9. Dezember 2012

Zu Steinbrücks "Gerechtigkeits"-Wahlkampf eine Gegenthese: In dieser Gesellschaft nivellieren sich immer mehr die sozialen Unterschiede

Vor ein paar Jahren war ich zu einer Familienfeier eingeladen. Die Gastgeber hatten uns zum Übernachten ein Zimmer bei privaten Vermietern besorgt. Ich vermeide sonst solche "Pensionen", aber nun waren wir eben dort einquartiert worden.

Die Inhaberin gehörte zu denen, die davon überzeugt sind, daß es ihren Gästen angenehm ist, wenn sie sich zum Frühstück zu ihnen gesellen und eine Schwatzerei anfangen. So erfuhren wir also die Biografie der Dame; und daß sie leidenschaftlich gern reise - Karibik, Malediven, das ganze Programm.

Soweit erkennbar, lebte sie hauptsächlich von der Vermietung einiger Zimmer. Aber solch einen Urlaub konnte sie sich leisten.

Kürzlich kam ich mit einem Taxifahrer darüber ins Gespräch, wer seine hauptsächlichen Kunden seien. Seine über­raschende Einschätzung: Alle Schichten, aber vor allem Unter­schicht.

Ich mochte das gar nicht glauben, aber er erklärte es mir: Viele aus dieser Schicht hätten kein eigenes Auto, oft nicht mehr den Führerschein. Und sie seien oft betrunken, also auf das Taxi angewiesen, auch wenn sie Auto und Führerschein besäßen.

Der Mann wirkte glaubwürdig. Setzen wir einmal voraus, daß seine Beobachtung zutrifft. Nehmen wir zur Kenntnis, daß einen Zimmerwirtin heute in der Dominikanischen Republik Urlaub machen kann; oder die junge Friseuse, die mir vor einiger Zeit von einem solchen "all inclusive"-Urlaub berichtete, während sie sich mit meinen Haaren befaßte.



Zur Zeit meiner Eltern und Großeltern war es ein unglaublicher Luxus, "sich eine Taxe zu nehmen". Ein Privileg der Oberschicht und der oberen Mittelschicht. So, wie es deren Privileg war, in die "Sommerfrische" zu reisen, Essen zu gehen, ein eigenes Auto zu besitzen, in einer geräumigen Wohnung zu leben, in der zB. die Kinder ein eigenes Zimmer hatten. Oder auch nur täglich Fleisch zu essen, den Kindern Spielzeug zu kaufen, ins Theater und in die Oper zu gehen.

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gab es, was die Lebensumstände angeht, sehr große Unterschiede zwischen Menschen mit unterschiedlichem Einkommen und Besitz.

Es waren sicherlich längst nicht mehr Unterschiede zwischen den "besitzenden Klassen" und den "arbeitenden Klassen", wie im England des 19. Jahrhunderts. Es gab auch keine scharfen, unüberwindbaren Klassengrenzen mehr. Ein Schuhmacher hatte 1919 zum Reichspräsidenten aufsteigen können; spätestens mit der Nazi-Zeit hatte sich eine immer größere vertikale soziale Mobilität entwickelt, die seit der Nachkriegszeit viele "Self-Made-Men", wie man damals gern sagte, hervorbrachte.

Aber die Besitz- und Einkommensunterschiede waren - in Geldsummen ausgedrückt - immer noch groß; so, wie sie es auch heute noch sind. Und sie schlugen sich in riesigen Unterschieden darin nieder, wie man lebte. Welche "Lebensqualität" man hatte; ein Wort, das in den Siebziger Jahren populär wurde.

Nur der Wohlhabende hatte ein Auto, Telefon, eine Zentralheizung, und nur er konnte sich einen Urlaub im Ausland leisten. Der einfache Mann, "Otto Normal­verbraucher", wie er genannt wurde, fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit, telefonierte wie Ekel Alfred von der Telefonzelle aus, heizte mit Koks und fuhr in den Ferien zu den Verwandten auf dem Land.

Es waren verschiedene Welten, in denen die Wohlhabenden und die anderen lebten.

