17. Januar 2007

"So macht Kommunismus Spaß" (1): Zuerst ein paar Beckmessereien

Das Buch, um das es hier geht, halte ich für eines der inter­essantesten des vergangenen Jahres.

Nicht eines der besten des Jahres. Im Gegenteil, seine Mängel liegen auf der Hand. Aber es ist ein Buch, aus dem ich ungewöhnlich viel gelernt habe: "So macht Kommunismus Spaß" von Bettina Röhl, im März 2006 bei der Europäischen Verlagsanstalt (EVA) erschienen. Also nicht mehr ganz "aktuell"; ich habe es jedoch erst jetzt gelesen.

Das Buch wurde überwiegend positiv, mindestens wohlwollend besprochen, aber ein richtiger Beststeller ist es, soweit ich sehe, nicht geworden. Ich kann mich nicht erinnern, es in der "Spiegel"- Bestsellerliste gesehen zu haben.

Auch wenn es nicht der ganz große Erfolg wurde, führt es die EVA immerhin auf Platz eins ihrer verlagsinternen Bestsellerliste, und die Autorin ist weiter auf Lesereise. Es ist also, denke ich, noch aktuell genug, um es hier zu kommentieren.



Positive Rezensionen sind meist so aufgebaut, daß man das Buch zuerst und überwiegend lobt und am Schluß ein paar einschränkende Bemerkungen anhängt - man habe dies und jenes "vermißt", dieser und jener Irrtum sei dem Autor unterlaufen; dergleichen. Das zeigt, daß der Rezensent das Thema beherrscht; er weiß zu korrigieren.

Ich will es umgekehrt machen und vorab, im ersten Teil dieser kleinen Serie, sagen, was mir an dem Buch nicht gefällt.

Es enthält Schluderigkeiten. Die Krönung von Elisabeth II wurde nicht, wie die Autorin meint (S. 171), 1953 in Farbe im TV übertragen; das Farbfernsehen wurde in Deutschland erst 1967 eingeführt. Ulrike Meinhof hat in Münster nicht (Seite 244) in der Steingartenstraße gewohnt, die es dort nicht gibt, sondern in der Steinfurter Straße. Und sie hatte zuvor in Göttingen u.a. bei dem Psychologieprofessor Heinrich Düker studiert, nicht Düber (Seite 184). Da hätte die Autorin die Fakten (also z.B. ihre Lesart der handschriftlichen Dokumente) etwas sorgfältiger verifizieren sollen, oder der Verlag.

Der es auch versäumt hat, ein Sachverzeichnis zu erstellen - bei einem solchen Buch, in dem man Zeitgeschichtliches nachschlagen möchte, ein unverständlicher Mangel.

Gut, das sind die kleinen Beckmessereien. Die ernsthaften Mängel des Buchs liegen in seinem Konzept und in seiner Weitschweifigkeit.



Was das Konzept angeht - ich habe bis zum Ende nicht verstanden, was die Autorin eigentlich schreiben wollte:
  • Eine Biographie Ulrike Meinhofs, samt ihrer Familiengeschichte? Dann hätte das Buch nicht abrupt 1967 mit der Trennung des Ehepaars Röhl enden dürfen (die gesamte RAF- Zeit von Ulrike Meinhof wird nur noch in einem knappen "Epilog" oberflächlich abgehandelt).

  • Eine Geschichte der Zeitschrift "Konkret", ihres politischen Kontexts, ihres Hintergrunds? Dann hätte Röhl sich auf dieses Thema konzentrieren sollen, statt Persönliches und Familiäres im Detail auszubreiten.

  • Oder eine persönliche Auseinandersetzung der heutigen Journalistin Röhl mit ihren Eltern Ulrike Marie Meinhof und Klaus Rainer Röhl? Das scheint das Buch am ehesten zu sein; so wie sich andere aktuelle Bücher (etwa das von Wibke Bruhns) mit der Elterngeneration der Nazizeit auseinandersetzen. Aber wenn dies die Absicht des Buchs ist, dann gehören seitenlange Zitate aus Dokumenten der illegalen KPD, aus Protokollen von SDS-Kongressen und dergleichen nicht hinein; oder zeitgeschichtliche Betrachtungen

  • Das Buch versucht etwas von alledem zu sein. Das kommt auch in der Erzählperspektive zum Ausdruck. Die Autorin schreibt manchmal in der Ichform und spricht von "meiner Mutter". Dann wieder ist von "den Röhl- Zwilligen" die Rede und von "Ulrike Meinhof". Der Text oszilliert zwischen der subjektiven Perspektive der Tochter, die das Beschriebene als Kind erlebt hat, und der nüchternen Haltung einer Journalistin, die ein Stück Zeitgeschichte aufarbeiten möchte.

    Also, da wurde zu viel versucht, zu viel in dasselbe Manuskript gepackt.



    Zumal man den Eindruck hat, daß kein Lektor für die erforderlichen Streichungen gesorgt hat. Das Buch ist weitschweifig. Immer wieder gibt es Exkurse zur allgemeinen Geschichte der fünfziger und sechziger Jahre; so, als hätte sich die Autorin eine Kenntnis dieser Zeit angeeignet und als wollte sie uns nun daran teilhaben lassen. Dokumente werden in unnötiger Länge abgedruckt. Der Text springt in der Chronologie voran und zurück. Zuvor schon Mitgeteiltes oder Vorausgesetztes wird später so eingeführt, als sei es neu.

    Etwas pointiert gesagt: Das Buch hat mit seinen fast 700 Seiten auf mich gewirkt wie ein Rohmanuskript, zu dem ein guter Lektor der Autorin geschrieben hätte: "Ausgezeichnet. Jetzt sollten Sie sich nur noch entscheiden, was für eine Art Buch Sie schreiben wollen, und dann straffen wir es auf 400 Seiten." Dann wäre es, denke ich, ein herausragendes Buch geworden.



    So ist es, wie gesagt, ein interessantes. Ein hochinteressantes, für mich jedenfalls.

    "Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buche?" hat Lichtenberg notiert. Auch wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen, und es sprühen dabei die Funken, liegt das nicht nur an dem Buch.

    Ich habe mir Ende der fünfziger Jahre als Gymnasiast den "Studentenkurier" und dann "Konkret" besorgt und sie mit klopfendem Herzen gelesen - diese großformatigen, auf schlechtem Papier gedruckten Exemplare mit den an Heartfield angelehnten Fotomontagen auf der Titelseite; mit "Leslie Meir's Lyrik- Schlachthof"; geschmückt mit dem Porträt des jungen Peter Rühmkorf (den ich damals natürlich nicht kannte).

    Ich habe später dann "Konkret" ebenso regelmäßig gelesen wie den "Spiegel", und ich war von der Integrität der Redaktion überzeugt. Auch davon, daß "Konkret", wie Röhl es schwor, nicht aus der DDR finanziert wurde. Ich habe dieser Zeitschrift vertraut, ähnlich wie dem "Berliner Extra- Dienst".

    Daß dieser von Ostberlin aus gesteuert worden war, stellte sich nach der Wiedervereinigung heraus. Daß auch "Konkret" Gelder aus der DDR genommen hatte, erfuhr ich damals ebenfalls.

    Aber das, was Bettina Röhl recherchiert und dokumentiert hat, das hat mich doch vom Stuhl gehauen: Der "Studentenkurier" war schlicht ein Organ der KPD, auch noch nach der Umbenennung in "Konkret". Röhl und Meinhof waren Mitglieder der KPD. Und jede redaktionelle Entscheidung - bis hin zur Berufung von Ulrike Meinhof zur Chefredakteurin - wurde von den zuständigen Funktionären der KPD getroffen; bis dann Röhl aus der KPD ausgeschlossen wurde.

    Ulrike Meinhof aber war auch zu ihrer RAF- Zeit noch Mitglied der KPD (dann als DKP "neugegründet"), und die KPD hat sich auch damals noch um sie gekümmert.

    Und das war nur eine kleine Facette dessen, was die KPD damals veranstaltet hat, um die westdeutsche Linke zu kontrollieren. Bis hin zur "pazifistischen" DFU, die schlicht in Ostberlin gegründet wurde.

    Mehr darüber im zweiten Teil.

    15. Januar 2007

    Ketzereien zum Irak (6): Reporter "vor Ort" und was sie berichten

    Über den Irak wird viel berichtet. Aus dem Irak wird sehr wenig berichtet.

