Im Bayerischen Rundfunk, der das nach meinem Dafürhalten mit Abstand beste Programm aller Dritten anbietet, läuft eine Serie namens anno, wochentags von 14 bis 15 Uhr. Renate Herzberger stellt darin Reportagen und dergleichen aus den Archiven des BR vor. Am Anfang gibt es immer einen Sketch mit Karl Valentin. Allein das lohnt das Einschalten.
Die Valentin-Kurzfilme, die ich bisher in dieser Serie gesehen habe, stammen aus den dreißiger Jahren. Die Reportagen kommen im Augenblick meist aus den sechziger Jahren. Beim Ansehen ist mir etwas aufgefallen, was Zeithorizonte angeht.
Zwischen Valentins "Im Senderaum" von 1937 und, sagen wir, der Reportage über das verborgene München von 1958 lagen nur zwei Jahrzehnte. Diese Reportage liegt jetzt schon ein halbes Jahrhundert zurück.
Trotzdem war der Valentin-Film für mich entfernteste Vergangenheit, während mir alles in der Reportage ganz vertraut vorkam; allenfalls mit der Reaktion: Ach, so lange ist das schon her?
Das liegt natürlich daran, daß ich 1937 noch nicht geboren war, das Jahr 1958 aber bewußt erlebt habe.
Es gibt in der Art, wie die Vergangenheit für uns repräsentiert ist, eine Zäsur zwischen dem, was mit eigener Erfahrung unterfüttert - angereichert, durch Bilder konkretisiert - ist und allem dem anderen, was davor liegt.
Diese Zäsur könnte schärfer nicht sein. Das Jahr 1937 ist mir in dieser Hinsicht so fremd wie die Iden des März des Jahres 44 v.Chr.
In dieser Hinsicht. Nur in dieser Hinsicht Denn es gibt noch drei andere Zeithorizonte, die die Vergangenheit gliedern.
Den einen gab es schon immer, obwohl sein Umfang im Lauf der Jahrhunderte etwas variierte. Die Spanne dessen, über das man Berichte von Zeitzeugen kennt, markiert diesen zweiten Zeithorizont. Die Grenze liegt also bei dem, was die Großeltern, vielleicht die Urgroßeltern dem Kind im schon aufnahmefähigen Alter über ihre Jugend erzählten. Oral History nennt man das heute, wenn sich die Wissenschaft dafür interessiert.
In seinem Radio-Essay über den Mammut-Roman "Hundert Jahre" von Heinrich Oppermann hat Arno Schmidt darauf aufmerksam gemacht, daß dieser Zeithorizont in der Größenordnung von hundert Jahren liegt.
Man erinnert sich an das, was die Großeltern über die Vergangenheit erzählten, als man Kind war. Sagen wir, jemand ist jetzt fünfzig Jahre alt. Der Zeithorizont seiner eigenen bewußten Erinnerung an Gesellschaft, an Politik mag dann gut vierzig Jahre betragen, zurück ins Alter von zehn Jahren. Als er zehn Jahre war, war der Großvater vielleicht siebzig und erzählte von der Zeit, als er selbst zehn Jahre gewesen war; weitere sechzig Jahre zurück. Macht eine Spanne von rund hundert Jahren.
Natürlich ist das nur eine grobe Größenordnung. Aber es sind eben für die meisten von uns keine fünfzig und auch keine hundertfünfzig Jahre, die dieser zweite Zeithorizont zurückliegt.
Für mich liegt er bei der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert.
Meine Großeltern haben von der Pferdebahn erzählt, von den rauschenden Festen, als 1900 das neue Jahrhundert begangen wurde. Mein Großvater hat erzählt, wie er als kaufmännischer Lehrling fünfmal am Tag "dem Briefträger entgegenlaufen" mußte, damit die Post ein paar Minuten früher im Kontor eintraf. Bilder zeigen ihn mit einem hochgezwirbelten Wilhelm- II -Schnurrbart; "Es ist erreicht" nannte man diesen Schnurrbart, weil es nicht so leicht war, die Spitzen zum Hochstehen zu bringen. Erzählte jedenfalls mein Großvater.
Bis vor rund einem Jahrhundert waren dies die beiden hauptsächlichen Zeithorizonte. Jetzt ist ein dritter hinzugekommen: Die Spanne dessen, was im Film, später als archivierte TV-Sendung, dokumentiert ist.
Wie es auf dem römischen Forum zuging, in den Pfalzen Karls des Großen oder am Hof von Versailles - davon können wir uns nur ein vages Bild machen, anhand von Gemälden und Berichten. Aber den Kaiser Wilhelm II, den Präsidenten Teddy Roosevelt, den Präsidenten Hindenburg können wir im Film erleben, wie sie reden, wie sie sich bewegen. Wie das Berlin der Zwanziger aussah, wie man in den dreißiger Jahre die Ernte einfuhr - das ist alles in Filmen dokumentiert.
