27. Dezember 2007

Zettels lobender Jahresrückblick (1): Mein Buch des Jahres

Mein Buch des Jahres 2007 ist kein Buch, das 2007 erschienen wäre oder das es 2007 auf die Liste der Bestseller geschafft hätte. Gedruckt wurde meine Ausgabe schon 2005. Und das ist der Nachdruck eines Werks, das in der DDR bereits zwanzig Jahre zuvor erschienen war. Mit Texten, die aus den Jahren 1586 bis 1638 stammen. Im zweiten Teil mit Briefen und Dokumenten, die zwischen 1590 und 1642 geschrieben wurden.

Ein Buch "des Jahres 2007" also nur in dem Sinn, daß ich es in diesem Jahr gekauft und gelesen habe. Es ist:
Anna Mudry (Hg.), Galileo Galilei. Schriften Briefe Dokumente. Wiesbaden: VMA Verlag, 2005


Galilei war Zeitgenosse von René Descartes. Sie starben im Abstand von acht Jahren; Galilei im Januar 1642, Descartes im Februar 1650.

Allerdings gehörten sie verschiedenen Generationen an. Als Descartes 1596 geboren wurde, war Galilei schon ein Mann von 32 Jahren und hatte bereits seinen zweiten Lehrstuhl inne. Er war damals Professor für Geometrie, Mechanik und Astronomie an der Universität Padua, nachdem er zuvor in Pisa Mathematik gelehrt hatte. Als eine Stadt in der Republik Venedig bot Padua ihm eine besonders liberale Arbeitsumgebung.



Galilei, unter dem Schutz der Republik Venedig seinen Studien nachgehend - das kennen wir.

Wir kennen es aus den ersten Szenen von Brechts "Leben des Galilei". Ungefähr so, wie unser Bild Cäsars durch Shakespeare geprägt ist, bestimmt Brechts Sicht auf Galilei die Vorstellung, die wir uns von diesem Mann machen. Jedenfalls für die meisten von uns ist der historische Galilei gewissermaßen überschrieben worden durch die Figur, die Brecht entworfen hat. Die er als Künstler entworfen hat, als ein ungewöhnlich stark politisch festgelegter Künstler.

Also ist unser Galilei einer, der viele Züge des armen B.B. trägt - oder vielmehr des listigen, des immer als Aufklärer sich präsentierenden B.B. Desjenigen, der den Kapitalismus durchschaut hat, der sich seiner Gesetze bedient, um ihn zu überwinden.

Also beginnt Galilei, kaum daß das Stück begonnen hat, um sein Gehalt zu feilschen. Also ist er durch das ganze Stück hindurch derjenige, der verstanden hat, wie sie sich bewegt, die Welt. Eppur si muove, wir kennen das. Derjenige, der von den Kräften des Gestern verfolgt und behindert wird, der Römischen Kirche also. Der sich diesen vorerst Stärkeren fügt, wohl wissend, daß seine Einsichten siegen werden, weil der Fortschritt nicht aufzuhalten ist. Dem es wichtiger ist, nach einer erzwungenen Abschwur weiterarbeiten zu können, als standhaft unterzugehen.

Kurzum - Brechts "Leben des Galilei" handelt von Fortschritt und Reaktion, von Geist und Macht. Auch - Brecht hat die letzten Szenen entsprechend geändert, als die Bomben von Hiroshima und Nagasaki explodiert waren - von der Verantwortung des Wissenschaftlers.

Es handelt damit nur am Rande - und das ist mir bei der Lektüre von Galileis Schriften allmählich deutlich geworden - von dem Wissenschaftler Galilei.



Daß er ein Zeitgenosse von Descartes war, habe ich mir anfangs der Lektüre immer wieder vor Augen führen müssen, auch wenn es mir als abstraktes Wissen so ungefähr klar gewesen war. Aber "gegenwärtig" ist es mir nicht gewesen.

