29. Dezember 2007

Marginalie: "Tatort", Aleviten, Özcan Mutlu. Wie man Vorurteile schürt

Die ARD hat eine "Tatort"-Folge mit dem Titel "Wem Ehre gebührt" gezeigt, die zu heftigen Reaktionen geführt hat. Soweit ich es den Berichten entnehme - ich habe die Sendung nicht gesehen - geht es, wie meist in solchen Krimis, um einen Tod und seine Hintergründe.

Tot ist eine Frau, die erhängt aufgefunden wird. Zu den Hintergründen ihres Todes, die vermutet oder angedeutet oder nahegelegt oder aufgedeckt werden - so genau geht das aus den Berichten nicht hervor - gehört ein Inzest mit ihrem Vater.

Ein beliebtes Motiv also. Ein Motiv aus dem Bereich der Themen, die unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten beschäftigt haben. Also ein Thema, das in einer um Zeitnähe bemühten Krimi- Serie wie "Tatort" seinen Platz hat.



Die Tote in dem Film ist, wenn ich den Berichten folge, eine Deutsche. Sie ist allerdings eine Deutsche ausländischer, nämlich türkischer Herkunft. (Solche Deutsche nennt man seltsamerweise nicht Deutsche, sondern Türken, Deutschtürken; aber das ist ein anderes Thema). Der Name der Autorin des Films, Angelina Maccarone, läßt vermuten, daß sie eine Deutsche italienischer Herkunft ist.

Einwanderung nach Deutschland ist eines ihrer Themen; sie hat zuvor einen Film über zwei aus Afrika stammende deutsche Frauen gedreht und einen über eine lesbische Iranerin, die nach Deutschland flieht, um hier der Verfolgung zu entgehen, und die sich als Mann verkleidet.

Die Themen der Filme, die Angelina Maccarone bisher gedreht hat, weisen darauf hin, daß sie sich vor allem für die Situation von Frauen und für Einwanderung nach Deutschland interesssiert.

In dem Interview mit der Internet- Publikation After Ellen stellt sie zwischen diesen beiden Motiven einen Zusammenhang her, und zwar über den Begriff der Identität: "I believe that identity is to a great extent defined by where we live, what we do, whom we love, etc."; die Identität (die sexuelle wie die nationale ist gemeint) sei zu einem großen Teil dadurch definiert, wo wir leben, was wir tun, wen wir lieben.



Der Tatort "Wem Ehre gebührt" variiert diese beiden Themen. Was also hat zu der Aufregung um ihn geführt? Das erläutert ausführlich der Deutsche türkischer Herkunft Özcan Mutlu, Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, in der "Welt"; und was er schreibt, veranlaßt mich zu dieser Marginalie.

"Hat die Drehbuchautorin nicht verstanden, welche politische Brisanz das Thema in sich birgt?" fragt Mutlu. Er schildert die Situation der Aleviten in der Türkei und verweist darauf, daß die dort mehrheitlichen Sunniten "den Aleviten über Jahrhunderte 'Inzest' vorgeworfen haben". Daraus leitet er die Forderung ab: "Die ARD und die Autorin sollten sich öffentlich entschuldigen".

Andere gehen noch weiter. Es liegt gegen die Regisseurin eine Anzeige wegen Volksverhetzung vor. Es wird ihr vorgeworfen, sie hätte "Vorurteile unterstützt".



Wie "unterstützt", wie "schürt" man ein Vorurteil? Man sollte meinen, indem man es verkündet, es als seine Meinung kundtut. Indem man beispielsweise sagt: "Die Amerikaner sind schießwütige Cowboys", "Die Juden sind geldgierig", "Die Italiener sind faul", "Alle Männer sind potentielle Vergewaltiger"; dergleichen.

Nichts dergleichen tut der Film von Angelina Maccarone in Bezug auf die Aleviten. Er sagt es nicht, er deutet es nicht an. Er zeigt lediglich einen Fall von Inzest oder vermutetem Inzest in einer Familie alevitischen Glaubens.

Wenn man sich dafür "entschuldigen" muß, wenn das gar "Volksverhetzung" ist - was darf dann überhaupt noch in einem Film gezeigt werden?

Es gibt das Vorurteil, daß die Amerikaner rücksichtslose Egoisten sind. Ist also jeder Film "Volksverhetzung", in dem ein Amerikaner vorkommt, der ein rücksichtsloser Egoist ist? Hätte Billy Wilder sich für "Eins, zwei, drei" entschuldigen müssen?

Es gibt das Vorurteil, daß die Franzosen faule Freunde des savoir vivre sind. Darf also in keinem Film ein Franzose gezeigt werden, der so lebt wie Jean Gabin in "Im Kittchen ist kein Zimmer frei"?

Es gibt das Vorurteil, die Deutschen seien der Typ des Untertanen. Hätte sich also Wolfgang Staudte dafür entschuldigen sollen, daß er Heinrich Manns "Der Untertan" verfilmte?



Ich will dem Abgeordneten Mutlu zugutehalten, daß er sich keine Gedanken gemacht hat. Daß er nicht darüber nachgedacht hat, wie absurd es wäre, jede Filmfigur, jede Filmhandlung zu kritisieren, wenn nicht gar mit einer Anzeige zu überziehen, die irgendeinem Vorurteil entspricht.

Daß es das Ende der Filmkunst wäre, wenn an alle Filme die Maßstäbe angelegt würden, die Mutlu, die mit ihm die alevitische Gemeinde Berlin mit ihrer Strafanzeige an den Film "Wem Ehre gebührt" angelegt hat. Wenn die Eigenschaften, die Drehbuch und Regie einer beliebigen Filmfigur zuweisen, so gewertet würden, als sollten sie der ethnischen, religiösen, der rassischen oder sonst einer Gruppe als Ganzes zugeschrieben werden, der diese Figur angehört.

Dieser Artikel des Abgeordneten der Grünen Özcan Mutlu könnte freilich seinerseits ein Vorurteil schüren. Das Vorurteil nämlich, daß Abgeordnete der Grünen kein Verständnis für Freiheit und Toleranz haben.

Genauer: Daß sie zwar Freiheit und Toleranz für sich selbst und ihre Auffassungen fordern, aber die Freiheit anderer einschränken wollen, wo sie nur können.

Ein Vorurteil? Ja, gewiß. Es gibt mit Sicherheit Abgeordnete der Grünen, auf die das nicht zutrifft. Und wenn Mutlu erstens intolerant und zweitens ein Abgeordneter der Grünen ist, dann folgt daraus noch lange nicht, daß die Abgeordneten der Grünen intolerant sind.

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