Davon ist heute wenig geblieben. Immer mehr haben die Reichen das Problem, sich in den Lebensumständen, im Lebensgenuß noch vom Rest zu unterscheiden.



Nehmen wir das Essen. "Hummer, Lachs und frischer Bärenschinken", - das war eine Berliner Redensart, als Ausdruck für unfaßbaren Luxus, für teuerstes Essen. Bärenschinken ist heute auch den Reichsten so gut wie verwehrt. Lachs aber bekommen Sie zum Preis von guter Wurst, und Hummer ist bei Aldi zu haben, wenn auch tiefgefroren. Bei Aldi konnte man zeitweise auch Austern kaufen. Es gibt dort vorzüglichen italienischen Schinken und in einem Spezial-Körbchen sehr guten französischen Käse. Lidl bietet jetzt, zu den Festtagen, ein Spezialangebot von Delikatessen, "De Luxe".

Gewiß, es gibt jeweils noch Besseres. Aber die Unterschiede sind minimal.

Ich bezweifle, daß beispielsweise viele Weintrinker den Unterschied zwischen einem der etwas teureren Aldi-Weine und einem Wein zum Preis von 40 Euro schmecken würden.

Meine Frau hat vor ein paar Jahren aus Italien eine Flasche sehr teuren Olivenöls mitgebracht, das Beste vom Besten. Es schmeckt kaum anders als ein Öl zu vielleicht zehn Euro, wie man es beim Discounter bekommt.

Beim Käse gibt es eh keine Oberklasse, die über das im Warenhaus Erhältliche hinausgehen würde - ein Roquefort ist halt ein Roquefort. Ich habe ihn in Roquefort selbst gekauft, beim Hersteller. Er schmeckte nicht anders als derjenige, der bei Rewe im Regal liegt; nur war er weit billiger.

Erst recht gilt das für die Qualität dessen, was zubereitet auf den Tisch kommt. Jeder Bezieher eines Durchschnitts­einkommens kann, wenn er es gelernt hat, auf annähernd demselben Niveau kochen, auf dem in deutschen Millionärshaushalten gegessen wird. Es ist eine Frage des Stils und des Könnens, nicht des Preises.



Oder nehmen wir den Urlaub. Die Sommerfrische, die Auslandsreise gehörten bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts zu dem, was sich nur die Betuchten leisten konnten. In den fünfziger Jahren begann der Individualtourismus auch der Mittelschicht. "Mit der Nuckelpinne nach Bella Italia" lautet der Titel einer hübschen Erzählung von Robert Gernhardt, die das mit sanfter Ironie beschreibt. Dann setzte der Pauschaltourismus ein. Erst die Busreisen, dann die pauschalen Eisenbahnreisen (zeitweise mit eigenen Zügen der TUI, die "Urlaubsexpress" oder so ähnlich hießen), schließlich der Charterflug-Tourismus.

Zugleich wurden die Urlaubshotels immer luxuriöser. Was noch in den sechziger Jahren größter Luxus reicher Hotelgäste gewesen war - die eigene Dusche und Toilette, das TV im Zimmer - wurde zum Standard für den Malocher aus Wanne-Eickel und den Vertreter aus Berlin.

Nach oben aber stößt man schnell an Grenzen. Gewiß, die Räume können größer werden, hin zur Suite. Es kann edles Mobiliar in den Zimmern stehen. Aber der Komfort für den Nutzer nimmt dadurch kaum zu.



So konnte man alle Lebensbereiche durchgehen, immer mit demselben Befund: Wir - das heißt die große Mehrheit der Deutschen - leben heute in Verhältnissen, die noch vor einem halben Jahrhundert den Reichsten vorbehalten waren.

Und diese? Sie verdienen und/oder besitzen viel Geld, das ist wahr; sonst wären es ja nicht die Reichen. Aber was haben sie davon? Was können sie sich leisten, was sich der Durchschnittsdeutsche nicht leisten kann?

Es ist schwierig. Sie können sich die Lebensmittel im teuren Feinkostgeschäft kaufen, sie können ins Zweisterne­restaurant gehen. Aber genußvoller werden sie damit in der Regel nicht essen als der Facharbeiter, der sich für gutes Kochen interessiert.