    Heute hat der "Spiegel" wieder einen Artikel über die Situation im Irak. Autoren sind Georg Mascolo (Washington) und Siegesmund von Ilsemann (Hamburg). Also doch recht weit weg von Bagdad stationiert. Immerhin hat der "Spiegel" Büros in Kairo und neuerdings in Dubai. Da ist man schon näher dran. Kurz nach der Befreiung gab es sogar ein "Spiegel"- Büro in Bagdad, das aber bald wieder aus dem Impressum verschwand. Feste Büros haben nur noch wenige Medien in Bagdad.

    Das ist verständlich, vermutlich unvermeidlich. Bagdad ist gefährlich für Journalisten.

    Aber es gibt dennoch Berichte von Autoren, die wirklich "vor Ort" sind. Irakische Blogger; ausländische Reporter, die sich trauen. Hier zwei aktuelle Beispiele.



    Der von zwei Irakern in Bagdad betriebene Blog Iraq the Model, den ich schon in früheren Folgen dieser Serie zitiert habe, hat bereits am 7. Januar - also vor der Rede Präsident Bushs - berichtet, daß eine großangelegte Militäroperation gegen Aufständische in Bagdad unmittelbar bevorstehe. Unter der Überschrift "A new crackdown is about to begin..." (Ein neuer Schlag [gegen den Aufständischen] steht bevor) wurde von massiven Truppenbewegungen in Bagdad berichtet. Maliki habe, so war zu lesen, schon am Tag zuvor den Plan skizziert:
  • Keine Einflußnahme von politischer Seite auf die Ausführung dieses Plans
  • Alle bewaffneten Gruppen werden gleich behandelt
  • Der Schutz der Bevölkerung obliegt ausschließlich den regulären Truppen und nicht irgendwelchen Milizen
  • Vergangenen Mittwoch hieß es dann unter der Überschrift "Did the operation actually begin?" (Hat die Operation schon begonnen?), daß in Bagdad heftiger Schlachtenlärm zu hören sei, daß 30-mm- Geschütze und Apache- Helikopter eingesetzt würden und daß bereits 50 Aufständische gefallen seien. Der Beginn der eigentlichen Operation werde für Freitag, spätestens den Wochenbeginn (also heute) erwartet. Am gestrigen Sonntag wurde berichtet, daß die sunnitischen und El- Kaida- Aufständischen anscheinend schon auf die Operation reagierten, indem sie Positionen in Bagdad verließen und sich in die Provinz Diyala nordöstlich von Bagdad zurückzögen.

    Ein anderes interessantes Detail ist in einem Bericht vom vergangenen Freitag zu lesen, in dem von einem Gespräch mit einer Frau berichtet wird, die aus einer umkämpften Gegend (Haifa Street) geflohen ist. Die "Aufständischen" waren nach ihrer Aussage überwiegend ursprünglich "bandits, thieves and notorious thugs" (Banditen, Diebe und notorische Halunken). Einer ihrer Anführer, Noori al-Aqra, der von Regierungstruppen getötet wurde, habe beispielsweise kurz zuvor eine kurdische Reporterin ermordet und ihren Schmuck geraubt.



    Mehr zu diesem Thema erfährt man in dem Blog In Iraq Journal, dessen Autor, Bill Ardolino, unter Schutz amerikanischer Marineinfantrie-Truppen aus dem Irak berichtet. Am 10. Januar erschien sein Interview mit einem Bürger Falludschahs, "Yusef", dessen genaue Funktion aus Sicherheitsgründen nicht mitgeteilt wird; er sei an leitender Stelle in der Verwaltung tätigt. (Siehe auch den Artikel von Ardolino im "Examiner").

    "Yusef" berichtet ebenfalls, daß es sich bei den "Aufständischen" überwiegend um Kriminelle handle, die mafia- ähnliche Strukturen aufgebaut hätten. Einen großen Teil ihrer Einkünfte bezögen sie aus Schutzgelderpressungen. "From Fallujah to the city of Abu Ghraib, the radicals control everything. Gas stations, power, contracts and, believe it or not, contracts with the Americans themselves." Von Falludschah bis hin zu der Stadt Abu Ghraib würden diese Radikalen alles kontrollieren, Tankstellen, die Energieversorgung, sogar die Kontrakte mit den Amerikanern.

    Sie würden sich sehr um die Rekrutierung junger Männer bemühen, die fest an sie gebunden seien, sobald sie den ersten Mord begangen hätten. Viele dieser junger Männer seien während ihrer Haftzeit in einem Gefängnis radikalisiert worden.



    Eine andere interessante Information aus diesem Interview: Kritisch ist nach "Yusefs" Einschätzung die Haltung der Beduinenstämme.

    In der Provinz Anbar hätten sich bereits auf die Seite der irakischen Regierung gestellt. In Falludschah würden sie wohl zu dem jeweils Stärkeren tendieren. Das seien im Augenblick noch die Aufständischen. Es käme also darauf an, zuerst die Polizei zu verstärken, um dann die Beduinen auf die Seite der Regierung zu ziehen. "Yusef" ist optimistisch, daß das gelingen kann.



    Über weitere Blogs direkt aus dem Irak, zum Beispiel den von Michael Yon, werde ich in einem späteren Beitrag berichten.

    Gewiß läßt sich schwer beurteilen, wie repräsentativ die Beobachtungen und das Urteil dieser Reporter "vor Ort" sind. Mindestens ergänzen sie das Bild, das uns die Journalisten aus Washington, Hamburg, Dubai oder allenfalls aus der Grünen Zone Bagdads liefern.

    Auffällig ist, daß diese Blogs wenig von dem Pessimismus dieser Mainstream- Berichterstattung zeigen.

    Die Lage wird keineswegs rosig gesehen. Aber kaum jemand scheint zu glauben, daß der Krieg gegen die Aufständischen verloren sei.

    Das im Irrgarten der Einigung herumtaumelnde Europa

    Für Europa zu sein, das war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs selbst­ver­ständlich. Zuerst, weil man sich nach zwei fürchterlichen Kriegen nach Aussöhn­ung sehnte. Dann aus der Notwendigkeit heraus, sich gemein­sam gegen den Kommunismus, gegen die Bedrohung durch die Kolonialmacht UdSSR zu behaupten, die gern auch Westeuropa kolonisiert hätte. Schließlich, weil es zunehmend klar wurde, daß nur ein vereintes Europa sich im globalen Mächtespiel würde behaupten können.

    Ich bin immer aus Überzeugung Europäer gewesen. Ich habe es wunderbar gefunden, wie allmählich die Grenzen fielen, wie Europa zusammenwuchs.

    Als ich in den späten fünfziger Jahren als Schüler die ersten Male nach Frankreich fuhr, verlangte das lange Reise­vorbereitungen. Es mußte zum Beispiel beim ADAC für das Auto ein sogenanntes Carnet de Passage erworben werden; ein umfangreiches Dokument, das das Auto bis zu seiner "Wiederausführung" aus Frankreich begleitete. Auf der Bank waren "Devisen" zu besorgen. In unserer kleinen Stadt mußten meine Eltern sie im voraus bestellen, wie auch die Reiseschecks.

    Wenn ich mit meinem Onkel fuhr, der einen Diplomatenpaß hatte, dann genoß ich es, daß wir an der Grenze nach kurzer Prüfung "durchgewinkt" wurden, statt der langen Prozedur, in der erst die deutsche Paßkontrolle, dann der deutsche Zoll, dann der französische Zoll, dann die französische Paßkontrolle jeweils ihres Amtes walteten.

    Wer heute mit dem Thalys von Köln nach Paris fährt, der merkt gar nicht mehr, wann und wo er die Grenze nach Belgien, die von Belgien nach Frankreich überquert. Er zahlt, angekommen, in derselben Währung wie zu Hause, und er kann im Zug sogar schon die Fahrscheine für die Métro erwerben.

    Wer dieses Zusammenwachsen Europas nicht als eine riesigen, einen epochalen Fortschritt sieht, mit dem kann und will ich nicht diskutieren. Das schicke ich voraus, weil der Rest dieses Beitrags sehr europakritisch ist und ich nicht mißverstanden werden will.



    Solche historischen Prozesse wie die Europäische Einigung vollziehen sich selten nach einem Plan. Sie sind, um einmal einen von Marx gern benutzten Begriff zu verwenden, "naturwüchsig".

    Was Adenauer und seine Mitstreiter Anfang der fünfziger Jahre wollten und was 1957 seinen Ausdruck im Vertrag von Rom fand, das war Neukarolingien - das Wiedererstehen des Reichs Karls des Großen; ein katholisch geprägtes, freiheitliches, in seiner gemeinsamen Tradition verwurzeltes Kerneuropa.

