8. Dezember 2012

Peer Steinbrück und die Gerechtigkeit


Gerechtigkeit gehört zu den Begriffen, von denen jeder weiß, was sie bedeuten - außer den Philosophen, die darüber nachdenken. Wir haben ein Gefühl für Gerechtigkeit. Wir können meist spontan sagen, ob wir etwas als gerecht oder als ungerecht empfinden. Eine abstrakte Definition von Gerechtigkeit brauchen wir dazu nicht.

Vor allem wissen wir, was ungerecht ist. Ungerecht ist es, wenn jemand unschuldig verurteilt wird. Ungerecht ist es, wenn Männer und Frauen für dieselbe Arbeit verschieden bezahlt werden. Ungerecht ist es, wenn ein Schiedsrichter ein Spiel verpfeift.

Kinder empfinden es als ungerecht, wenn der Lehrer bestimmte Schüler bevorzugt und andere schlecht behandelt. Schon kleine Kinder haben ein Gefühl für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit.

Ungerecht ist es nach unserem Rechtsempfinden, wenn - um ein aktuelles Beispiel zu nehmen - der Verfassungsentwurf, über den in der kommenden Woche die Ägypter abstimmen sollen, es den christlichen Kopten abverlangt, in einem Land zu leben, dessen Rechtssystem von der islamischen Scharia bestimmt sein soll, in ihrer sunnitischen Interpretation. Denn vor dem Gesetz sollten alle gleich sein. So sagt es uns unser Rechtsempfinden.



"Gerechtigkeit" ist ein politischer Kernbegriff, der buchstäblich die Jahrtausende durchzieht. In der Anfangszeit der Entwicklung von Hochkulturen gab es oft die großen Gesetzgeber - Hammurapi (1792 bis 1750 v. Chr.) zum Beispiel, der in Babylonien die erste Sammlung kodifizierten Rechts schuf; Solon von Athen (ca. 640 bis 560 v. Chr.), den Sie auf dem Titelbild sehen. Die großen Herrscher, die den Völkern in Erinnerung bleiben, sind meist die gerechten Herrscher.

Was macht sie aus, die "Gerechtigkeit" von Herrschern wie Salomon, die mit dem sprichwörtlichen Begriff des "salomonischen Urteils" in unsere Sprache eingegangen ist? Was macht die Gerechtigkeit einer Gesellschaft aus?

Die politischen Philosophen haben darüber nachgedacht, seit Plato seine Politeia schrieb, seinen Dialog über Politik, in dem er Gerechtigkeit als ein allen anderen übergeordnetes Prinzip faßt; nämlich als die Forderung, daß alle im Staat das tun, was ihnen zugewiesen ist.

Sehr demokratisch ist das nicht gedacht; der Aristokrat Platon war ein Verächter der Demokratie. Unseren heutigen, demokratischen Begriff von Gerechtigkeit hat in der Gegenwart vermutlich niemand so sehr geprägt wie John Rawls, mit dem sich zu befassen die Pflicht jedes politisch Interessierten sein sollte.

Für Rawls ist der Kern von Gerechtigkeit Fairness. Sie bedeutet einerseits, daß alle dieselben Chancen in der Gesellschaft haben sollten - unabhängig davon, aus welchem Elternhaus sie stammen, welches Geschlecht sie haben, welche Rasse usw.

Andererseits bedeutet Fairness aber keine egalitäre Gesellschaft. Ungleichheit ist erforderlich, denn sie dient allen; und sie rechtfertigt sich dadurch, daß sie allen dient.

Rawls illustriert das mit dem bekannten Gedankenexperiment des "Schleiers der Unwissenheit": Stellen wir uns vor, eine Gruppe von Menschen müßte sich auf eine Verfassung ihrer Gesellschaft einigen - und niemand weiß, an welcher Stelle er in dieser Gesellschaft stehen wird. Das erfährt er erst, wenn der Schleier gelüftet wird. Auf was für eine Gesellschaft können sich alle dann einigen?

