in einer Gesellschaft, deren Wertesystem sich von dem, was als "hart" gilt, zunehmend zu dem hin verschiebt, was als "sanft" gilt.

Gut ist sanfte Energie, ist das leichte Essen, ist die Theologie der Nettigkeit, wie Margot Käßmann sie perfekt personifiziert; gut ist ist das Schonende, das Gefühlvolle, das Intuitive und das Bauchgefühl. Schlecht ist das Harte, das Verkopfte, die "kalte Technik", der "gefühllose Umgang mit der Natur".

Aber Naturgesetze sind nun einmal nicht eine Frage des Bauchgefühls. Die Statik für ein Brückenbauwerk kann man nicht intuitiv erfassen. Die Mathematik ist zwar etwas Schönes, aber um sie zu verstehen muß man zunächst einmal, ganz verkopft, seinen Verstand gebrauchen.



Gesellschaftliche Entwicklungen hängen von solchen Wertesystemen ab. Der außerordentliche Aufschwung der Natur- und Ingenieurwissenschaften, dem Deutschland seinen heutigen Reichtum verdankt, reichte von ungefähr der Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts bis kurz nach der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts; vom Ende des Biedermeier bis zum Beginn der neuen Innerlichkeit mit der Hippie-Bewegung der sechziger Jahre.

Nationen können von solchen Perioden des Aufschwungs noch eine gewisse Zeit zehren. Der Abstieg kann unterschiedlich schnell verlaufen. Die kollektive Besoffenheit, mit der die Deutschen freiwillig auf eine ihrer wichtigsten Industrien im Bereich der Hochtechnologie verzichtet haben, legt die Prognose nahe, daß es bei uns eher schnell gehen wird.
Zettel



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