Ich vermute, es ging mir so wie vielen anderen, für die Descartes ein "Moderner" ist und Galilei einer, der noch sozusagen mit einem Bein im Mittelalter steht, aus dem er sich, das Bein gewissermaßen aus der Falle des Unwissens ziehend, herauszuarbeiten trachtete.

Descartes, das ist für uns der Beginn der Philosophie der Neuzeit. Der erste, der das über sich selbst reflektierende Ich zum Ausgangspunkt genommen hat. Derjenige, dessen Ideen auf dem europäischen Kontinent von Spinoza, von Leibniz und schließlich von Kant weiterentwickelt wurden; bei den Briten von Locke, Berkeley, Hume.

Wir sehen ihn sozusagen durch die Brille dieser späteren Philosophen, den René Descartes. Und sehen ihn also als einen Modernen; als den Vorläufer der Aufklärung, die dann mit John Locke voll anhebt.

Galilei dagegen ist, zumal durch den Einfluß Brechts, für uns dem Ende des Mittelalters näher als der Neuzeit. Umgeben von rot gewandeten Kurienkardinälen, die ihm die Folterwerkzeuge vorzeigen lassen, so stand er mir immer vor Augen.

Nachdem ich seine Schriften gelesen habe, halte ich das für ein völlig irriges Bild. Galilei war in zentralen Punkten ungleich moderner als Descartes.

Würde man beide, Descartes und Galilei, eine Zeitreise machen lassen, die mitten hinein in eine Diskussion unter heutigen Naturwissenschaftlern führt und würde man ihnen die nötigen Sprachkenntnisse mitgeben - Descartes würde kopfschüttelnd dasitzen und nichts verstehen. Er würde wohl nicht einmal einsehen können, daß es um Wissenschaft geht - nicht clare et distincte genug, nicht deduktiv genug. Unsicher alles; nichts für diesen Mann, der die Sicherheit der Erkenntnis über alles stellte.

Galilei würde natürlich auch den Inhalten nicht folgen können. Aber den Stil der Diskussion würde er sofort nachvollziehen: Das Erwägen von alternativen Möglichkeiten, deren Prüfung an der Befundlage, Erörterungen, die zu Wahrscheinlichkeiten führen und nicht zur metaphysischen Gewißheit.



Die Schriften Galileis sind, was die formale Durcharbeitung, was die Stringenz der Argumentation angeht, mit denen Descartes' nicht vergleichbar. Descartes schreibt wie ein Mathematiker. Galileis Stil bewegt zwischen der nüchterner Mitteilung und - dort, wo er überzeugen möchte - einer fast belletristischen Eloquenz und Anschaulichkeit.

Descartes war in gewisser Weise auch ein Naturwissenschaftler; sein Werk Le Monde war als so etwas wie eine Grundlegung der Naturwissenschaften konzipiert. Er war auch durchaus an empirischen Details beispielsweise der Anatomie interessiert.

Aber es fehlte ihm weithin das, was Galilei auszeichnete: Das induktive Denken, das von Beobachtungen statt von abstrakten Fragen ausgeht; das ständige Infragestellen von scheinbar sicheren Voraussetzungen. Das Abwägen von Erklärungen gegeneinander. Und vor allem die Ableitung von Hypothesen, die sich dem empirischen Test unterwerfen lassen.

Descartes hat mit seinem systematischen Zweifel, mit seinem Bemühen um eine Mathematisierung der Wissenschaft, mit seinem mechanistischen Denken Grundlagen der modernen Wissenschaft gelegt. Aber er hat selbst nur selten wirklich wissenschaftlich geforscht. Galilei hingegen war Wissenschaftler durch und durch.

Er hat verstanden, daß Wissenschaft Methode ist, Handwerk. Daß Ausprobieren wichtiger ist als Deduzieren. Daß entscheidende Fortschritte durch neue Geräte erreicht werden, mehr als durch neue Ideen.

Das Fernrohr hat er nicht erfunden; aber er hat sofort erkannt, welchen ungeheuren wissenschaftlichen Nutzen dieses Instrument in sich barg.