Es ist damit auf eine ganz andere Art wirkliche Vergangenheit als alles, was davor liegt. Die Zäsur, die dieser dritte Zeithorizont markiert, ist vielleicht nicht ganz so scharf wie die des Selbsterlebten und der Oral History, aber sie ist doch auch sehr deutlich. Für mich jedenfalls, der ich sehr in Bildern denke. Bei anderen mag das anders sein.
Und schließlich ein vierter Zeithorizont, der für viele Menschen wohl keine Rolle spielt, für manche, wie mich, aber eine sehr erhebliche: der Horizont des schriftlich Überlieferten.
Platon und Aristoteles sind mir vertraute Autoren. Ich kann versuchen, ihre Überlegungen, ihre Argumente nachzuvollziehen; ich kann mich an der Schönheit der Sprache Platons erfreuen. Aber die Vorsokratiker? Keine ihrer Schriften ist in toto erhalten. Wir kennen sie nur aus Zitaten, aus Fragmenten, die aus anderen, oft sehr viel späteren Werken zusammengestellt wurden.
Was sie gedacht haben, das können wir im Grunde nicht lesen, sondern allenfalls rekonstruieren. Und erst recht gilt das für die Zeiten, aus denen nur Inschriften, auf Tontafeln gekerbte Rechnungen, anonyme Texte erhalten sind.
Und wie sieht es mit der Zukunft aus? Gibt es da auch solche Zeithorizonte? Ja, wenn auch weniger klar abgegrenzt. Für Ernst Bloch ist die Art, wie dieses "Noch nicht" für uns psychisch präsent ist, das Lebensthema gewesen.
Es gibt die Spanne dessen, was wir noch selbst zu erleben hoffen können - je nach Alter, je nach Gesundheitszustand also viele oder wenige Jahrzehnte, gegen Ende nur noch Jahre. Dafür interessieren wir uns auf eine spezifische Weise, selbstredend.
Es gibt sodann die Spanne dessen, was die eigenen jetzt lebenden Nachkommen wahrscheinlich erleben werden. Das reicht um vielleicht ein halbes Jahrhundert über den eigenen Zukunftshorizont hinaus; plus minus ein paar Jahrzehnte.
Und dann gibt es noch die Spanne dessen, womit sich die Zukunftsforschung, womit sich die Science Fiction befaßt.
Das verliert sich dann freilich, in den Jahrhunderten, den Jahrtausenden. In noch viel größeren zeitlichen Größenordnungen, wenn jemand sich Gedanken darüber macht, daß irgendwann die Ressourcen der Erde erschöpft sein werden, daß die Sonne einmal die Hauptreihe der Sterne verlassen und erst zum Roten Riesen und dann zum Weißen Zwerg werden wird.
Aber gemach. Bis dahin sind es noch ungefähr fünf Milliarden Jahre.
Die Valentin-Kurzfilme, die ich bisher in dieser Serie gesehen habe, stammen aus den dreißiger Jahren. Die Reportagen kommen im Augenblick meist aus den sechziger Jahren. Beim Ansehen ist mir etwas aufgefallen, was Zeithorizonte angeht.
Zwischen Valentins "Im Senderaum" von 1937 und, sagen wir, der Reportage über das verborgene München von 1958 lagen nur zwei Jahrzehnte. Diese Reportage liegt jetzt schon ein halbes Jahrhundert zurück.
Trotzdem war der Valentin-Film für mich entfernteste Vergangenheit, während mir alles in der Reportage ganz vertraut vorkam; allenfalls mit der Reaktion: Ach, so lange ist das schon her?
Das liegt natürlich daran, daß ich 1937 noch nicht geboren war, das Jahr 1958 aber bewußt erlebt habe.
Es gibt in der Art, wie die Vergangenheit für uns repräsentiert ist, eine Zäsur zwischen dem, was mit eigener Erfahrung unterfüttert - angereichert, durch Bilder konkretisiert - ist und allem dem anderen, was davor liegt.
Diese Zäsur könnte schärfer nicht sein. Das Jahr 1937 ist mir in dieser Hinsicht so fremd wie die Iden des März des Jahres 44 v.Chr.
In dieser Hinsicht. Nur in dieser Hinsicht Denn es gibt noch drei andere Zeithorizonte, die die Vergangenheit gliedern.
Den einen gab es schon immer, obwohl sein Umfang im Lauf der Jahrhunderte etwas variierte. Die Spanne dessen, über das man Berichte von Zeitzeugen kennt, markiert diesen zweiten Zeithorizont. Die Grenze liegt also bei dem, was die Großeltern, vielleicht die Urgroßeltern dem Kind im schon aufnahmefähigen Alter über ihre Jugend erzählten. Oral History nennt man das heute, wenn sich die Wissenschaft dafür interessiert.
In seinem Radio-Essay über den Mammut-Roman "Hundert Jahre" von Heinrich Oppermann hat Arno Schmidt darauf aufmerksam gemacht, daß dieser Zeithorizont in der Größenordnung von hundert Jahren liegt.