Sie können sich ein Auto kaufen, das zehnmal so viel kostet wie das des Facharbeiters - aber viel schneller können sie damit auch nicht fahren; und der Fahrkomfort ist auch nur geringfügig besser. Sie können sich eine HiFi-Anlage für 10.000 Euro kaufen; aber der Hörgenuß wird nur unwesentlich größer sein als derjenige des Normalos, der seinem PC mit entsprechenden Lautsprechern satte Töne entlockt.

Sie können sich die neuesten Filme im Heimkino ansehen; aber es sind doch dieselben Filme, die der Normalverdiener im Kino anschaut. Und auch dieser hat inzwischen schon oft sein Heimkino; seinen 3-D-Fernseher, den der Millionär kaum toppen kann.

Sie können, die Reichen, auch nicht weiter fliegen als auf die andere Seite des Globus, wo sie dann von den TUI-Reisenden erwartet werden. Sie machen vielleicht Urlaub auf einer Yacht; aber das Vergnügen dürfte nur wenig größer sein als dasjenige des Arbeiters, der mit seinem kleinen Segelboot vor der Küste Kroatiens seinen Spaß hat.



Bleibt also gar nichts mehr, was das Reichsein so attraktiv machen würde, wie es das seit den Anfängen der Zivilisation gewesen sein dürfte? Doch. Es bleibt die Exklusivität.

Auf dem Weg in die klassenlose Gesellschaft können sich die Reichen immer weniger durch mehr Lebensgenuß vom Pöbel unterscheiden. Sie können sich umgekehrt nur noch dadurch mehr Lebensgenuß verschaffen, daß sie sich vom Pöbel unterscheiden. Mit anderen Worten: Privilegiertsein ist kein Mittel mehr, es ist das Ziel.

In den Hotels, in die nur die Schönen und Reichen Einlaß finden, ist der Komfort nur unwesentlich größer als in den normalen Viersterne-Hotels (und vieles von diesem zusätzlichen Komfort ist von geringem Gebrauchswert). Es ist aber komfortabel, in Exklusivität zu wohnen; von bestens geschultem Personal umgeben zu sein.

Der Swimming-Pool - einst ein klassisches Privileg der Reichen, wie schon der Anglizismus andeutet -, gehört heute schon zu vielen Mittelklasse-Hotels. Aber die Reichen sind unter sich, wenn sie eben nicht im Pool des Mittelklasse-Hotels herumschwimmen, sondern in dem des "Vier Jahreszeiten" oder des "Adlon".

Sind sie das? Ach was. Das "Adlon" kann längst pauschal gebucht werden; vier Tage für 414 Euro.



Gewiß, ich habe mich jetzt mit dem schwindenden Abstand zwischen dem Lebensstandard der Reichen und der Normalverdiener befaßt. Etwas anderes ist es, daß - in geringem Umfang - auch in Deutschland Armut existiert (siehe die Serie "Armut" von Ende 2006).

Aber generell sind Vergleiche der Einkommen, erst recht der Vermögen, irreführend, wenn es um die Frage der Gerechtigkeit geht. Lebensqualität nimmt nicht linear, noch nicht einmal unbedingt monoton, mit dem Einkommen zu. Von den sehr hohen Einkommen wird der größte Teil nicht konsumiert, sondern investiert.

Wenn die SPD, wie es offenbar geplant ist (siehe Peer Steinbrück und die Gerechtigkeit; ZR vom 8. 12. 2012), im kommenden Wahlkampf auf das Thema "Gerechtigkeit" setzen und also eine angebliche "wachsende soziale Kluft" beschwören wird, dann geht das an der Wirklichkeit dieses Landes vorbei.

An der Wirklichkeit, was die objektiven Lebensverhältnisse angeht. Etwas anderes ist es, daß ein propagandistisches Trommelfeuer seit Jahren diese vorgeblich "sich öffnende Schere" so sehr dem allgemeinen Bewußtsein nahegebracht hat, daß viele Menschen daran glauben, daß es so ist.

Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette vom Autor TUBS unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Dies ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Artikels, der am 15. Juni 2006 unter der Überschrift "Auf dem Weg in die klassenlose Gesellschaft" erschienen ist.