    Dieses "Europa der Sechs", wie es genannt wurde, hat sich seither mehrfach erweitert. Die Erweiterungen boten sich an; sie schienen jeweils in die Zeit zu passen. Die Einbeziehung der meisten Länder der EFTA, also Englands und von Teilen Nordeuropas 1973. Später die "Süderweiterung". In unseren Tagen die diversen Stufen der "Osterweiterung". Und seit langem verhandelt man gar mit einem Land des Orients darum, ob es nicht am Ende auch noch nach Europa eingemeindet werden sollte.

    Diese Erweiterungen waren nicht von Anfang an geplant gewesen. So, wie überhaupt kaum jemand das Europa vorausgedacht hat, das am Ende stehen sollte. Man hat sich halt immer mal wieder erweitert. So, wie aus einem Familienbetrieb allmählich ein Konzern wird.

    Viele Unternehmen haben das nicht überlebt. Grundig, Borgward, Neckermann zum Beispiel.



    Das Europa der Sechs, Neukarolingien - das hätte man sich als einen Bundesstaat vorstellen können. Gegründet auf die gemeinsame karolingische Tradition, die gemeinsame Tradition des Heiligen Römischen Reichs. Mit wenigen Sprachen - Deutsch, Französisch, Italienisch, Niederländisch.

    Das sind exakt so viele wie die Amtssprachen in der Schweiz. Die Schweiz hätte überhaupt zum Vorbild dieses Europas werden können. Auch mit ihrem stark ausgeprägten Subsidiaritätsprinzip. Mit der Eigenständigkeit der Kantone, mit der Basisdemokratie. Das wäre ein schönes Europa geworden, von dem Adenauer, de Gasperi, Schuman, Paul-Henri Spaak träumten.

    Jetzt ist Europa gewuchert und gewuchert. "Naturwüchsig" eben, also unbedacht. Und nun wird es fünfzig, und man reibt sich die Augen und fragt: Ja, wo soll das eigentlich hinführen?



    Wie wenig diejenigen, die die Verantwortung tragen, wie wenig diejenigen, die sie als Denkende in ihren Think Tanks dabei unterstützen, das wissen, das erhellt mit erschreckender Deutlichkeit aus einem großen Kommentar, der gestern in der Welt am Sonntag zu lesen war.

    Ein bedeutender Artikel zu Europa. Geschrieben von zweien, die es wissen müssen: Dem Verfassungsrechtler Roman Herzog, Mitglied des Kuratoriums des CEP, und dessen Direktor, Lüder Gerken.

    Was eigentlich Europa werden soll, darüber sind sich die führenden Europapolitiker, so kann man es diesem Artikel entnehmen, überhaupt nicht im Klaren. Vielmehr gebe es, schreiben die Autoren, zwei "sich ausschließender Vorstellungen über die endgültige Gestalt der EU. Auf der einen Seite stehen die Intergouvernementalisten, die einen Verbund dauerhaft souveräner Staaten, ein 'Europa der Vaterländer' anstreben. (...) Auf der anderen Seite stehen die Föderalisten, die einen europäischen Bundesstaat anstreben."

    Beide sind - und das ist die Pointe dieses Artikels - mit der gegenwärtigen Entwicklung gleichermaßen unzufrieden; und beide haben sie Recht mit ihrer Kritik.

    Die einen, die Intergouvernementalisten, konstatieren "mit Sorge eine zunehmende Zentralisierung der Politik auf EU-Ebene, die mit einer Ausdünnung der Befugnisse der Mitgliedstaaten einhergeht". Wie wahr! Das erbärmliche, das durch nichts zu rechtfertigende AGG, ein Schritt in Richtung Sozialismus, ist ein Beispiel. Die Umsetzung einer EU-Direktive, auch wenn die Deutschen (und das unter einer Kanzlerin Merkel) noch draufgesattelt haben auf den lahmenden Gaul.

    Die anderen, die Föderalisten, stört es überhaupt nicht, daß Brüssel immer mehr Kompetenzen an sich zieht. Sie wollen einen europäischen Staat. Den freilich demokratisch verfaßt. "Sie fordern vollständige staatliche Strukturen für die EU im Sinne der klassischen Gewaltenteilungslehre, insbesondere ein Parlament als souveräne Legislative und eine Regierung als souveräne Exekutive – ohne dass die Regierungen der Mitgliedstaaten über den Rat Sand ins Getriebe streuen können."

    Wovon gegenwärtig keine Rede sein kann. Weil - das belegen die beiden Autoren ausführlich - der Ministerrat gegenwärtig zugleich Exekutive und Legislative ist. Weil der Europäische Gerichtshof kräftig selbst Politik macht, indem er regelmäßig zugunsten von mehr Macht für die Brüsseler Bürokraten entscheidet. Weil das Europa- Parlament weit davon entfernt ist, die Europa- Bürokratie zu kontrollieren. Und weil diese, wie jede Bürokratie, darauf abzielt, immer mehr unter die Knute ihrer Direktiven und Regulierungen zu bekommen.



    Kurz, die Intergouvernementalisten und die Föderalisten, beide haben sie Recht mit ihrer Kritik, sagen Herzog und Gerken: "Unbestreitbar treffen die Problemdiagnosen sowohl der Intergouvernementalisten als auch der Föderalisten zu".

    Mit anderen Worten, Europa hat die Pest und die Cholera.

    Dank an C. dafür, mich auf den Artikel von Herzog und Gerken aufmerksam gemacht zu haben.

    14. Januar 2007

    Marginalie: Verworren

    Unter der Überschrift "SPD will Neuwahlen" brachte die SZ heute um 14:12 eine dpa-Meldung, in der es heißt:
    SPD und Grüne in Bayern fordern wegen der CSU- Führungskrise um Ministerpräsident Edmund Stoiber Neuwahlen in Bayern. SPD-Landtags-Fraktionschef Franz Maget sagte: "Am vernünftigsten wäre es, bei dieser verworrenen und verfahrenen Lage Neuwahlen durchzuführen."
    Worin besteht sie, diese "verworrene und verfahrene Lage"? Ein Ministerpräsident eines Bundeslandes, der dreizehneinhalb Jahre insgesamt sehr erfolgreich amtiert hat, verliert an Autorität. Das Übliche also - Adenauer hat das erfahren, Kohl ist es so gegangen, dem Ministerpräsidenten Vogel in Bayern und dem Ministerpräsidenten Biedenkopf in Sachsen.

    Wer lang und erfolgreich amtiert, darüber alt wird, die ersten Fehler macht, an dessen Stuhl wird irgendwann gesägt. Der Altbauer soll aufs Altenteil, die Jungbauern wollen endlich den Hof regieren.

    Mal kann sich der Betreffende noch einmal retten, noch ein paar Jahre halten. Mal gelingt die Attacke gleich im ersten Anlauf.

    Die König- Lear- Geschichte halt, immer neu inszeniert.



    Also das Normalste, was es im politischen Leben gibt. Stoiber wird noch weitermachen - noch ein paar Jahre, wie er selbst es will, noch ein paar Monate, wie es seine Widersacher wollen- , und dann wird er abgelöst werden. Was in aller Welt rechtfertigt in einer solchen Situation Neuwahlen?

    Neuwahlen sind der letzte Ausweg, wenn ein gewähltes Parlament nicht mehr in der Lage ist, eine bestehende Regierung hinreichend zu unterstützen oder eine neue zu wählen. Ein absoluter Ausnahmefall.

    Wenn das parlamentarische System derart einmal in eine Situation gerät, in der es nicht mehr funktioniert, dann gibt es, so sehen es viele Verfassungen und auch die des Freistaats Bayern vor, die Entscheidung an den Souverän zurück. In Bayern kann sogar der Souverän sich, wenn eine Million Bürger das wollen, diese Entscheidungsbefugnis selbst holen.



    Nur kann ja keine Rede davon sein, daß jetzt in Bayern eine solche Situation besteht. Wenn die bayerische SPD in Gestalt ihres Fraktionschefs Maget jetzt Neuwahlen fordert, dann zeigt das ein sehr eigenartiges Verständnis des demokratischen Systems.

    In der Regierungspartei CSU gibt es eine Krise, einen Machtkampf. Aber deshalb gleich den Landtag auflösen und neu wählen - das wäre ungefähr so, als würde ein Schiff SOS funken, nur weil bei etwas rauher See ein paar Passagiere über die Reling köbeln.

    13. Januar 2007

    Randbemerkung: Chausseestraße 131

    Jeder, der sich in den siebziger Jahren ein wenig für Politik interessiert hat, kennt diese Adresse: Die Wohnung von Wolf Biermann. Eine Adresse wie, sagen wir, 221B Baker Street. Eine Adresse, die etwas symbolisiert.

