1. Dezember 2012

Marginalie: Der Machtkampf in Ägypten spitzt sich zu. Der Terminplan und die drei Hauptakteure

Vordergründig spielt sich das politische Geschehen in Ägypten in diesen Tagen auf der Straße ab; und vor allem auf einem Platz, dem seit der Revolution gegen Mubarak weltweit bekannten Tahrir-Platz in Kairo.

Gestern Abend demonstrierten dort die Gegner der Islamisten. Heute gibt es, wie CNN aktuell meldet, Demonstrationen sowohl der Anhänger als auch der Gegner Morsis. Seine Anhänger bewegen sich derzeit durch die Straßen in der Nähe der Universität und werden sich auf dem al-Nahda-Platz treffen, direkt gegenüber dem Tahrir-Platz, wo sich wieder die Morsi-Gegner versammeln.

Deren Anzahl scheint heute aber bisher geringer zu sein als gestern. (Zu den Dimensionen des Tahrir-Platzes und der Zahl der Menschen, die sich dort maximal versammeln können, siehe Hunderttausende auf dem Tahrir-Platz? Ja wie denn? Anmerkung zu einer notorischen Falschmeldung; ZR vom 8. 2. 2011).

Aktuell können Sie die Ereignisse im Live Ticker der ägyptischen Zeitung Al Ahram verfolgen.

Der eigentliche Machtkampf spielt sich aber nicht auf der Straße ab. Es gibt einen Terminplan, der erwarten läßt, daß in den nächsten Tagen Entscheidungen zwischen den maßgeblichen Akteuren fallen.

An den politischen Auseinandersetzungen im revolutionären Ägypten sind, wie oft nach einer Revolution, Kräfte beteiligt, die radikal verschiedene Vorstellungen von dem künftigen Weg des Landes haben. Es geht nicht nur darum, wer die Macht im Staat haben wird, sondern vor allem darum, in welchem Staat diese Macht ausgeübt werden wird.

Dabei sind fünf politische Kräfte im Spiel: Die Moslembrüder, die Salafisten, das Militär, die Justiz und die säkularen, westlich orientierten Parteien (siehe Morsi vollendet seine Machtergreifung vom 12. August; ZR vom 3. 11. 2012).

Moslembrüder und Salafisten ziehen gegenwärtig am selben Strang. Die säkularen Kräfte spielen, auch wenn sie Demonstrationen organisieren, machtpolitisch ohne das Militär kaum eine Rolle. Islamisten, Militär und Justiz werden also die Akteure der kommenden Tage und Wochen sein. Stratfor hat gestern analysiert, welche Entwicklung zu erwarten ist:

Gestern hat die Verfassungskommission die fertige Verfassung vorgelegt; wie es zu erwarten gewesen war, die Verfassung eines islamistischen Staats unter der Scharia. Sie können diesen Text hier lesen.

Der nächste Schritt wird sein, daß Präsident Morsi diesen Text bestätigt. Das ist bereits für heute vorgesehen. Danach muß innerhalb von nur zwei Wochen ein Referendum stattfinden, in dem das Volk die Verfassung annimmt. Damit wäre der Weg frei für Parlamentswahlen schon bald im kommenden Jahr.

Aber die Justiz hat ihren eigenen Fahrplan. Am morgigen Sonntag wird das Oberste Gericht einen Antrag auf Auflösung der Verfassungskommission beraten und möglicherweise auch schon darüber entscheiden. Löst es die Kommission auf, dann ist unklar, was aus deren Verfassungstext wird.

Des weiteren wird ein Gericht in Kairo am Dienstag über einen Antrag beraten, die Verfassungserklärung Morsis vom 22. November zu annullieren. Auch hier könnte schon sofort eine Entscheidung fallen.



Was wird Morsi, was werden die Moslembrüder tun, wenn diese beiden Gerichte gegen sie entscheiden? Das ist gegenwärtig völlig offen. Bisher haben sie Gerichts­entscheidungen respektiert. Jetzt aber geht es um die Macht­frage.

Das Militär hält sich gegenwärtig noch im Hintergrund; was aber nicht bedeutet, daß es entmachtet wäre. Bisher hat es mit den Moslembrüdern eine Art Stillhalteabkommen zum beidseitigen Vorteil geschlossen: Das Militär läßt Morsi gewähren; dieser tastet dessen Privilegien nicht an.

Sollte jetzt aber der Konflikt zwischen der Justiz und den Islamisten eskalieren, dann könnte das Militär sich veranlaßt sehen, aus seiner Reserve herauszutreten und einzugreifen.

Wobei freilich die Frage ist, wieweit nicht auch die - vor allem oberen - Ränge des Militärs inzwischen bereits den Moslembrüdern nahestehen.
Zettel



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