26. Dezember 2012

Die Adenauerzeit, die Achtundsechziger, die RAF. Die Deutschen und das Atom. Zeitgeschichtliches in ZR

Wann wird politische Gegenwart zu Zeitgeschichte; wann wird Zeitgeschichte zu Geschichte?

Das, was noch in der Diskussion ist, im Werden, ist noch keine Zeitgeschichte. Dazu wird es erst dann, wenn es eine gewisse Endgültigkeit erreicht hat; wenn aus Dynamik Strukturen entstanden sind. Zur Zeitgeschichte, könnte man vielleicht sagen, wurde die West­integration der Bundes­republik, als auch die SPD sie akzeptiert hatte; und die Ostpolitik, als auch Helmut Kohl sie nicht mehr rückgängig machen wollte. Zur Zeitgeschichte wurde der europäische Kommunismus im Augenblick seines Untergangs; also 1989/90.

Warum zur Zeitgeschichte und nicht gleich ganz einfach zu Geschichte? Man kann "Zeitgeschichte" subjektiv und objektiv verstehen. Objektiv ist sie so etwas wie das Verbindungsglied zwischen der politischen Gegenwart und der Geschichte: Das aus der Geschichte, was noch unmittelbar in die Gegenwart hineinwirkt; und dasjenige der Gegenwart, das schon als Geschichte zu verblassen beginnt. Subjektiv korrespondiert die Zeitgeschichte der eigenen bewußten Erfahrung.

Meine bewußte Erfahrung von Politik begann in der Adenauerzeit. Was seither geschah, ist für mich Zeit­geschichte. Für jemanden, der, sagen wir, 1985 geboren wurde, liegt das, was für mich noch Zeitgeschichte ist - etwa der Koreakrieg, etwa die Pariser Verträge - schon in geschichtlicher Vergangenheit.



Es gibt zwei Gründe, warum die Zeitgeschichte in ZR einen relativ breiten Raum einnimmt.

Der eine ist, daß man die Gegenwart schlecht verstehen kann, wenn man sie nicht in den Kontext der Zeitgeschichte einordnet. Das ist natürlich eine Binsenweisheit; aber eine doch nicht immer beachtete. Den Wahnwitz des deutschen "Ausstiegs" aus der Atomenergie kann man beispielsweise kaum verstehen, wenn man nicht sieht, welche ganz ungewöhnliche Rolle das Thema Atom seit Beginn der Bundesrepublik gespielt hat.

Kein Land der Welt - nicht einmal Japan, das mehr Grund dazu gehabt hätte - hat ein derart irrationales Verhältnis zur Kernenergie wie Deutschland. Der "Ausstieg" ist der vorläufige Schlußpunkt dieses deutschen Sonderwegs, kein geschicht­licher Zufall.

In der ersten Serie in ZR habe ich diese eigenartige Geschichte nachzuzeichnen versucht. Alle Folgen sind hier verlinkt. Ab der fünften Folge geht es allerdings nicht mehr um Zeitgeschichte, sondern um Politik der Gegenwart.

Die ersten Folgen befassen sich aber mit Zeitgeschichte: Mit dem deutschen Sonderweg, der Deutschland schon vor dem "Ausstieg" international isoliert hat. Sodann mit der Bewegung "Kampf dem Atomtod", deren Einfluß auf die Entwicklung der Bundesrepublik kaum zu überschätzen ist; viele der Extremisten der siebziger Jahre wurden in ihr politisiert, auch Ulrike Meinhof.

Das führte dazu, daß die antiautoritäre Bewegung, die weltweit Ende der sechziger Jahre entstand, in Deutschland - und nur hier - diese seltsame Wendung zum Kampf gegen die friedliche Nutzung der Atomenergie nahm. Sie finden das unter der Überschrift Die APO entläßt ihre Kinder.

