6. Dezember 2007

Eine Familientragödie, ein Korruptionsbericht und die deutsche Befindlichkeit

Die Meldungen, die beide heute durch die Medien gingen, haben an der Oberfläche nichts miteinander zu tun: In einem Dorf in Schleswig-Holstein hat eine Mutter, offenbar in einem akuten Schub der Schizophrenie, an der sie erkrankt ist, ihre fünf Kinder ums Leben gebracht. Und in Berlin ist von einer Organisation namens "Transparency International" ein Bericht über weltweite Korruption veröffentlicht worden.

Zwei in jeder Hinsicht verschiedene Ereignisse. Und doch werfen sie beide, genauer: wirft ihr öffentlicher Aspekt ein Schlaglicht auf die deutschen Dinge, so wie sie im Augenblick stehen. Auf unsere deutsche Befindlichkeit im Jahr 2007.



Solche entsetzlichen Verbrechen wie das in Darry bei Plön passieren leider immer wieder. Eine Schizophrenie kann eine Zeitlang weitgehend unauffällig verlaufen; zumal unter der heute üblichen medikamentösen Therapie. Aber geheilt sind die Kranken nicht. Manchmal gehen Anzeichen voraus, manchmal auch nicht: Es kommt zu einem akuten Schub, in dem eine Bluttat geschieht oder versucht wird.

Am bekanntesten sind in Deutschland von solchen Taten die beiden Attentate geworden, die im Jahr 1990 in Deutschland auf Politiker verübt wurden.

Im April stach die schizophrene Adelheid Streidel auf Oskar Lafontaine mit einem Messer ein. Es hätte auch den ebenfalls anwesenden Johannes Rau treffen können; jedenfalls sollte ein Politiker sterben, denn, so Streidel, es "gibt in Europa Menschenfabriken und unterirdische Operationssäle, wo Leute aus der Bevölkerung körperlich und geistig umfunktioniert werden."

Im Oktober desselben Jahres schoß der schizophrene Dieter Kaufmann auf Wolfgang Schäuble.



Wie reagiert man auf solche Vorfälle? Ohnmächtiges Entsetzen stellt sich ein. Manche mögen auch ihr Weltbild bestätigt sehen, in dem das Abgründige in der Natur des Menschen vielleicht seinen Platz hat; oder das Sinnlose im Schicksal von Menschen.

Das wären auch naheliegende Reaktionen bei der jetzigen Familientragödie. Aber wie reagiert die deutsche Öffentlichkeit, wie äußern sich deutsche Politiker?

"Die Fälle mutmaßlicher Kindstötungen im holsteinischen Darry und im sächsischen Plauen haben aufs Neue die Debatte über politische Maßnahmen gegen Kindesmisshandlung befeuert" schreibt die FAZ unter der Überschrift: "Merkel fordert 'Kultur des Hinsehens'".

Ursula von der Leyen, so heißt es weiter, habe "verbindliche Vorsorgeuntersuchungen" verlangt. Und die bayerische Justizministerin Merk habe gar geäußert: "Der Staat muss endlich alle Register ziehen", zum Schutz der Kinder.



Mir scheint, es merken nur noch wenige Deutsche, wie absurd diese Reaktion eigentlich ist.

Eine schwer psychisch kranke Frau tötet in einem akuten schizophrenen Schub ihre Kinder - und als Reaktion verlangt die Familienministerin "Vorsorgeuntersuchungen" für alle Kinder (d.h. sie erneuert diesen Vorschlag, mit dem sie schon länger unterwegs ist), und eine CSU Ministerin verlangt, daß der Staat alle Register zieht.

Es sind zwei Ministerinnen der Union, die das verlangen.

Der Glaube, daß der Staat den Auftrage habe, das Glück "seiner" Bürger zu sichern und sie vor allen Fährnissen zu bewahren, und sei es vor der Attacke einer Schizophrenen, ist längst nicht mehr auf die deutsche Linke beschränkt. Er ist - das Wort scheint mir allmählich angemessen zu werden - zu einer gesellschaftlichen, einer politischen Obsession geworden.

Deutschland ist auf dem Weg, Frankreich und Schweden als die beiden traditionell staatsgläubigsten Länder des westlichen Europa abzulösen.



Wie reagieren die Deutschen darauf, daß sie immer mehr von der Wiege bis zur Bahre, von der rauchfreien Kneipe bis zur Erziehung ihrer Kinder unter die Kuratel des Staats gestellt werden? Räkeln sie sich wohlig in dieser Welt der Hängematten, selig lächelnd wie ein satter Säugling?

Von wegen. Sie benehmen sich genauso, wie sich überbetreute, rund um die Uhr betütelte, in Unmündigkeit gehaltene Kinder zu verhalten pflegen: Aufsässig, mit Reaktanz, mit Mißtrauen gegen diejenigen, die sie unter ihrer Kuratel halten.

Damit sind wir bei dem zweiten heutigen Thema, dem Bericht über Korruption, den "Transparency International" heute vorgelegt hat.

Es handelt sich nicht um eine objektive Untersuchung über Korruption, sondern um eine weltweite Umfrage zur sozusagen gefühlten Korruption, für die Gallup im Auftrag von "Transparency International" mehr als 63000 Menschen in 60 Ländern befragte.

Man kann also hübsch vergleichen. Und siehe - obwohl Deutschland im Urteil von Experten ein ungewöhnlich wenig korruptes Land Land ist (wir liegen auf Platz 16 unter 180 untersuchten Ländern), sehen die Deutschen sich von Korruption umgeben.

Und trotz aller Bemühungen der uns Regierenden, uns alle Sorgen des Lebens abzunehmen, trauen wir Deutschen ihnen in unserer Mehrheit offenbar nicht:

"Die Deutschen sind nicht überzeugt vom Kampf der Bundesregierung gegen Korruption: Immerhin 77 Prozent sind der Ansicht, dass die Regierung nicht wirksam gegen Korruption vorgeht. (...) Auffallend ist vor allem der anhaltende Pessimismus der Deutschen: 69 Prozent der Befragten erwarten, dass die Korruption in den kommenden drei Jahren zunehmen wird. Innerhalb der Europäischen Union sind nur die Bürger Großbritanniens (72 Prozent) und der Niederlande (73 Prozent) pessimistischer. Alle anderen liegen deutlich darunter", schreibt der "Tagesspiegel".



Es geschieht ihnen Recht, den uns Regierenden.

Sie spielen sich zunehmend als die einzig Erwachsenen auf, die uns Bürger wie hilflose Kinder behandeln dürfen (ja behandeln müssen, zu unserem eigenen Besten). Aber je mehr sie sich aufspielen, umso weniger glauben wir ihnen, daß sie die totale Kontrolle hinkriegen, die sie uns versprechen. Umso mißtrauischer werden wir, wir Deutschen, umso aufsässiger.

Die Frage ist nur, wie diese Aufsässigkeit sich in Zukunft äußern wird: In Eigeninitiative, mit der wir dem Staat zeigen, daß wir seine Fürsorge nicht brauchen. Darin, daß wir die einzige Partei wählen, die noch für die Freiheit des Einzelnen eintritt.

Oder aber in heimlichem Meckern, im Räsonieren am Stammtisch, im Mißtrauen gegenüber angeblicher Korruption, während wir zugleich vom Staat immer mehr verlangen.

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