Gewiß keine egalitäre; denn in ihr wären alle arm. Aber auch keine krasse Klassengesellschaft, den wer in dem Gedankenexperiment einer solchen Gesellschaft zustimmte, der müßte ja damit rechnen, zu den in ihr - wird der Schleier gelüftet - Unterdrückten zu gehören.

Wenn die Gruppe sich vernünftig entscheidet, dann wird sie folglich eine Gesellschaft wählen, in der es Ungleichheit zum Nutzen aller gibt; vor allem gerade zum Nutzen der weniger Fähigen.



Sie wundern sich, daß Peer Steinbrück, nun nicht unbedingt ein politischer Philosoph, im Titel dieses Artikels steht?

Morgen wird Steinbrück - auch wenn Linke noch davon träumen, das zu verhindern - in Hannover zum Kanzlerkandidaten der SPD gekürt werden. Und unter welches Generalthema er seinen Wahlkampf zu stellen beabsichtigt, das kann man beispielsweise in "Zeit-Online" lesen. Es ist Gerechtigkeit:
Vor seiner Kür zum Kanzlerkandidaten hat Peer Steinbrück den Schwerpunkt des SPD-Wahlkampfs festgelegt. Die Debatte um Gerechtigkeit soll im Mittelpunkt stehen. (...)

"Die SPD tut gut daran, ihre unverkäuflichen Werte in den Vordergrund zu stellen – Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität", sagte Steinbrück der Süddeutschen Zeitung. Er werde sich im Wahlkampf für "faire Löhne für gute Arbeit" einsetzen.
Daran nun ist Verschiedenes bemerkenswert.

Erstens ist das Aushandeln von Löhnen in einer freien Gesellschaft bekanntlich Sache der Tarifpartner; nicht eines potentiellen Kanzlers Peer Steinbrück. Im Sinn der Gerechtigkeit, so wie sie John Rawls definiert, wäre es nachgerade höchst ungerecht, würden Löhne nicht unter den Beteiligten ausgehandelt, sondern von einer Regierung dekretiert werden.

Zweitens ist schwer zu sehen, wieso die Löhne in Deutschland derzeit nicht fair sein sollten. Sie bestimmen sich, sofern sie frei ausgehandelt sind, danach, für welchen Lohn der Arbeitnehmer zu arbeiten bereit ist und was der Arbeitgeber für diese Arbeit zu zahlen bereit ist. Fairer geht es nicht.

Würde man ihn zwingen, den Arbeitgeber, Löhne zu zahlen, die sich für ihn nicht rechnen, dann würde er das betreffende Beschäftigungsverhältnis nicht eingehen. Wenn der Staat Arbeit künstlich verteuert, dann führt das folglich zu mehr Arbeitslosigkeit. Man kann das bei unserem Nachbarn Frankreich besichtigen, wo die 1997 unter einer sozialistischen Regierung eingeführt 35-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich noch immer einer der wesentlichen Faktoren bei der hohen Arbeitslosigkeit ist (siehe Wie der Sozialismus die französischen Restaurants verändert hat. Und warum es das Bistrot von Madame Cornut nicht mehr gibt; ZR vom 22. 5. 2007).

Und drittens kann man sich schwer verkneifen, bei Peer Steinbrück die Frage zu stellen, was er denn persönlich für einen "fairen Lohn für gute Arbeit" hält. Ein Honorar von 25.000 Euro für einen Vortrag von vielleicht eineinhalb Stunden?

Nein, ich will es überhaupt nicht anprangern, daß Steinbrück das nimmt, was man ihm anbietet. (Eine andere Frage ist es, ob die Stadtwerke Bochum mit dem Geld ihrer Gebührenzahler fair umgehen, wenn sie derartige Honorare anbieten).

Steinbrück hat seinen Marktwert; wie ein Spitzenfußballer, wie eine Boy Band. Er soll sich gern so teuer verkaufen, wie das andere auch tun. Nur ist es vielleicht keine so sehr gute Idee, sich zugleich als Champion vorgeblicher sozialer Gerechtigkeit zu präsentieren.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild: Der Gesetzgeber Solon von Athen (ca. 640 bis 560 v. Chr.) Büste im Vatikanmuseum. Foto vom Urheber GeoTrou unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Lizenz freigegeben.