Als dann 1986 der atomare Unfall in Tschernobyl passierte, war diese Bewegung in Deutschland schon so stark geworden, daß sie die publizistische Reaktion bestimmen konnte. Objektiv war die Gefahr für Deutschland minimal; aber damals entstand diese irrationale Angst weit über die politische Linke hinaus, die seither Deutschland in eine Art kollektive Schreckstarre versetzt hat, was die Kernenergie angeht.



Ulrike Meinhof, die RAF, die Achtundsechziger - ist das schon Geschichte oder noch Zeitgeschichte?

Es ist nicht nur für mich - subjektiv - Zeitgeschichte, weil ich es erlebt habe; sondern es ist Zeitgeschichte auch im objektiven Sinn: Auf eine verhängnisvolle Weise, weil die damaligen Fehlentwicklungen die Probleme unserer heutigen Bundesrepublik wesentlich mitbestimmen.

Das ist der zweite Grund, warum Zeitgeschichte so oft in ZR vorkommt: Weil ich glaube, daß nur das Verständnis der Zeitgeschichte uns vielleicht davor bewahren kann, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen; was zu befürchten es freilich manchen Anlaß gibt.

Sie finden in ZR zu diesem Themenkomplex zwei Serien:
"So macht Kommunismus Spaß"

Wir Achtundsechziger
Der Titel "Wir Achtundsechziger" war bewußt gewählt, hat aber auch zu Mißverständnissen geführt. Ich gehöre dieser Generation an, und ich bin durch das politisch geprägt, was damals geschah. Ein Linksextremist freilich bin ich nie geworden; nur für etliche Jahre ein Sozialdemokrat, bei den Jusos auf dem rechten Flügel. Zuvor hatte ich die FDP gewählt; nach der Desillusionierung war es nicht schwierig, den Liberalismus wieder dort zu finden, wo er beheimatet ist.

In dieser Serie zeichne ich nach, was sich in diesen aufregenden Jahren abspielte.

Ja gewiß - das waren Jahre, um die uns die nach­folgenden Generationen in gewisser Hinsicht beneiden. Denn es war ja in diesen Jahren zwischen 1967 und 1972 spannend, gewissermaßen engagierend; eine vibrierende Zeit. Eine Jugendbewegung, wie sie - was diese Stimmung des Aufbruchs angeht - jede Jugend verdient hätte; wie sie aber nicht jede Generation erlebt. Der Zeitgeist schwang sozusagen im Einklang mit der Jugend.

Es begann so schön, und es wurde so erbärmlich; vermutlich auch das trivialerweise. So gehen eben Revolutionen meist; und dies war eine, wenn auch eine Kulturrevolution.

In der ersten Folge schildere ich, wie alles anfing. Diese naive, fast kindliche Stimmung des Aufbruchs. Angefangen hat es ja nicht 1968, sondern im Lauf der sechziger Jahre; in Deutschland war ein Schlüsselereignis die "Spiegel"-Affäre gewesen. Eine Nachzeichnung dieser Ereignisse finden Sie in ZR in drei Teilen, zu den Themen
Politik und der "Spiegel" vor der Kampagne gegen Strauß

Rudolf Augsteins Feldzug gegen Franz-Josef Strauß

Die Besetzung des "Spiegel" und das Ende der Nachkriegszeit
Das also war der Anfang gewesen, der Aufbruch: Eine Bewegung für die Erhaltung der Freiheit, nein für mehr Freiheit. Eine Bewegung des besseren Deutschland, das hinter dem "Spiegel" stand, gegen den deutschen Obrigkeitsstaat.

So blieb es nicht lange. Wie diese Bewegung in die Hände von Dummköpfen und Ideologen geriet, das können Sie hier nachlesen:
Wieso eigentlich Achtundsechziger? (Eine sehr persönliche Erinnerung an diese Zeit)

Die Zeit der Pausenclowns (Wie das alles lächerlich wurde; wie die Albernen und die Ideologen sich durchsetzten)