    Nur war die Chausseestraße 131 nicht die Adresse eines Verfolgers von Verbrechern, sondern eines Opfers. Dort traf sich die DDR-Opposition. Dort wurde sie natürlich vollständig überwacht. Wie das funktionierte, das kann man in "Das Leben der Anderen" dargestellt sehen - sehr authentisch, wie auch Wolf Biermann selbst urteilt.

    Hätte die Revolution von 1989 den Kommunismus so erledigt, wie die Niederlage von 1945 den Nazismus erledigt hat, dann wäre es - da Biermann selbst offenbar nicht wieder dort wohnen wollte - naheliegend, dort etwas Museales, der Erinnerung Dienendes einzurichten. Vielleicht eine Ausstellung von Dokumenten des Widerstands der DDR.

    Oder man könnte die Wohnung so restaurieren, wie sie damals gewesen ist. Mir sind die Bilder in Erinnerung - Wände, übersät mit Fotos. Eine altmodische Möblierung.

    Das Mindeste wäre - das Mindeste wäre dann, wenn der Kommunismus wirklich erledigt wäre - eine Gedenktafel an dem Haus.



    Nur ist er ja nicht erledigt, der Kommunismus. Nur wird ja die Bundeshauptstadt von den Kommunisten mitregiert.

    Keine guten Zeiten also für diejenigen, die in der DDR für die Freiheit gekämpft haben. Nicht sie sitzen heute im Berliner Senat, sondern die Partei ihrer Unterdrücker.

    Die jetzt mit darüber zu befinden hat, ob Wolf Biermann Ehrenbürger von Berlin wird. Näheres dazu hier, beim hochgeschätzten Augenzuppler, der jetzt in anderem Gewand munter und immer interessant weitermacht.

    Dort kann man auch lesen, wer jetzt in der Chaussestraße 131 wohnt: Hanno Harnisch, früherer Pressesprecher der PDS, heute Feuilletonchef des "Neuen Deutschland". Was das für einer ist, darüber kann man hier allerlei nachlesen:
    Der PDS-Pressesprecher Hanno Harnisch hat nach Unterlagen der Gauck-Behörde, die der Berliner Zeitung vorliegen, seit 1971 inoffiziell mit dem früheren Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zusammengearbeitet. (...) Seit 1976 berichtete er als IM "Egon" über Freunde und Bekannte aus der Kulturszene der DDR, besonders über jene, die Kontakt zu Wolf Biermann hatten. Dabei brachte Harnisch, wie die Autorin Katja Lange- Müller der Berliner Zeitung sagte, verschiedene Leute selbst in den Biermann- Kreis hinein, um später über sie zu berichten. Eine befreundete Lektorin denunzierte er wegen ihrer zahlreichen Kontakte zu Intellektuellen und Abgeordneten der Partei "Die Grünen" im Westen.
    Der also wohnt jetzt in der Chausseestraße 131.

    Das ist ungefähr so, als wenn der Professor Moriarty in 221B Baker Street eingezogen wäre.

    12. Januar 2007

    Zettels Meckerecke: Mündige Bürger? Vollmundige, jedenfalls

    In der ORF-Nachrichtensendung "Zeit im Bild" war heute Abend der Meteorologe Herbert Gmoser zu Gast. Natürlich wurde er gefragt, ob der diesjährige milde Winter denn der Ausdruck einer Klimaänderung sei. Und natürlich sagte er das, was jeder ernstzunehmende Wissenschaftler sagen wird: Vielleicht, vielleicht nicht. Wir wissen es nicht. Das Wetter weist nun einmal eine große Variabilität auf. Und er erinnerte daran, daß letztes Jahr der Winter ausgeprochen streng gewesen ist.

    Was die Fachleute nicht wissen, das wissen allerdings die Laien. Jedenfalls die deutschen Laien. Jedenfalls die rund tausend Deutschen, die vom ZDF für das heute gesendete Politbarometer befragt wurden. Jedenfalls fast alle von ihnen.

    Genauer: Ungefähr 960 von den ungefähr tausend Befragten wußten das, was den Meteorologen leider verborgen ist.

    Sie wurden gefragt, ob das diesjährige milde Winterwetter die "Folge des Klimawandels" sei. 60 Prozent bejahten das. 36 Prozent wählten die Alternative, daß es sich um "normale Klimaschwankungen" handle. Die restlichen 4 Prozent entschieden sich für keine der beiden Alternativen - sei es, weil sie die Frage nicht verstanden hatten; sei es, weil sie - vielleicht - den Gedanken fassen konnten, daß sie das gar nicht wußten.

    Daß sie schlicht nicht sagen konnten, ob es nun normale Klimaschwankungen sind, die uns diesen Winter beschert haben, oder ob er eine Folge "des Klimawandels" ist.



    Ein Anlaß für einen Beitrag in der "Meckerecke"? Ja. Wobei ich weniger über die 960 Menschen zu meckern habe, die etwas zu wissen glaubten, was nicht einmal die Fachleute wissen. Sie haben dumm geschwätzt, ob sie nun dem einen oder dem anderen Statement zustimmten. Sie haben sich auf eine Antwort festgelegt, die sie überhaupt nicht verantworten konnten.

    Aber viel mehr Meckerei verdienen natürlich diejenigen, die sich solche saublöden Fragen ausdenken. Und die mit ihrer Formulierung der Frage auch gleich noch suggerieren, ein "Klimawandel" sei bereits bewiesen. Die die Menschen, die sie befragten, dazu aufforderten, zu einer Frage eine Meinung zu äußern, zu der sie überhaupt keine begründete Meinung haben konnten.



    Zu einer Frage, die überhaupt nicht der Gegenstand von Meinungen ist; anders, als etwa die Beurteilung eines Politikers oder eine Regierung.

    Es geht hier ja vielmehr um Fakten, mindestens um wissenschaftlich begründete Hypothesen. Wer sich in der betreffenden Wissenschaft nicht auskennt, der sollte eigentlich in der Lage sein, sein Nichtwissen zu erkennen. Statt irgend etwas zu behaupten zu einem Thema, von dem er keine Ahnung hat.

    Unsere Schulen sollten eigentlich ihre Schüler zu kritischem Denken erziehen. Dazu gehört ganz zuvorderst, daß man ein Verständnis dafür hat, was man selbst weiß, was die Wissenschaft weiß, und was man eben nicht oder noch nicht weiß.

    "Kritisches Denken" - das wird aber von vielen Pädagogen, vielen Kultusbürokraten, vielen Politikern umgekehrt gerade so verstanden, daß die Schüler lernen müßten, "sich eine Meinung zu bilden".

    Über alles und jedes, wovon sie keine Ahnung haben. Die Sicherheit der Nuklearenergie, die Gefährlichkeit von Genfood. Vor etlichen Jahren über die Wahrscheinlichkeit, daß der "Rinderwahn" zu einer Epidemie unter Menschen führen würde.

    Auch damals haben vermutlich die Demoskopen danach gefragt. Und die Befragten, die das so wenig wußten, wie sie heute wissen, ob der milde Winter etwas mit globaler Erwärmung zu tun hat, werden in ihrer Mehrheit dennoch eine Antwort gewußt haben.

    Mündige Bürger? Eher vollmundige Bürger.

    Warum ich George W. Bush schätze

    Ich mochte George W. Bush nie. Seine Körpersprache, dieser wiegende Gang des Western- Helden, gefällt mir nicht. Ich lehne seinen Fundamentalismus ab. Mir scheint, daß er ein ziemlich ungebildeter Mensch ist.

    Als er 2000 gegen Al Gore kandidierte, war ich folglich neutral. Denn auch Gore mochte ich nicht - diese Pose, diese leere Gerede. Ein Schaumschläger.

    Als Macher eines Propaganda- Films hat Gore ja vielleicht inzwischen seine adäquate Rolle gefunden. Als Präsidenten konnte ich ihn mir damals so wenig vorstellen wie George W. Bush, den ich als Fundamentalisten sah.

    Da hatte - und habe - ich andere, die ich schätze. Den Republikaner John McCain, den Demokraten Joe Lieberman. Die haben, so scheint mir, das Format eines Präsidenten.

    Der liberalkonservative Lieberman ist mein absoluter Favorit für die Nachfolge von Bush. Weil ich der Meinung bin, daß es time for a change ist. Und auch weil ich es an der Zeit finde, daß ein Jude amerikanischer Präsident wird. Kennedy war der erste Katholik gewesen.




    Mittlerweile bin ich zwar nicht zum Bush- Fan geworden, aber ich schätze den Präsidenten doch immer mehr.

