10. Dezember 2007

Die Deutschen und das Atom (5): Verursachen AKWs Leukämie bei Kindern?

"Im Umkreis von 30 Kilometern um die großen Dome und Kathedralen Europas - Nôtre Dame, Westminster Abbey, um den Kölner Dom, den Frankfurter Dom - wohnen mehr Moslems, als es dem Anteil der Moslems an der Bevölkerung des jeweiligen Landes entspricht."

Ich kenne keine Daten, die diese Aussage belegen, aber sie ist sehr wahrscheinlich zutreffend. Ob es so ist, das ist aber auch nicht kritisch für das, was ich diskutieren möchte:

Man könnte aus diesem statistischen Zusammenhang schließen, daß irgendetwas von den Domen ausgeht, das Moslems anzieht. Daß es Moslems sozusagen dazu drängt, sich in der Nähe eines Doms niederzulassen.

Das wäre natürlich keine sehr kluge Interpretation derartiger Daten, die vielmehr darauf beruhen (würden), daß Dome in Großstädten stehen und daß in europäischen Großstädten prozentual mehr Moslems wohnen als auf dem flachen Land.



Am Wochenende wurde eine Untersuchung in den Medien diskutiert, die sich mit Fällen von Leukämie bei Kindern befaßte, die im Umkreis von AKWs wohnen. Dazu berichtet die "Süddeutsche Zeitung":
Die Forscher unter der Leitung der Mainzer Epidemiologin Maria Blettner stellten fest, dass zwischen 1980 und 2003 im Umkreis von fünf Kilometern um die Reaktoren 77 Kinder an Krebs, davon 37 an Leukämie, erkrankt waren. Im statistischen Durchschnitt seien 48 Krebs- beziehungsweise 17 Leukämiefälle zu erwarten gewesen. Etwa 20 Neuerkrankungen seien also allein auf das Wohnen in diesem Umkreis zurückzuführen.
Wenn die Medizinstatistiker, die diese Untersuchung durchgeführt haben, tatsächlich so argumentiert haben sollten, wie es dieses Zitat besagt, dann hätten sie nicht stringenter argumentiert als jemand, der in Domen Anziehungspunkte für Moslems sieht, weil in ihrem Umkreis eben viele Moslems wohnen.

Nun ist Maria Blettner eine angesehene Wissenschaftlerin. Man sollte erwarten, daß ihre und ihrer Mitarbeiter Untersuchung keine groben methodischen Mängel aufweist, zumal aus ihrer Publikationsliste hervorgeht, daß sie im Bereich der epidemiologischen Krebsforschung ausgewiesen ist.

Aber Genaueres über die jetzigen Daten weiß man nicht. Denn die Untersuchung, die so sehr die Gemüter erregt, ist noch gar nicht publiziert!

Auf der Website der Arbeitsgruppe von Prof. Blettner ist dieses Untersuchungsprojekt zwar verzeichnet - aber in Form einer Projektbeschreibung. Die Ergebnisse werden dort für "Ende 2006" in Aussicht gestellt. Offenbar wurde der Text seit längerem nicht mehr aktualisiert.



Immerhin erfährt man aus dieser Projektbeschreibung Genaueres über die Methodik. Es wurden aus dem deutschen Kinder- Krebsregister Fälle von Kindern entnommen, die im Zeitraum zwischen dem 01.01.1980 ­und dem 31.12.2003 an Krebs erkrankt waren. Zum weiteren Verfahren heißt es:
Im ersten Teil der Studie wird individuell der Abstand der Wohnung der Familie des an Krebs erkrankten Kindes zum Kernkraftwerk ermittelt und mit dem Abstand der Wohnung von zufällig ausgewählten Kontrollfamilien verglichen. Als Studienregionen wurden jeweils mindestens 3 Landkreise in der Umgebung der 15 Leistungsreaktoren in den alten Ländern der Bundesrepublik Deutschland definiert. (...) Im zweiten Teil der Studie wird durch ein standardisiertes computergestütztes telefonisches Interview untersucht, ob potentielle Confounder die in Teil 1 untersuchte Beziehung beeinflussen.
Wenn ich das richtig verstehe, hat man die an Krebs erkrankten Kinder in den ausgewählten Landkreisen rund um ein AKW herausgesucht, dann eine gleich große Anzahl von Kindern aus denselben Landkreisen zufällig ausgewählt und ermittelt, wie weit die Kinder der beiden Gruppen vom AKW entfernt wohnten.

