14. August 2011

Zitat des Tages: "Bedürfnis nach sofortiger Genugtuung". Gina Thomas in der FAZ über die Ursachen der englischen Krawalle

Sie rühren nicht zuletzt von dem Bedürfnis nach sofortiger Genugtuung her, das die Überflussgesellschaft auch bei denen geweckt hat, die sich die Konsumgüter nicht leisten können und gleichzeitig wenig Antrieb haben, sie sich durch ehrliche Arbeit zu verdienen.
Gina Thomas in der Wochenendausgabe der FAZ über die Ursachen der Krawalle in England unter der Überschrift "Die Randalierer und ihre Vorbilder".

Kommentar: Gina Thomas, 1957 als Tochter eines deutschen Vaters und einer englischen Mutter in Düsseldorf geboren, berichtet seit 1986 für das Feuilleton der FAZ aus London. Ihr Artikel ist herausragend. Er ist herausragend in dem Sinn, daß er aus dem klischeehaften Gerede herausragt, das die deutsche Berichterstattung über die Krawalle in England beherrscht (siehe Erst Breivik, jetzt England: Klischees statt Analysen zur Erklärung von Gewalttaten; ZR vom 11. 8. 2011).

Armut, Perspektivlosigkeit, neoliberale Kaltherzigkeit seien die Ursachen für diese Taten, können wir überall in unseren Medien hören oder lesen; in der heutigen F.A.S. auch aus der Feder von Gina Thomas' Kollegen Hendrik Ankenbrand:
Vielmehr dürfte es sich um das Gefühl der Ungerechtigkeit einer immer undurchlässigeren Gesellschaft handeln, das der explosiven Stimmung den Boden bereitet: der Eindruck, abgehängt zu sein. Knallt es aus irgendeinem Grund, liefert das Sparprogramm der Regierung den Zündstoff, der auch das Nachbarhaus in Brand steckt. Das eigene Lebensumfeld zerstören wie in Hackney - das ist kein Nihilismus, das ist das Gesicht von Perspektivlosigkeit.
"Abgehängt" und "Perspektivlosigkeit". Das ist das Klischee, das sind die Stichwörter, die sich dem Redakteur Hendrik Ankenbrand aus der Sicht seines Redaktionssessels in Frankfurt aufdrängen. Aber sind sie denn überhaupt abgehängt, die randalierenden Kriminellen? Leiden sie unter einem Mangel an Perspektiven? Wenig spricht dafür. Sehr viel spricht dafür, daß es ihnen durchaus gut geht und sie sehr wohl Perspektiven haben. Freilich keine sozialverträglichen.

Gina Thomas beschreibt zunächst das Lumpenproletariat des 19. Jahrhunderts in England und fährt dann fort:
Im Unterschied zu damals aber müssen die randalierenden Jugendlichen, deren Uniform das Kapuzensweatshirt ist, von dem der Sammelbegriff "Hoodie" abgeleitet wird, nicht hungern. Sie besitzen Blackberrys und streunen auf schicken Rädern durch die Stadt. (...)

Die Abhängigkeit vom Wohlfahrtsstaat hat die heutige Unterschicht zur Bequemlichkeit erzogen. Oft vaterlos und ohne moralische Instanzen aufgewachsen, schlecht ausgebildet, aber mit der Einstellung ausgestattet, dass die Gesellschaft ihnen etwas schuldig sei, lassen sich die Jugendlichen in sozial schwachen Milieus in die Kriminalität treiben, wo größere Gewinne locken als durch ehrliche Arbeit. (...)

Rollenvorbilder sind weder die Lehrer noch die Eltern, sondern die Bandenführer in den Sozialsiedlungen, die wiederum nach dem Lebensstil von Fußballstars und Bankern trachten. Viele Kommentatoren weisen jetzt darauf hin, wie sich diese Unterschicht an der Habgier der Boni-Banker und spesenritterlichen Abgeordneten ein Vorbild genommen habe, die ungeschoren davon gekommen seien.


