13. Dezember 2007

Randbemerkung: Wird die Schweiz jetzt normal?

Zugegeben, das ist etwas flapsig formuliert. Wahrscheinlich werden die Schweizer unter den Lesern dieses Blogs den Kopf schütteln, wenn sie es lesen.

Aber schauen Sie, liebe Schweizer, dann geht es Ihnen nicht anders, als es mir über die Jahrzehnte gegangen ist.



Seit ich begonnen habe, meine Nase in Zeitungen und Zeitschriften zu stecken, ist mir die Schweiz als nicht nur das Mutterland der Demokratie erschienen, sondern als deren Tochter, Enkelin, Urenkelin dazu.

Allerdings mit einer Ausnahme. Über die ich sehr oft den Kopf geschüttelt habe.


Vorbildlich ist, so sehe ich es bis heute, der Föderalismus, der wirklich einer ist. Wie in den USA, aber wie in der Bundesrepublik nicht so ganz. Vorbildlich insbesondere das Subsidiaritätsprinzip, das den Kantonen, den Gemeinden viel Freiheit läßt, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln.

Vorbildlich ist vielleicht auch die direkte Demokratie der Initiativen und Referenden, gar der Landsgemeinden in einigen Kantonen, bei denen sich die Bürger leibhaftig versammeln, um politische Entscheidungen zu treffen.

"Vielleicht" deshalb, weil ich meine Zweifel an der Weisheit der direkten Demokratie habe, die in der Regel dazu führt, daß eine politisch aktive Minderheit die Entscheidungen trifft. Aber in der Schweiz scheint sie ja ganz gut zu funktionieren, die direkte Demokratie. Vorbildlich also, sagen wir, - für die Schweiz.



So weit, so gut. Aber da gibt - nein, gab! - es nun auch noch - und zwar seit fast einem halben Jahrhundert - etwas, das mir ganz und gar nicht vorbildlich vorkommt: Die Zauberformel. Und dahinter, mit einer noch längeren Tradition, das Prinzip der Konkordanz.

Seit 1959 ist es in der Schweiz, nein nicht Gesetz, aber Usus, daß alle großen Parteien an der Regierung sind - nicht nacheinander, wie anderswo, sondern zugleich!

Sie bilden eine Art Riesengroße Koalition.

Die Ministerien werden nach der Zauberformel - einem Ämter- Schlüssel - verteilt, und dann wird bei jeder Entscheidung nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner gesucht; das ist das Prinzip der Konkordanz. Es hat in der Schweiz Tradition seit gut hundert Jahren, als man politische Konflikte dadurch zu lösen begann, daß alle einmal mitregieren durften.



Das blieb so bist gestern. Die Linken von der SP und die Rechtspopulisten von der SVP bekämpften sich zwar lautstark, aber sie saßen gemeinsam im Bundesrat, wie in der Schweiz die Regierung heißt. So sollte es eigentlich auch nach den letzten Wahlen weitergehen; same procedure als last year, same procedure als every year.

Aber seit gestern ist das Geschichte. Denn gestern wurde Christoph Blocher von der SVP bei der, wie das in der Schweiz heißt, "Gesamterneuerungswahl des Bundesrates" nicht als Justizminister (Bundesrat) wiedergewählt. Daraufhin ging seine Partei in die Opposition, auch wenn ihr Mitglied Frau Widmer- Schlumpf sich an Blochers Statt zur Bundesrätin wählen ließ.



Und?

Ich habe heute Nachmittag in SF1 einen längeren Ausschnitt aus der Erklärung Blochers vor der Vereinigten Bundesversammlung (Nationalrat und Ständerat) gehört. Er sagte - ich zitiere das jetzt nach der NZZ - :
Es sei die Rede gewesen von Konkordanz, Kollegialität, Amtsgeheimnis - "sehr oft, um viel Dreck und Dinge zuzudecken, die niemand sehen durfte".
Seien Sie mir bitte nicht böse, liebe Leser in der Schweiz - aber genauso hat sich der Kleine Moritz in mir immer diese Schweizer Regierungsform vorgestellt.

Wie kann es denn anders sein, wenn es keine starke Opposition gibt? Wie kann es anders sein, als daß alles Wichtige hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wird, daß man einen mehr oder weniger faulen Kompromiß findet, den dann alle nach außen "mittragen", ohne sich noch zu streiten?

Kollegialität eben. Kein funktionierendes Gremium trägt seine Konflikte nach außen. Konkordanz eben; Gegensätze werden unter den Teppich gekehrt. Und das Amtsgeheimnis - wenn jemand geneigt sein sollte, doch an die Öffentlichkeit zu gehen, dann verhindert das dieses Amtsgeheimnis.



Liebe Schweizer, ich gratuliere Ihnen, daß Sie jetzt eine ernst zu nehmende Opposition im Parlament haben. Ich beglückwünsche Sie dazu, daß es jetzt eine starke Fraktion im Nationalrat gibt, die ihre Aufgabe darin sehen wird, nicht mitzuregieren, sondern der Regierung auf die Finger zu sehen und, falls sie kann, auch auf diese zu klopfen.

Daß es nun ausgerechnet Blochers Rechtspopulisten sind - nein, das hätte vielleicht nicht sein müssen.

Es ist nicht schön, daß gerade die Schweiz, das Mutterland der Demokratie, eine so starke rechtspopulistische Bewegung hat; so stark, daß sie jetzt die Rolle einer potenten Opposition übernehmen kann.

Aber, liebe Schweizer - gibt es diese starke rechtspopulistische Bewegung nicht möglicherweise just deshalb, weil bisher die Zauberformel, weil das Prinzip der Konkordanz alle relevanten politischen Kräfte in eine unredliche Gemeinsamkeit gezwungen hat?

Für Kommentare und Diskussionen zu diesem Beitrag ist in "Zettels kleinem Zimmer" ein Thread eingerichtet. Wie man sich dort registriert, ist hier zu lesen. Registrierte Teilnehmer können Beiträge schreiben, die sofort automatisch freigeschaltet werden.