Das scheint auch aus der Fragestellung der Untersuchung hervorzugehen: "Wohnen Familien mit unter 5-jährigen Kindern, bei denen eine Krebserkrankung diagnostiziert wurde, häufiger in der Nähe von Kernkraftwerken als Familien mit nicht an Krebs erkrankten Kindern?"

Wie die Grenze von 5 km zustandegekommen ist (war sie schon vorher für den statistischen Test festgelegt?) und wie überhaupt die Signifikanz getestet wurde, geht weder aus dieser kurzen Projektbeschreibung hervor, noch aus den bisherigen Zeitungsberichten. Wichtig wäre es vor allem, das Signifikanzniveau zu kennen. Häufig wird das 5-Prozent- Niveau gewählt - dessen Erreichen nicht mehr besagt als: Die Wahrscheinlichkeit, daß dieses Ergebnis zufällig zustande gekommen ist, ist ungefähr so groß, wie daß man zweimal hintereinander eine sechs würfelt. (Diese liegt bei knapp drei Prozent).

Alle diese Einzelheiten sind bisher nicht bekannt. Wie wasserdicht die jetzt publizierten Folgerungen der Untersuchung wirklich sind, wird man also erst erfahren, wenn die Untersuchung zur Publikation eingereicht und peer reviewed (also von Fachleuten, die selbst auf diesem Gebiet forschen, begutachtet) worden ist und sie die eventuellen Einwände der Gutachter überstanden hat.



Und wie ist das nun mit den Moslems, die gehäuft im Umkreis von Domen wohnen?

Die Mainzer Untersucher waren sich dieses Problems offenbar bewußt. Deshalb führten sie den Teil 2 der Untersuchung durch, in dem die Familien der einbezogenen Kinder - der erkrankten wie der gesunden - im Hinblick auf "potentielle Confounder" untersucht wurden.

Gemeint sind damit solche Faktoren wie im Beispiel der Moslems der Umstand, daß jemand, der in der Nähe zu einem Dom wohnt, eben zugleich in einer Großstadt wohnt. Die Variablen "Nähe zum Dom" und "Großstadt" sind also, wie man sagt, konfundiert - man weiß nicht, ob ein beobachteter Effekt an dem einen oder dem anderen Faktor liegt.

In der Mainzer Untersuchung wird man also z.B. nach anderen Risiko- Faktoren gefragt haben, denen ein Kind ausgesetzt gewesen sein könnte - etwa der Nähe zu einer chemischem Fabrik. Was sich dabei ergab, ist offenbar der Öffentlichkeit noch nicht mitgeteilt worden.



Führt man sich diesen Stand der Dinge vor Augen, dann wird deutlich, wie leichtfertig es ist, allein aufgrund bruchstückhafter, noch gar nicht publizierter Daten einer noch gar nicht von Fachleuten begutachteten Untersuchung bereits irgendwelche Schlüsse zu ziehen.

Und das ist reichlich geschehen, innerhalb weniger Tage. Aus der "Süddeutschen Zeitung":

Reinhard Bütikofer von den "Grünen": "Wir Grüne fordern die beschleunigte Abschaltung gerade der ältesten Atomkraftwerke." Wer noch immer "für einen längeren Betrieb von Atomkraftwerken oder gar deren Neubau eintritt, handelt völlig verantwortungslos".

Hans-Josef Fell, auch er von den "Grünen": "Die etablierte, meist atomfreundliche Wissenschaft hat die Gefahren der Atomenergie bisher maßlos unterschätzt."