    Wesentlich angestoßen wurde das durch das Abgestoßensein. Kaum war Bush Präsident, da lief eine Kampagne gegen ihn, die derart bösartig und überzogen war, daß ich eigentlich gar nicht anders konnte, als Bush mit anderen Augen zu sehen.

    Eine Kampagne, wie man sie in dieser Form nur von den Nazis und den Kommunisten kennt; neuerdings auch von den Islamisten.

    Mit allen Mitteln der Agitprop wurde und wird da gearbeitet: Lächerlichmachen; die Darstellung als Trottel, als Schwachsinniger; als Lügner und Faschist, als Alkoholiker.

    Alles das sind die geläufigen Methoden der totalitären Propaganda; schon Goebbels hat versucht, Churchill als Alkoholiker zu verunglimpfen. Später haben es die deutschen Rechtsextremisten mit Willy Brandt ("Willy Weinbrandt") versucht.

    Es liegt auf der Hand, daß diese Agitatoren jemanden nicht so frontal angehen würden, wenn sie ihn nicht fürchteten. Also habe ich, als ich dergleichen gelesen habe, angefangen, Bush interessant zu finden.



    Ich habe dann allmählich meine negative, subjektive Reaktion auf Bush beiseitegelassen und versucht, die Politik von Bush rational zu betrachten.

    Sie erscheint mir vernünftig.

    Bush hat erkannt, daß der islamistische Totalitarismus heute die Bedeutung hat, die im Zwanzigsten Jahrhundert der nazistische und der kommunistische Totalitarismus hatten (der kommunistische auch noch in unserem Jahrhundert; siehe hier).

    Dem Präsidenten ist auch offensichtlich klar, daß man diesem Totalitarismus offensiv begegnen muß. Also nicht warten, bis die Verbrecher zuschlagen, um sie dann sozusagen polizeilich zu verfolgen. Sondern sie dort aufsuchen, wo sie sind, und sie dort bekämpfen.

    Kaum jemand hätte im September 2001 für möglich gehalten, daß es danach für ein halbes Jahrzehnt nicht wieder einen derartigen Anschlag geben würde. Präsident Bush hat das geschafft. Allein dafür würde er es verdienen, als großer Präsident in die Geschichte der USA einzugehen.




    Bushs Politik ist damit sehr ähnlich der von Franklin D. Roosevelt. Auch damals - das wird heute häufig nicht richtig gesehen - gab es ja in den USA eine breite Strömung, die teils mit den Nazis sympathisierte, teils eine isolationistische Haltung propagierte.

    Roosevelt hatte den Mut, sich gegen diese Stimmung zu stellen; und er hat es geschafft, daß die USA bereit waren, Nazi-Deutschland zu bekämpfen. (Daß formal dann Hitler den USA den Krieg erklärt hat, ist ohne Belang).

    Bush hat, so glaube ich also inzwischen, die Erfordernisse der Zeit erkannt. Seine Strategie, den Totalitarismus offensiv zu bekämpfen, ist richtig.

    Taktisch mag er Fehler gemacht haben. Der Irak war der so ungefähr am wenigsten geeignete Staat Arabiens, in dem man ein demokratische Experiment hätte starten sollen.

    Bush hat das gewagt, und es ist gut möglich, daß er scheitert. Aber er hat es eben gewagt. Er hat mit vollem Einsatz gespielt.



    Womit ich bei einem Thema bin, von dem ich weiß, daß es heftige Reaktionen auslöst: George W. Bush ist aus meiner Sicht keinem Präsidenten des Zwanzigsten Jahrhunderts so ähnlich wie John F. Kennedy.

    Beide waren/sind ungewöhnlich mutige Präsidenten. Negativ formuliert: Sie neig(t)en dazu, mit höchstem Risiko Politik zu machen.

    Kennedy hat 1962 eher den Atomkrieg riskiert, als Chruschtschow nachzugeben. Er hatte zuvor, kaum im Amt, Cuba zu erobern versucht.

    Er hat dem Kommunismus in Europa ohne Einschränkungen standgehalten - auch nach dem Bau der Mauer; amerikanische Panzer waren ja schon in Berlin an der entstehenden Mauer aufgefahren. Kennedy hat sich gegenüber der damaligen kommunistischen Bedrohung exakt so verhalten wie heute Bush gegenüber der islamistischen Bedrohung.




    Bush und Kennedy ähneln einander in vielfacher Hinsicht:

    Beide sind Söhne einer amerikanischen "großen Familie"; in und von dieser zur Politik bestimmt. Mit einem "kleinen Bruder", der von der Familie sozusagen in Reserve gehalten wird.

    Extrem ehrgeizig, wie es in einer solchen Familie ja anders gar nicht geht. Mit einem fordernden Vater und einer starken Mutter. Auf der Elite-Universität nicht brillant, aber ordentliche Leistungen bringend.

    Ungewöhnlich ehrlich, ungewöhnlich charakterstark. Dadurch in der Lage, sich mit Eggheads zu umgeben.

    Kennedy hatte ein Kabinett und einen Beraterstab aus Professoren, aus hochkarätigen Intellektuellen. Bush hat das ebenso. Beide konnten/können ihren Beratern intellektuell nicht das Wasser reichen. Beide stört(e) das nicht im Geringsten, weil sie sich charakterlich ihnen gewachsen, wenn nicht überlegen fühl(t)en.




    Warum wird Bush in unseren deutschen Medien so unfair behandelt, und Kennedy damals so positiv dargestellt? Ich denke, das hat zwei Ursachen:

    Erstens war Kennedy, gemessen an amerikanischen Maßstäben, ein Linker, und Bush ist ein Rechter.

    Zweitens gab es damals, zur Zeit Kennedys, eine viel weniger einseitige, viel weniger politisierte Journalistik in Deutschland als heute.

    10. Januar 2007

    Randbemerkung: Die Alternativen im Irak und der buridanische Esel

    Wenn unser Hund von einem anderen Rüden angemacht wird, dann hat er zwei Möglichkeiten: Entweder stellt er sich dem Kampf, oder er erkennt, daß der andere stärker ist und macht sich, den Schwanz einziehend und die Ohren nach hinten gelegt, aus dem Staub.

    Flight or fight - das sind die beiden möglichen Reaktionen in einer solchen Situation. Keine gute Idee wäre es für unseren Hund, weder das eine noch das andere zu tun. Also ohne Kampfesmut stehenzubleiben und sich der Attacke des anderen auszuliefern.



    Angesichts der momentanen Schwierigkeiten im Irak stehen die USA vor einer Entscheidung dieses Typs.

    Sie können entweder flight wählen. Dann wird der Irak sehr wahrscheinlich im Chaos versinken, möglicherweise zum Schlachtfeld eines Stellvertreter- Kriegs zwischen dem Iran und Saudi- Arabien werden.

    Das weltweite Ansehen der USA und ihr Einfluß im Nahen Osten werden bei einer solchen Entscheidung auf historische Tiefpunkte sinken.

    Den Demokraten im Irak, die sich im Vertrauen auf die USA politisch engagiert haben, wird es dann vermutlich nicht besser gehen als den Vietnamesen, die sich in den sechziger und siebziger Jahren darauf verlassen hatten, daß die USA einen Verbündeten nicht im Stich lassen würden. 65 000 Menschen wurden von den Kommunisten hingerichtet. Schätzungsweise eine Million Menschen wurden in Konzentrationslager eingeliefert. Rund 250 000 kamen beim Fluchtversuch über das Meer ums Leben. 900 000 gelangten als Flüchtlinge ins Ausland.

    Aber immerhin - man könnte ja zu dem Schluß kommen, daß der Krieg im Irak nun einmal verloren ist. Dann wäre ein möglichst schneller Rückzug rationaler als die Fortführung des Kriegs. Dann wäre es unverantwortlich für den Präsidenten und den Kongreß, weiter amerikanische Soldaten zu opfern.

    Oder man kommt zu der Einschätzung, daß der Krieg nach wie vor zu gewinnen ist. Dann wäre es unverantwortlich, nicht alles für den Sieg Erforderliche zu tun und dafür auch die erforderlichen Gelder zu bewilligen.



    Flight or fight - beides sind rational begründbare Entscheidungen. Ob man die eine oder die andere trifft, hängt davon ab, ob man den Krieg für verloren oder für weiter gewinnbar hält. Wie steht der Präsident, wie steht die demokratische Mehrheit im Kongreß dazu?