Entmischung in den siebziger Jahren (Damals trennten sich die Liberalen von den Dummen, die Ideologen von den Demokraten)
Das ist in dieser Serie sozusagen die Abteilung Geschichts­buch. Ich habe dann noch drei Folgen geschrieben mit dem Versuch, zu verstehen, wie das alles so aus dem Ruder laufen konnte:
Wie lebte man damals eigentlich? Eine Empfehlung, das auf spannende Weise zu erkunden. Nebst einer Erinnerung an Adorno

Die Nachkriegskinder. Eine moralisch-hedonistische Generation wendet sich gegen eine skeptische Generation

Eine deutsche, eine sehr deutsche Bewegung



Es war eine sehr deutsche Bewegung, die da aus dem Ruder lief. Dieses extreme Aus-dem-Ruder-Laufen, das immer noch unsere deutsche Gefährdung ist, habe ich am Beispiel der RAF in der zweiten der beiden genannten Serien zu analysieren versucht; "So macht Kommunismus Spaß".

Diese Serie beginnt mit einer Rezension des Buchs von Ulrike Meinhofs Tochter Bettina Röhl, in dem die Autorin die Zeit aufarbeitet, bevor Ulrike Meinhof zur Terroristin wurde. Sie befaßt sich dann in den weiteren Folgen mit der RAF und ihrer Vorgeschichte.

Zu diesem Thema des deutschen Terrorismus habe ich immer wieder geschrieben; zum Beispiel hier:
Die Moral eines Mörders

Über die vergessenen Opfer der RAF

"... die Ziele der RAF nach wie vor für richtig"

Auschwitz, die RAF und deutsche Vergangenheits­bewältigung

RAF und kein Ende: Warum wollten Terroristen Franz-Josef Strauß ermorden?

Die RAF, die faschistische Gefahr, die kommunistische Propaganda

Was waren die Ziele der RAF?


Die deutsche Unbedingtheit, diese Überheblichkeit Hegels, der sich als Enträtslers des Weltgeistes verstand, dieses Prophetentum des Scharlatans Marx - das zieht uns Deutsche auch heute noch an. Es ist, als wäre der kritische Skeptiker Kant, als wären Aufklärer von Lessing bis Popper spurlos an uns vorübergegangen.

Es ist das Verhängnis unseres Nationalcharakters. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen; darunter tun wir es nicht. Das hat den Terror der RAF hervorgebracht, wie zuvor den der SA.

Wir waren die extremsten Nationalisten, die extremsten Freunde des technischen Fortschritts. Jetzt wollen wir die ganze Welt verändern, indem wir dem Fortschritt entsagen, aus der Atomkraft aussteigen, am besten auch noch aus der Gentechnologie und dem Fracking. Indem wir das Thema "Klima" zum Fetisch erheben; so, wie einst andere Themen das ganze Deutschland einen sollten.

Auch dies ist ein Punkt, den ich immer wieder aufgegriffen habe. Ich möchte Ihnen dazu zwei Artikel empfehlen. Der erste war damals, im Frühsommer 2011, meine Reaktion auf den Beschluß zum "Ausstieg"; und er faßt mit zahlreichen Links das zusammen, was ich davor zu diesem Thema geschrieben hatte. Der zweite entstand ein knappes Jahr zuvor und war optimistischer - vermutlich zu optimistisch - gewesen:
Deutschland im Jahr 2011 - ein durch einen gemeinsamen Willen zur historischen Aufgabe beseeltes Volk

Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende. Eine These.
Dieser zweite Artikel enthielt einen Rückblick auf die deutsche Nachkriegsgeschichte; und die optimistische These war damals motiviert durch den Bestseller-Erfolg von Thilo Sarrazins erstem Buch; trotz dessen Verteufelung in den meisten Medien. Das veranlaßte mich, dies zu schreiben:
Nach zwanzig Jahren seit der Wiedervereinigung, nach wiederum einer knappen Generation also, könnte Deutschland reif sein für ein Ende dieser Epoche, in der das freie Wort zwar nicht verboten, aber mit gesellschaftlichen Sanktionen belegt war wie nie seit der Gründung der Bundesrepublik.
Heute würde ich das so nicht mehr schreiben.
Zettel



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