Freilich sieht es auf der anderen Seite nicht besser aus. "So sehr ich mir Aufklärung über diese Zusammenhänge von der Wissenschaft erhoffe, so sehr kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Studie die Antipathien gegen die Kernkraft schüren soll", erklärte laut SZ Katharina Reiche von der CDU.

Woher weiß Katharina Reiche das? Woher wissen die Herren Bütikofer und Fell das, was sie behaupten?



Es ist schon ein Kreuz mit der Art, wie Politiker, wie auch Journalisten mit wissenschaftlichen Untersuchungen umgehen, die sie gar nicht kennen und die sie nicht beurteilen könnten, würden sie sie denn kennen.

Den Vogel aber hat wieder einmal der Umweltminister Gabriel abgeschossen.

Aus einer heutigen dpa-Meldung, zitiert nach der FAZ:
Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) sagte (...), [die] Strahlenbelastung der Bevölkerung müsste durch den Betrieb der Atomkraftwerke in Deutschland um mindestens das Tausendfache höher sein, um den beobachteten Anstieg des Krebsrisikos erklären zu können.
Eine klassische petitio principii. Gabriel setzt das als gegeben voraus, was doch gerade untersucht werden sollte: Ob nicht möglicherweis auch viel geringere Strahlendosen, als bisher angenommen, das Krebsrisiko erhöhen können.

Und dann setzt er noch einen drauf, der Strahlenexperte Gabriel. Statt abzuwarten, bis wirkliche Fachleute sich geäußert haben (nämlich die peer reviewers internationaler Zeitschriften, die allein in der Lage sind, die Qualität einer solchen Untersuchung zu beurteilen), hat Gabriel ausgerechnet die Strahlenschutzkommission (SSK) "mit einer umfassenden Bewertung der Ergebnisse beauftragt".

Ein Gremium, dessen wissenschaftliche Reputation erheblich gelitten hat, seit es der Umweltminister Trittin nach der Regierungsübernahme der Rotgrünen aus zwei früheren Kommissionen neu bildete und vor allem neu besetzte, und zwar überwiegend mit Atomkraftgegnern oder -skeptikern, deren wissenschaftlicher Rang weit unter dem der Fachleute lag, an deren Stelle sie traten.

Kritiker sprachen damals davon, Trittin versuche, "systematisch Sachverstand durch Parteiverstand" zu ersetzen; die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter schrieb, daß es dergleichen bisher "nur im Sowjetreich" gegeben habe.

Zu denjenigen, die Trittins Personalpolitik kritisierten, gehörte die damalige Vorsitzende der SSK. Sie trat aus Protest gegen die Berufung eines fachlich nicht ausgewiesenen Mitgliedes durch Trittin sogar von ihrem Amt zurück.

Der Name dieser aufrechten Wissenschaftlerin, die laut "Welt" als atomfreundlich gilt: Maria Blettner.



Der Vorwurf von Katharina Reiche erscheint also als wenig begründet.

Sollten die Ergebnisse der Mainzer Gruppe methodisch hieb- und stichfest sein, sollte insbesondere die Kontrolle von konfundierenden Faktoren gelungen zu sein - dann wird man zumindest den begründeten Verdacht akzeptieren müssen, daß es die Gefahr einer Verursachung von Leukämie durch AKWs gibt.

Man muß das dann akzeptieren, auch wenn man nicht in den Chor der Grünen und Linken einstimmt. Aber es ist so, wie Freud einmal seinen Lehrer Charcot zitierte. In einem Kolloquium hatte jemand Befunde vorgetragen, und ein anderer wendete dagegen ein, diese Befunde widersprächen der gängigen Theorie. Worauf Charcot sagte: "ça n'empêche pas d'exister" - das hindert nicht, daß es das gibt.



Links zu allen Folgen dieser Serie:
  • 1. Der Sonderweg
  • 2. Kampf dem Atomtod
  • 3. Die APO entläßt ihre Kinder
  • 4. Tschernobyl und die Folgen
  • 5. Verursachen AKWs Leukämie bei Kindern?
  • 6. Seriöse Wissenschaft und ihr Mißbrauch durch Politiker

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