21. Dezember 2007

Marginalie: Schengen - "Ein enormer Freiheitsgewinn"

Zu den Begriffen, die mit der DDR untergegangen sind, gehört das Wort "Grenzregime". Es wurde von den DDR- Behörden für das benutzt, was sie ihren Untertanen an Beschränkungen ihrer Freiheit zumuteten, wenn diese eine DDR-Grenze überschreiten wollten.

Das Wort eignet sich aber auch sehr dazu, überhaupt das Herrschaftssystem dieser DDR zu kennzeichnen: Es war als Ganzes ein "Grenzregime" in dem Sinn, daß die Obrigkeit sich das Recht herausnahm, ihren Untertanen in allen Lebensbereichen willkürliche Grenzen zu setzen. Sie nach Belieben einzuschränken nicht nur in ihrer Reisefreiheit, sondern auch in der Freiheit der Berufswahl, der Meinungsäußerung, der Erziehung ihrer Kinder.

Man war sozusagen umstellt von Grenzen, eingebaut in ganze Verschachtelungen von, in diesem übertragenen Sinn, "Grenzregimes".

Weshalb "hoffen", "dürfen" und "Glück haben" zu den Schlüsselbegriffen dieser DDR-Gesellschaft gehörten. "Wir hoffen, daß wir mal das Glück haben und reisen dürfen". Der Untertan kann nichts für sein eigenes Glück tun, er kann es nur haben, d.h. von seiner Obrigkeit geschenkt bekommen. Er kann nicht etwas wollen, sondern er kann nur darauf hoffen, daß er etwas darf. Daß die Obrigkeit in ihrem unerforschlichen Ratschluß es ihm gewährt. Daß sie hier und da mal eine Grenze kurz aufmacht.



Beschränkungen der Reisefreiheit waren immer ein Kernelement politischer Herrschaft. In der Antike bestanden sie oft darin, daß man verbannt wurde und nicht wieder in die Heimat zurückreisen durfte. Später ging es mehr darum, Untertanen daran zu hindern, ihrem Landesvater zu entkommen.

Kaum irgendwo trat dem Normalbürger, der sonst nichts "mit der Polizei zu tun" hat, die Staatsgewalt so unverhüllt entgegen wie an einer klassischen Grenze des 20. Jahrhunderts. Zollkontrolle auf der einen Seite, Paßkontrolle auf der einen Seite. Paßkontrolle auf der anderen Seite, Zollkontrolle auf der anderen.

Was die Polizei sonst nicht ohne einen konkreten Verdacht darf - an der klassischen Grenze ist es den Zöllnern erlaubt: Jemanden zu zwingen, seinen Wagen auszuräumen, alles offenzulegen, was er mit sich führt. Leibesvisitation inbegriffen. Eine Haussuchung ist nichts dagegen.

Nein, "zwingen" ist nicht ganz richtig. Man kann sich dieser Art von Kontrolle ja entziehen, indem man es einfach unterläßt, die Grenze zu passieren. Oder man tritt von dem Versuch, es zu tun, wieder "freiwillig" zurück.

Zu meinen bleibenden Erinnerungen an die DDR-Grenze gehört ein kleines Erlebnis, als wir via die Katakomben des Bahnhofs Friedrichstraße in die "Hauptstadt", also strenggenommen nicht die DDR, "einreisen" wollten. Da wurde ein junger Mann, vor uns in der Schlange, "zurückgewiesen" - und der Mensch am Schalter behauptete, als das von Wartenden negativ kommentiert wurde, er, der junge Mann, habe soeben beschlossen, nicht einzureisen.



Grenzen, die klassischen Grenzen, bedeuten Zwang. Die Aufhebung wenn auch nicht von Grenzen, so doch der klassischen Grenzen mit ihrem "Regime" ist ein Zugewinn an Freiheit.

Einen "enormen Freiheitsgewinn" hat Wolfgang Schäuble die Ausweitung des Schengen- Abkommens auf weitere Länder, darunter Polen und Tschechien, genannt. Recht hat er.



Hier in diesem Blog ist immer wieder Kritisches über die Brüsseler Bürokratie zu lesen, über die Einschränkungen unserer Freiheit, die durch die EU drohen oder schon in Kraft sind.

Absurditäten sind da zu nennen wie die, daß der kommunistische Europa- Abgeordnete André Brie allen Ernstes die EU-Kommission einschalten konnte, weil er in Hillmersdorf, Land Brandenburg, Landkreis Elbe- Elster, im Gebiet um den Lehmannsteich und den Graseteich die Fledermäuse bedroht sah.

Aber bei aller der leider sehr berechtigten Kritik an diesen Tendenzen, einen europäischen Superstaat mit einer alle Lebensbereiche durchdringenden Bürokratie entstehen zu lassen, sollte man doch nicht den ungeheuren Zuwachs an Freiheit vergessen, den das Zusammenwachsen Europas uns auch gebracht hat.

Wenn wir wieder einmal unsere Verwandten in Frankfurt/Oder besuchen, werden wir es genießen, einfach so über die Brücke nach Slubice zu spazieren. Über eine Grenze, die einmal, im Zeichen des "proletarischen Internationalismus", zu den dichtesten und bestbewachten Europas gehörte.

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