Die für Galilei vielleicht bezeichnendste Schrift in der Textsammlung ist Siderus Nuncius, die "Sternenbotschaft" von 1610, "worin die unlängst mit Hilfe eines neuen Sehglases, auf dem Antlitz des Mondes, auf der Milchstraße, an den Nebelsternen, unzähligen Fixsternen und an vier zuvor noch nie gesehenen und Mediceische Gestirne genannten Planeten gemachten Beobachtungen berichtet und erklärt werden".

Mit diesem Untertitel der Schrift hat man im Grunde den ganzen Galilei - den Empiriker, der das neue Instrument sozusagen nach Strich und Faden nutzt; den sorgfältigen Beobachter. Aber auch den, der erklärt. Den Theoretiker, der nicht ruht, bis er eine Erklärung hat, die alle bisherigen Beobachtungen abdeckt; that accounts for them, wie man es in der Sprache der heutigen Wissenschaft sagt - die ihnen so Rechnung trägt, daß alles ohne Rest aufgeht.

Galilei beobachtet den Mond solange, bis er sicher ist, daß die dunklen Flecken Schatten sind. Der Mond weist also Erhebungen auf; entgegen der tradierten Vorstellung, daß alle Himmelskörper vollkommene Kugeln sind.

Aber warum sehen wir von diesen Erhebungen nichts an der Peripherie des Mondes; warum sieht er nicht wie ein "Zahnrad" aus? Kaum hat Galilei eine Hypothese bestätigt, da findet er schon wieder Zweifel an ihrer Richtigkeit, die ihn zu weiteren Überlegungen führen. Ebenso bei der Entdeckung, daß die Milchstraße sich aus Myriaden von Sternen zusammensetzt, daß um den Jupiter Monde kreisen.



Der Siderus Nuncius ist nicht die bekannteste Schrift Galileis. Das ist diejenige, die ihm die Verfolgung durch die Kurie eingebracht hat, die aber nicht seine wissenschaftlich originellste ist: Der "Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische". Veröffentlicht erst 1632; aber viel früher konzipiert, schon 1626 fast abgeschlossen.

Wissenschaftlich eigentlich nichts Neues: Unter Wissenschaftlern waren längst die Würfel zugunsten des kopernikanischen Systems gefallen. Neue Ideen, neue Beweise trug Galilei in dem "Dialog" kaum vor. Er nutzte nur seine Beobachtungen, die er weitgehend schon im Siderus Nuncius publiziert hatte, als weitere Belege für die Richtigkeit des kopernikanischen Systems; und er verknüpfte beides mittels seiner Mechanik.

Dieser Dialog war mehr ein Fazit seiner Forschung, als daß er damit wissenschaftliches Neuland betreten hätte. Die Anwendung der Mechanik auf die Kosmologie.

Diese seine Mechanik nun ist wohl die große, die bahnbrechende Leistung des Wissenschaftlers Galilei. Sie war sein erstes und sein eigentliches Forschungsgebiet; über sie hat er immer wieder geschrieben. Eine Art Summa sind die Discorsi von 1638; wie der Dialogo als Gespräch zwischen drei Personen gestaltet - einem Anhänger der Physik des Aristoteles, einem Teilnehmer, der die Position Galileis vertritt, und dem neutralen Dritten Sagredo, um dessen Zustimmung die beiden anderen ringen.

Da geht es um Themen wie das spezifische Gewicht - wieviel wiegt Luft? Wie kann man das messen? -, um Bewegungen wie die eines Körpers auf einer Wurfbahn. Vor allem aber geht es um die Grundlagen der Mechanik; um Gesetze, die Galilei - wie später Newton - in Theoremen und Zusätzen faßt (zum Beispiel im Theorem 2: "Wenn ein Körper von der Ruhelage aus gleichförmig beschleunigt fällt, so verhalten sich die in gewissen Zeiten zurückgelegte Strecken wie die Quadrate der Zeiten").