    Präsident Bush war immer entschlossen - er hat es ja oft genug gesagt -, daß die USA den Irak nicht verlassen werden, bevor die Aufgabe erledigt ist ("the job is done"). Er wird heute Nacht sehr wahrscheinlich ankündigen, daß 20000 weitere Soldaten in den Irak geschickt werden, um dort die Situation zu stabilisieren. Dies ist - so sieht es gegenwärtig aus - auch eine amerikanische Gegenleistung dafür, daß El Maliki versprochen hat, gegen alle Milizen - auch schiitische - entschlossen vorzugehen. Bush ist offensichtlich weiterhin überzeugt, daß der Krieg zu gewinnen ist.

    Und die Demokraten? Es scheint, daß sie sich weder für fight noch für flight entscheiden können oder wollen. Wenn sie den Krieg für gewinnbar halten, dann müßten sie eigentlich den Präsidenten unterstützen. Wenn nicht, dann müßten sie sagen: Wir haben den Krieg verloren, laßt uns das eingestehen und unsere Truppen sofort abziehen.



    Dazu können sie sich, wie Rich Lowry, der Herausgeber des National Review, gestern dort schrieb, aber offenbar nicht durchringen. Lowry zitiert einen Brief an den Präsidenten, den die demokratischen Fraktionsvorsitzenden in den beiden Kammern, Nancy Pelosi und Harry Reid, an den Präsidenten geschrieben haben. Einerseits schreiben sie "It is time to bring the war to a close"; es sei an der Zeit, diesen Krieg zu einem Ende zu bringen. Andererseits heißt es am Ende des Briefs: "... we want to do everything we can to help Iraq succeed in the future"; - "wir wollen alles tun, was wir können, um dem Irak zu einer erfolgreichen Zukunft zu verhelfen".

    Ja, watt denn nu? sagt da der Berliner.

    Und Rich Lowry weist darauf hin, daß es unlogisch ist, wenn die Demokraten Gelder für 20 000 weitere Soldaten verweigern wollen, aber 140 000 Soldaten im Irak weiter finanzieren.



    Ich glaube, da hat Lowry recht. Die Haltung der Demokraten im Kongreß (soweit man von einer einheitlichen Haltung sprechen kann) scheint mir sehr einer "Entscheidung" unsers Hunds zu ähneln, weder die Flucht zu ergreifen, noch zum Kampf entschlossen zu sein.

    Aber das tut er nicht. Er ist ja kein buridanischer Esel.

    Randbemerkung: Die 68er

    In B.L.O.G. hat Rayson einen sehr interessanten Beitrag mit der Frage eröffnet: "Was wollten die 68er?".

    Als einer, der diese Zeit miterlebt hat, der vielleicht selbst eine Art 68er gewesen ist (so genau weiß ich das nicht), fühlte ich mich von Rayson befragt. Aber mit der kurzen Antwort, die ich beabsichtigt hatte, wurde es nichts. Sie wurde länger und länger, zu lang für einen Kommentar. Also setze ich es als Randbemerkung hier hinein; mit Dank an Rayson.



    Was wollten die 68er? Ich glaube nicht, daß es damals ein auch nur halbwegs einheitliches "Wollen" gegeben hat. Was es wohl aber gab, das war ein weitgehend einheitliches "Fühlen". Nämlich das Lebensgefühl: "Wir sind die Größten. Uns kann keiner. Wir haben den Durchblick."

    Die Grundbefindlichkeit der 68er war eine, sagen wir, naive Arroganz.

    Überwertige Vorstellungen. Das Fehlen jedes Respekts für Andersdenkende. Man diskutierte allenfalls untereinander. Die "liberalen Scheißer", die "Faschisten" wurden ausgelacht, beschimpft, niedergeschrien, "entlarvt", lächerlich gemacht.

    Man war vollkommen unfähig zur Perspektivenübernahme. Daß Andersdenkende möglicherweise auch Recht haben könnten, lag außerhalb des Horizonts der 68er; darin glichen sie den Nazis und den Kommunisten.

    Da war viel Narzissmus, und es war sehr viel pubertäre Unreife. Allmachtsphantasien von jungen Leuten, "subversive Aktion".

    Aber statt den Rotzjungen gebührend zu begegnen, kuschte die Gesellschaft vor ihnen, ja bewunderte sie zunehmend. Insofern wurden sie bestätigt, diese dummen und unreifen Revoluzzer; bestätigt von einer hilflosen Väter- Generation mit schlechtem Gewissen, die sich nicht traute, sich gegen diese Unverschämtheiten so zu wehren, wie sie es verdient gehabt hätten.

    Das pubertäre Gehabe wurde akzeptiert. Welcher aufgeblasene Revoluzzer, der unversehens populär wird, würde das nicht als Bestätigung seiner krausen Ideen sehen?



    Sie erhoben sich moralisch über die Väter- Generation, die 68er. In Wahrheit setzten sie nur deren schlimmste Traditionen fort.

    Man war überzeugt, das Schlechte in der deutschen Geschichte weit hinter sich zu lassen - und man dachte genauso intolerant wie die Nazis, man verwendete ihre Methoden. Es war totalitäres Denken, es waren SA- Methoden, die wieder aufgenommen wurden. (Und die ja bis heute nicht verschwunden sind. Die Autonomen, die Antifas, sind in ihren Methoden die Nachfolger der SA).

    Die RAF, als die sozusagen höchste Form der 68er Bewegung, hat die Tradition der Freikorps und der SS fortgesetzt: Elitäre Menschen, die völlig kalt und diszipliniert handeln, haben das Recht, nach Belieben zu morden, wenn sie dem folgen, was sie als richtig erkannt haben. Das war ihre Ideologie, so wie es die der Freikorps und die der SS gewesen war. Die RAF - das waren die Vollstrecker des Nazi- Denkens. Menschen, die sich gegen ihre Väter zu empören vermeinten, und die doch nur deren mörderisches Erbe fortführten.



    Wie kam es zu dieser "Bewegung"? Da floß vieles zusammen:
  • Eine kommunistische Unterwanderung, die ihre Früchte trug. Ohne von der DDR kontrollierte Zeitschriften wie "Konkret" und den "Berliner Extra-Dienst", ohne die kommunistisch beeinflußte Anti- Atomtod- Bewegung, ohne kommunistisch gesteuerte Parteien wie den BdD und die DFU, ohne die Beeinflussung des SDS, der Gewerkschaften hätte es die 68er Bewegung jedenfalls nicht in der Form gegeben, in der sie sich entwickelte.

  • Der spezifisch deutsche Generationskonflikt. Ähnlich wie die heutige junge Generation in der ehemaligen DDR hatten wir damals Väter, auf die man überwiegend nicht stolz sein konnte, die keine Vorbilder waren. Rebellionen entstehen meist dann, wenn die Macht, gegen die man rebelliert, erstens nicht als moralisch legitimiert und zweitens als schwach wahrgenommen wird. So sahen die meisten 68er ihre Väter. Es war im Grunde das übliche Aufbegehren der Jungen gegen die Alten. Nur wehrten sich die Alten nicht; also wurden die Jungen immer unverfrorener.

  • Die ungelösten gesellschaftlichen Probleme der jungen Bundesrepublik, die sich unter Adenauer aufgestaut hatten und die unter Erhard virulent geworden waren - überholte Sexualgesetzgebung, autoritäres Denken, der ungeheure Einfluß der Kirchen. Noch bis in die sechziger Jahre hinein wurden Staatsämter nach konfessionellem Proporz vergeben. Zum Beispiel war es ungeschriebenes Gesetz, daß Kanzler und Präsident verschiedenen Konfessionen angehören mußten. Noch 1965 erzählte mir ein Kollege, konfessionslos, daß er nicht wisse, in welche Schule er seine Kinder schicken solle - in Nordrhein- Westfalen gab es nur katholische und evangelische Grundschulen.

  • Die weltweite Jugendrebellion, die eine Rebellion einer glücklichen Generation (die der Nachkriegskinder) gegen eine unglückliche Generation (die der von der Weltwirtschaftskrise, dem Krieg, der Nachkriegszeit Gebeutelten) war. Man verstand die Härte, die Disziplin, den Realitätssinn dieser Väter- Generation nicht mehr - kein Wunder, man war ja selbst nie dem ausgesetzt gewesen, was diese Väter hatten durchmachen und bewältigen müssen.

    Meine Großeltern, beispielsweise, waren zweimal "ausgebombt" worden, sie hatten also ihre Wohnung mit allem Besitz über sich zusammenbrechen sehen. Meine Eltern hatten jahrelang die Familie mit einem Null- Einkommen irgendwie durchgebracht; ohne Care- Pakete hätten wir vermutlich nicht überlebt.