Man erinnert sich an das, was die Großeltern über die Vergangenheit erzählten, als man Kind war. Sagen wir, jemand ist jetzt fünfzig Jahre alt. Der Zeithorizont seiner eigenen bewußten Erinnerung an Gesellschaft, an Politik mag dann gut vierzig Jahre betragen, zurück ins Alter von zehn Jahren. Als er zehn Jahre war, war der Großvater vielleicht siebzig und erzählte von der Zeit, als er selbst zehn Jahre gewesen war; weitere sechzig Jahre zurück. Macht eine Spanne von rund hundert Jahren.
Natürlich ist das nur eine grobe Größenordnung. Aber es sind eben für die meisten von uns keine fünfzig und auch keine hundertfünfzig Jahre, die dieser zweite Zeithorizont zurückliegt.
Für mich liegt er bei der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert.
Meine Großeltern haben von der Pferdebahn erzählt, von den rauschenden Festen, als 1900 das neue Jahrhundert begangen wurde. Mein Großvater hat erzählt, wie er als kaufmännischer Lehrling fünfmal am Tag "dem Briefträger entgegenlaufen" mußte, damit die Post ein paar Minuten früher im Kontor eintraf. Bilder zeigen ihn mit einem hochgezwirbelten Wilhelm- II -Schnurrbart; "Es ist erreicht" nannte man diesen Schnurrbart, weil es nicht so leicht war, die Spitzen zum Hochstehen zu bringen. Erzählte jedenfalls mein Großvater.
Bis vor rund einem Jahrhundert waren dies die beiden hauptsächlichen Zeithorizonte. Jetzt ist ein dritter hinzugekommen: Die Spanne dessen, was im Film, später als archivierte TV-Sendung, dokumentiert ist.
Wie es auf dem römischen Forum zuging, in den Pfalzen Karls des Großen oder am Hof von Versailles - davon können wir uns nur ein vages Bild machen, anhand von Gemälden und Berichten. Aber den Kaiser Wilhelm II, den Präsidenten Teddy Roosevelt, den Präsidenten Hindenburg können wir im Film erleben, wie sie reden, wie sie sich bewegen. Wie das Berlin der Zwanziger aussah, wie man in den dreißiger Jahre die Ernte einfuhr - das ist alles in Filmen dokumentiert.
Es ist damit auf eine ganz andere Art wirkliche Vergangenheit als alles, was davor liegt. Die Zäsur, die dieser dritte Zeithorizont markiert, ist vielleicht nicht ganz so scharf wie die des Selbsterlebten und der Oral History, aber sie ist doch auch sehr deutlich. Für mich jedenfalls, der ich sehr in Bildern denke. Bei anderen mag das anders sein.
Und schließlich ein vierter Zeithorizont, der für viele Menschen wohl keine Rolle spielt, für manche, wie mich, aber eine sehr erhebliche: der Horizont des schriftlich Überlieferten.
Platon und Aristoteles sind mir vertraute Autoren. Ich kann versuchen, ihre Überlegungen, ihre Argumente nachzuvollziehen; ich kann mich an der Schönheit der Sprache Platons erfreuen. Aber die Vorsokratiker? Keine ihrer Schriften ist in toto erhalten. Wir kennen sie nur aus Zitaten, aus Fragmenten, die aus anderen, oft sehr viel späteren Werken zusammengestellt wurden.
Was sie gedacht haben, das können wir im Grunde nicht lesen, sondern allenfalls rekonstruieren. Und erst recht gilt das für die Zeiten, aus denen nur Inschriften, auf Tontafeln gekerbte Rechnungen, anonyme Texte erhalten sind.
Und wie sieht es mit der Zukunft aus? Gibt es da auch solche Zeithorizonte? Ja, wenn auch weniger klar abgegrenzt. Für Ernst Bloch ist die Art, wie dieses "Noch nicht" für uns psychisch präsent ist, das Lebensthema gewesen.
Es gibt die Spanne dessen, was wir noch selbst zu erleben hoffen können - je nach Alter, je nach Gesundheitszustand also viele oder wenige Jahrzehnte, gegen Ende nur noch Jahre. Dafür interessieren wir uns auf eine spezifische Weise, selbstredend.
Es gibt sodann die Spanne dessen, was die eigenen jetzt lebenden Nachkommen wahrscheinlich erleben werden. Das reicht um vielleicht ein halbes Jahrhundert über den eigenen Zukunftshorizont hinaus; plus minus ein paar Jahrzehnte.
Und dann gibt es noch die Spanne dessen, womit sich die Zukunftsforschung, womit sich die Science Fiction befaßt.
Das verliert sich dann freilich, in den Jahrhunderten, den Jahrtausenden. In noch viel größeren zeitlichen Größenordnungen, wenn jemand sich Gedanken darüber macht, daß irgendwann die Ressourcen der Erde erschöpft sein werden, daß die Sonne einmal die Hauptreihe der Sterne verlassen und erst zum Roten Riesen und dann zum Weißen Zwerg werden wird.
Aber gemach. Bis dahin sind es noch ungefähr fünf Milliarden Jahre.
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