In beiden Werken - dem über die Mechanik und dem über die kosmologischen Theorien - setzt sich Galilei immer wieder mit Aristoteles auseinander.

Das hat zu einer Sicht geführt, die ich auch lange Zeit geteilt hatte, bevor ich mich erst mit Aristoteles und jetzt mit Galilei beschäftigt habe: Daß Aristoteles ein noch nicht wissenschaftlich denkender Philosoph gewesen sei, der Schein- Erklärungen vorgetragen habe, während Galilei als Erster wahrhaft wissenschaftlich an die Probleme der Mechanik und der Astronomie herangegangen sei. Der Psychologe Kurt Lewin hat das z.B. in einer 1931 erschienen Schrift behauptet, in der er die "galileische und aristotelische Denkweise" kontrastiert.

Tatsächlich setzt sich Galilei zwar mit Ironie und Schärfe mit denjenigen auseinander, für die jede Auffassung Aristoteles' ein Dogma ist. Aber Aristoteles selbst ist für ihn gewissermaßen ein wissenschaftlicher Diskussions- Partner, über zwei Jahrtausende hinweg.

Er untersucht dessen Argumente, prüft seine Voraussetzungen, weist auf Inkonsistenzen hin. Er behandelt ihn als Seinesgleichen. Nicht als absolute Autorität, aber gewiß auch nicht als jemanden, der als Wissenschaftler nicht ernst zu nehmen wäre.



Und er klärt in dieser Auseinandersetzung mit Aristoteles fundamentale Fragen. Zum Schluß ein Beispiel für diesen virtuellen Dialog über die Jahrtausende:

Es geht - ziemlich am Anfang des Dialogo - um die Frage, ob die Erde sich um ihre eigene Achse dreht. (Daß sie rund ist, war schon für Aristoteles selbstverständlich gewesen).

Nein, hatte Aristoteles argumentiert. Denn würde sie sich drehen, dann dürfte ein sehr hoch in die Luft geworfener Körper nicht zu der Stelle herabfallen, von der aus er geworfen wurde. Sondern er müßte auf eine Stelle weiter "hinten" auf der sich drehenden Erde fallen, weil diese sich, während er unterwegs ist, ja weiter gedreht hätte.

Die Auseinandersetzung mit diesem Argument (das es in verschiedenen Versionen gibt - zum Beispiel müßte eine in Drehrichtung der Erde abgefeuerte Kugel weiter fliegen als eine entgegen dieser Richtung geschossene; zum Beispiel müßte eine von einem Turm geworfene Kugel schräg zu dessen Wand fallen) führt Galilei dazu, zu erörtern, was eigentlich Bewegung ist und wie eigentlich die Fallrichtung definiert ist.

Bewegung, sagt Galilei, ist immer relativ. Es gibt keine absolute Ruhe. Befindet sich also ein Körper in scheinbar ruhendem Zustand auf der Erdoberfläche, so macht er doch deren Bewegung mit. Das tut er auch, wenn man ihn hochwirft. Deshalb kann er nur dort wieder herunterkommen, von wo er hochgeworfen wurde. Er fällt "nach unten", aber das heißt nur: Hin zum Erdmittelpunkt. Also genau so wenig "schräg", wie auch der Turm auf der Erdoberfläche "schräg" steht.

Das sind Gedankenexperimente, es sind aus ihnen abgeleitete Argumente.

Aber sie widersprechen, wendet der Gesprächspartner Simplicio ein, doch Aristoteles, "der auf diesem Gebiet nicht hat irren können".

Worauf Sagredo, der zunehmend von Galileis Argumenten faszinierte Neutrale, antwortet: "Ich aber sage euch, daß wenn Aristoteles hier wäre, er entweder von uns überzeugt würde oder unsere Gründe widerlegte und uns eines Besseren belehren würde".

Besser kann man den Geist der Wissenschaft eigentlich nicht kennzeichnen.
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