    Da blühen keine Utopien. Da träumte man nicht von der idealen Gesellschaft der Zukunft, sondern man träumte davon, satt zu essen zu haben und im Winter nicht zu frieren.



  • Die Protagonisten der 68er Bewegung waren überwiegend zwischen 1945 und 1950 geboren. Sie hatten das alles allenfalls als Kleinkinder erlebt. Ihre bewußte Erinnerung war aber nicht die Erinnerung an Leiden, an Bombenangriffe, an Hunger, sondern die Erinnerung an den Aufstieg in der Nachkriegszeit.

    Es ging ihnen gut. Ja, es ging ihnen, wie es ein Schlager der Zeit sagte, " ... besser, besser, besser, immer besser, besser, besser".

    Und das mochten sie nun nicht, diese jungen Leute. Das war schal, Konsumterror. Nicht genug Werte. Zu materialistisch. Ja, hatten sie denn keine Ideale, ihre Eltern? Also raus aus ihrer Welt. Eine neue Welt aufbauen. So denken halt Jugendliche, mit jedem Recht der Welt.



    Alles verständlich. Normalerweise läßt man sie sich austoben, und dann werden sie vernünftig. Nur war es eben bei dieser Nachkriegsgeneration anders, die nicht von einer intakten Gesellschaft zum Erwachsensein geführt wurde.

    Dieses narzißtische, unverschämte Lebensgefühl herrschte damals ja weltweit, weil es eben überall dieselbe Nachkriegsgeneration war, die es trug und propagierte.

    Nur gab es halt sehr verschiedene Formen, in denen sich dieses Lebensgefühl äußerte. Man konnte ein Woodstock veranstalten oder zu Mördern werden.



    Die RAF, die Bewegung 2. Juni waren keine Außenseiter. Ein erheblicher Teil der 68er hatte Sympathie für das Verbrechen. Man kann das heute schwer verstehen. Aber diese Kinder von Marx und Coca Cola, die selbst nicht erlebt hatten, was Gewalt bedeutet, träumten von der Revolution, vom "Befreiungskrieg", vom "Aufstand der Massen".

    Sie erkoren den vielfachen Mörder Ho Tschi Minh, den Massenmörder Mao Tse Tung, die mordenden Tupamaros zu ihren Helden. Sie träumten davon, daß weltweit Krieg und Gewalt herrschen würden.

    Wenn sie "Schafft zwei, drei, viele Vietnams!" skandierten, dann verlangten sie den Tod von Hunderttausenden. Nur wenige begannen wirklich mit dem Morden. Aber viele - wenn auch sicher nicht alle - wollten auch in den "Metropolen", wollten auch in Deutschland eine Revolution.



    Was die 68er wollten, hat sich zum Glück überwiegend nicht verwirklicht. Es hat nicht die vielen blutigen Kriege wie in Vietnam und Nicaragua gegeben, die sie wollten. Wir haben glücklicherweise nicht die sozialistische Gesellschaft, die sie erträumten.

    Unheil haben sie dennoch genug angerichtet. Die sieben Jahre rotgrüner Regierung, die sieben schlimmsten Jahre der Bundesrepublik, wären ohne die 68er nicht möglich gewesen.

    Nun, sie sind vorbei. Die 68er sind auf dem Weg in den zwar nicht immer wohlverdienten, aber ganz überwiegend wohldotierten Ruhestand.

    Weg damit also, Schwamm drüber. Hoffentlich sind wir Deutschen nach den Nazis, nach den 68ern endlich reif geworden für die Demokratie.

    9. Januar 2007

    Rückblick: Venezuela auf dem Weg in den real existierenden Sozialismus

    Mitte August habe ich hier die Berichterstattung des cubanischen Fernsehens CubaVision zu Castros Erkrankung kommentiert.

    Auffällig war, daß nicht Castro im Mittelpunkt stand, sondern Hugo Chávez. Auch die weiteren Berichte von CubaVision setzten das fort, wie in "Zettels kleinem Zimmer" im einzelnen nachzulesen. Offenbar soll Chávez als Nachfolger Castros aufgebaut werden.

    Castros Nachfolger kann Chávez nur werden, wenn auch in Venezuela ein kommunistisches Regime errichtet wird. Seit diesen Sendungen verfolge ich deshalb aufmerksamer, was sich in Venezuela zuträgt. Hier war kürzlich einiges über den neuesten Stand der "bolivarischen Revolution" zu lesen, also des Übergangs zur Diktatur des Proletariats in Venezuela. Unter anderem wird eine Sozialistische Einheitspartei gegründet und ein allgemeiner Arbeitsdienst für alle Bürger zwischen 15 und 50 Jahren eingeführt.

    Gestern nun hat Chávez anläßlich der Vereidigung seines Kabinetts die nächsten Schritte auf dem Weg zum Kommunismus angekündigt:
  • Umfangreiche Verstaatlichungen. Die cubanische Nachrichtenagentur Prensa Latina nennt das sehr hübsch "Efforts intended to recover social property for strategic production"; Anstrengungen also, für die strategische Produktion gesellschaftliches Eigentum einzuziehen.

  • Weiter kündigte Chávez ein Ermächtigungsgestz an (in der Formulierung von Prensa Latina: "a law ... with the purpose of conferring special powers to implement a series of regulations to the Executive"; ein Gesetz mit dem Ziel, besondere Vollmachten an die Regierung zu übertragen, eine Reihe von Regelungen zu treffen).

  • In einer weiteren Meldung teilt Prensa Latina mit, daß Chávez "constitutional socialist reform, popular education, a 'new geometry of power' and promotion of municipal functions" angekündigt habe, also eine sozialistische Verfassungsreform, Volkserziehung, eine "neue Geometrie der Macht" und die Förderung der Gemeinden.
  • Einen ausführlichen AP-Bericht über Chávez' Rede findet man zum Beispiel heute bei CBS News.

    Die deutsche Berichterstattung zu diesem Thema ist bisher eher bescheiden. Sucht man zum Beispiel bei FAZ.Net nach "Venezuela", dann wird im Augenblick als heutige Meldung ein einziger Beitrag angeboten; ein Artikel des Wirtschaftsressorts über das Sinken der Ölpreise. Eine rühmliche Ausnahme ist dieser ausführliche Bericht von Hildegard Stausberg in der "Welt", der zwar nicht die aktuelle Rede kommentiert, aber interessante Informationen zum Kontext bringt.

    Zum Beispiel, daß das neue, gestern vereidigte Kabinett ausschließlich aus engen Vertrauten von Chávez besteht, darunter vielen ehemaligen Militärs.



    Deren Erfahrung wird er bald brauchen, wie auch die der Cubaner, die seinen Sicherheitsapparat kontrollieren.

    Denn die Machtübernahme, die jetzt begonnen hat, folgt exakt dem Drehbuch der kommunistischen Machtübernahmen in den Ländern Osteuropas zwischen 1945 und 1950: Kontrolle des Militärs und der Polizei (des Innenministeriums). Zusammenschluß der Parteien zu einer Einheitspartei, einer "Nationalen Front", oder wie immer es genannt wird. Verstaatlichung der Schlüsselindustrie. Erfassung der gesamten Bevölkerung in "gesellschaftlichen Organisationen", wie jetzt dem von Chávez vorgesehenen allgemeinen Arbeitsdienst.



    Die USA scheinen mit dem Irak und Afghanistan vollauf beschäftigt. Das Entstehen einer neuen kommunistischen Diktatur "vor ihrer Haustür", die möglicherweise schon bald ein Bündnis, wenn nicht einen Verbund mit Cuba eingehen wird, scheinen sie hinnehmen zu wollen.

    Ketzereien zum Irak (5): Zwei Diplomaten und eine Provokation

    Erinnern Sie sich? Da waren diese iranischen Diplomaten, die an Weihnachten vorübergehend von US- Truppen im Irak festgesetzt wurden. Der irakische Präsident Talabani zeigte sich empört, natürlich zeigten sich auch in Europa die üblichen Empörten empört. In der taz schrieb Bahman Nirumand (jaja, eben jener) von einer "Provokation ... gegen die gewählte Regierung des Irak".

    Wie kommen US-Truppen dazu, mir nichts, dir nichts Diplomaten festzusetzen? Nun, so ganz allein in diplomatischer Mission waren die Herren wohl nicht im Irak unterwegs gewesen. Die New York Sun berichtet etwas über die Hintergründe; in diesem Artikel von Eli Lake.

    Danach hatten die festgesetzten Iraner Dokumente bei sich, die etwas sehr Interessantes ergaben: Der Irak unterstützt nicht nur schiitische, sondern auch sunnitische Extremisten im Irak.