Gewiß wäre es unergiebig, einfach nur den moralischen Zeigefinger zu heben und diese Jugendlichen zu verdammen, weil sie so sind, wie sie geworden sind. Natürlich gibt es Faktoren, die ursächlich dafür sind, das eine solche moralische Verlotterung, eine derartige Neigung zur Gesetzlosigkeit sich entwickelt. Für sein Handeln ist jeder Kriminelle selbst verantwortlich; aber begünstigende Faktoren gibt es in der Regel (siehe Der Mörder Breivik, Henryk M. Broder und die gefährliche Nähe der extremen Linken zum Terrorismus (Teil 2); ZR vom 5. 8. 2011).

Viele Soziologen neigen dazu, die Ursachen für Verbrechen grundsätzlich in sozialer Benachteiligung zu suchen. Sie fragen, welche Faktoren denn die Kriminellen zu ihrem Verhalten veranlassen und vermuten Ursachen wie Armut, schlechte Bildungsangebote, den neuerdings besonders gern ins Feld geführten Mangel an Perspektiven.

Fruchtbarer ist es aber, zu fragen, welche Faktoren denn dafür verantwortlich sind, daß Menschen sich gesetzestreu verhalten, und warum bei Kriminellen diese Faktoren nicht ausreichend wirksam sind. Dabei ist, in einer groben Gliederung, an diese Faktoren zu denken:
  • Angst vor Strafe. Auch Ankenbrand weist darauf hin, daß einer der entscheidenden Faktoren das Risiko ist, verhaftet zu werden.

  • Scham; Angst vor Ehrverlust. Vor allem in traditionellen Gesellschaften ist Ehrverlust oft schlimmer als eine Strafe. Man verhält sich gesetzestreu, weil man sein Gesicht nicht verlieren, weil man nicht seines sozialen Rangs verlustig gehen will, weil man sich nicht schämen müssen will. Auch dort, wo die staatliche Ordnung wenig gilt, funktionieren diese sozialen Sanktionen als Mechanismen der Verhinderung von Kriminalität oft; "Ganovenehre" sorgt dafür, daß innerhalb des Milieus bestimmte Taten unterbleiben.

  • Mitleid. Es gibt, als unser evolutionäres Erbe, die Fähigkeit, uns in das Leiden anderer einzufühlen (Empathie). Sie ist bei einzelnen Individuen unterschiedlich entwickelt. Gefühlsarme Psychopathen scheinen bei der Empathie ein Defizit zu haben; bis hin zu der barbarischen Unmenschlichkeit, wie sie Anders Breivik an den Tag legte.

  • Gewissensbildung. Die meisten von uns würden auch dann kein Verbrechen begehen, wenn sie sicher sein könnten, straflos davonzukommen, und wenn sie auch nicht mit sozialen Sanktionen rechnen müßten. Es wäre gegen das Gewissen. Man tut nicht etwas, das nach den eigenen Maßstäben schlecht, böse, das zu verurteilen ist. Ein wesentlicher Faktor bei der Gewissensbildung sind Vorbilder; sei es der Vater oder eine andere Bezugsperson (das hat Sigmund Freud betont), sei es die peer group der Gleichaltrigen, wie es spätere Forscher untersucht haben.
  • Bei derartigen Faktoren wäre anzusetzen, wenn man die Ursachen von Krawallen wie jetzt in London oder vor einigen Jahren in der banlieue der französischen Städte verstehen will. Gina Thomas weist darauf hin, daß viele der Täter ohne Vater als Vorbild aufwachsen. Von peer groups lernen sie soziales Verhalten; aber nicht im Sinn des Respekts vor den Gesetzen. Sofern sie Nachkommen von Einwanderern sind, haben sie oft die Werte der Kultur, aus der ihre Vorfahren kommen, abgelegt; ohne daß sie die Werte der westlichen Kultur für sich akzeptieren würden.

    Warum werden diese naheliegenden Faktoren in unseren Medien so wenig berücksichtigt? Es scheint, daß viele Journalisten - und auch nicht wenige Wissenschaftler - blind für sie sind, weil sie vom marxistischen Denken beeinflußt sind; selbst dann, wenn sie sich selbst nicht unbedingt als Marxisten sehen. Daß der Kern des Gesellschaftlichen die Ökonomie sei und nicht Werte, Moral, Überzeugungen mit ihrer verhaltenssteuernden Funktion - das ist ein von Karl Marx vertretenes Vorurteil, das zu überwinden offenbar vielen schwerfällt. Es ist Ideologie; also, marxistisch gesprochen, "falsches Bewußtsein".
    Zettel



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