    Nicht die Baathisten - schließlich hatte Saddam seinen Angriffskrieg gegen den Iran geführt, mit Hunderttausenden von Opfern. Mit den Baathisten kann vermutlich kein iranisches Regime kooperieren.

    Aber mit militanten sunnitischen Gruppen kooperiert der Iran, wie diese Dokumente zeigen, sehr wohl - mit der El Kaida, mit der Ansar al-Sunna.



    Gefunden wurden bei den "Diplomaten" laut New York Sun zum Beispiel Angriffspläne und die Telefonnummern sunnitischer Extremisten. Eines der Dokumente sei eine Gesamtbeurteilung der Lage im Irak, vergleichbar dem Bericht der Baker- Kommission auf US-Seite. Darin heiße es, daß Saudi-Arabien gegenwärtig seine Anstrengungen verstärkt, die sunnitischen Aufständischen zu kontrollieren, und daß der Iran seinerseits seine Anstrengungen verdoppeln müsse, sie zu beeinflussen.

    In der Konkurrenz zwischen dem Iran und Saudi- Arabien um die Hegemonie in der Region sieht der amerikanische Moslem Ali Eteraz überhaupt den Schlüssel zum Verständis der heutigen Situation im Irak. Offenbar geht der Iran in dieser Auseinandersetzung so weit, nicht nur die militanten Schiiten im Irak zu unterstützen, sondern zugleich auch ihre sunnitischen Feinde.

    Die New York Sun zitiert einen früheren Leitenden Analytiker des State Department, Wayne Wight: "One example of a mindset that may hinder analysis of Iranian involvement is the belief that Iran would never have any dealings with militant Sunni Arabs. But they allowed hundreds of Al Qaeda operatives to escape from Afghanistan across their territory in 2002". Ein Beispiel für die Geisteshaltung, die eine Analyse der Einmischung des Iran behindern könnte, sei der Glaube, daß der Iran sich niemals mit gewalttätigen sunnitischen Arabern einlassen würde. "Aber", gibt Whight zu bedenken, " sie erlaubten es Hunderten von Aktivisten der El Kaida, im Jahr 2002 über ihr Territorium aus Afghanistan zu entkommen".



    Es ist offensichtlich ein Machtspiel, ein Spiel der Allianzen. Wer wen militärisch unterstützt, das hängt nicht vom Glauben und von Ideologien ab, sondern von taktischen Überlegungen. Auch Stalin und Hitler haben ja paktiert, als jeder sich davon Vorteile versprach.

    7. Januar 2007

    Ist der Kommunismus am Ende?

    In der Euphorie der Wendezeit 1989 / 1990 herrschte ein großer Zukunftsoptimismus. Der Kanzler Kohl prophezeite am 1. Juli 1990 "blühende Landschaften" in den neuen Bundesländern. Wir seien von Freunden umzingelt, befand der Verteidigungsminister Volker Rühe. Man träumte von einer Verkleinerung, manche gar von einer Abschaffung der Bundeswehr. Man freute sich auf die Friedens- Dividende.

    Deutschland lag mit dieser Stimmung nur im allgemeinen Trend. Der Kommunismus galt als erledigt. Neue Gefahren schienen nicht zu drohen. Es war dieser Zeitgeist, der Fukuyamas The End of History 1992 zu einem Bestseller machte, weltweit.



    Heute sind wir, with the benefit of hindsight, klüger. Vom Ende der Geschichte ist keine Rede mehr. Stattdessen zeichnen sich neue historische Konfrontationen ab: Die zwischen Freiheit und Islamismus, die zwischen den USA und China.

    Ob sie einmal die Intensität der Konfrontation zwischen dem Ostblock und der Freien Welt von den fünfziger Jahren bis zum Ende der achtziger Jahre annehmen werden, weiß niemand. Jedenfalls geht die Geschichte weiter. Nichts Neues unter der Sonne.

    Die meisten Hoffnungen der Wendezeit 1989 / 1990 haben sich erledigt. Keine Welt ohne Waffen. Keine Friedens- Dividende. Aber wenigstens das Ende des Kommunismus?



    Der Kommunismus, wie ihn Marx sich ausgedacht hatte, war eine Heilslehre, eine säkulare Religion gewesen. An die Macht gekommen, wurde er zu einer praktizierten Heilslehre, gestützt auf ein totalitäres Herrschaftssystem. Zunehmend dann ein totalitäres Herrschaftssystem, das sich zu seiner Aufrechterhaltung einer Heilslehre bediente.

    Und schließlich war er nur noch ein totalitäres Herrschaftssystem, in dem die Heilslehre lediglich zur Disziplinierung der Untertanen diente; als der Geßlerhut, den sie zu ehren hatten. Die Heilslehre hatte ihre Strahlkraft verloren. Das Herrschaftssystem aber wurde immer perfekter, basierend auf Einschüchterung der Untertanen, auf der Kontrolle aller Lebensbereiche, auf brutalem Vorgehen gegen jede Opposition.

    Ein solches auf Unterdrückung basierendes System verlangt freilich eine ständige Anstrengung der Herrschenden. Anders als in einem Gesellschaftssystem, das die Zustimmung seiner Bürger genießt, ist es nicht aus sich selbst heraus stabil. Der Herrschaftsapparat muß einen großen Teil der gesellschaftlichen Ressourcen dafür einsetzen, das System überhaupt zu erhalten.

    Es ist, wie jedes System, dessen Stabilität künstlich aufrechterhaltenen wird, ständig in Gefahr, instabil zu werden. Wie das koloniale Nordamerika 1776, wie das spätfeudale System in Frankreich 1789, und wie eben auch zwei Jahrhunderte später das kommunistische Kolonialreich und bald danach auch das kommunistische Mutterland.



    Der Aufstand gegen die kommunistischen Ausbeuter verlief ungleich unblutiger als der gegen die aristokratischen Ausbeuter damals in Frankreich; eine weitgehend friedliche anstatt einer gewaltsamen Revolution. Er schien noch dazu die Gewaltherrschaft gründlicher beseitigt zu haben; die Konterrevolution der Kommunisten blieb aus.

    Der Kommunismus war, so schien es damals, am Ende. Kollabiert. An seiner Unmenschlichkeit, seiner Ineffizienz gescheitert; auch seiner Unfähigkeit, sich der dritten technologischen Revolution anzupassen.

    Kommunismus, das war halt so'ne Idee gewesen. Und Tschüss. So dachten viele damals, vor gut 15 Jahren.



    Ich fürchte, wir haben uns geirrt. Wir haben uns in der Hochstimmung der Wendezeit in Bezug auf den Kommunismus ebenso geirrt, wie wir ganz allgemein mit der Hoffnung auf eine friedliche Welt, auf das Ende der Geschichte, falsch gelegen haben.

    Der Kommunismus ist keineswegs am Ende. Die marxistische Heilslehre dürfte erledigt sein; aber die kommunistische Herrschaftsmethode ist es nicht.

    Im Gegenteil:
  • In Lateinamerika entstehen mehr oder weniger kommunistische, jedenfalls dem kommunistischen Cuba freundlich gesonnene und von ihm beeinflußte Systeme. Am weitesten auf diesem Weg fortgeschritten ist Venezuela, wo - weitgehend unbeachtet von den Medien - der Übergang zur Diktatur des Proletariats vorbereitet wird.

  • In Rußland herrscht eine Machtelite, die aus dem Repressionsapparat der Sowjetunion, vor allem dem KGB, hervorgegangen ist. Es gibt keine Hinweise darauf, daß Putin und seine Leute noch an den Marxismus glauben (falls sie das denn jemals getan haben). Aber immer mehr Indizien weisen darauf hin, daß sie die kommunistischen Methoden der Machterhaltung so anwenden, wie sie das in ihrer Zeit im KGB oder anderen Sparten des kommunistischen Unterdrückungsapparats gelernt haben.

  • Das kommunistische Nordkorea dürfte den perfektesten Polizeistaat der Geschichte geschaffen haben. Kein Staat der Welt gibt einen größeren Anteil des BSP für das Militär aus (31 Prozent); jeder vierte Koreaner, schätzt CNN, arbeitet beim Militär.

  • Das kommunistische Vietnam erlebt gegenwärtig so etwas wie einen Frühkapitalismus. Aber die Situation bei den Menschenrechten hat sich keineswegs generell verbessert; im Gegenteil, es gibt neue Felder verstärkter Unterdrückung, wie zum Beispiel das Internet.

  • Und dann ist da China. Ein Land, das sich nach außen glänzend zu verkaufen weiß - man muß sich nur die Sendungen von CCTV 9 anschauen, um sich davon zu überzeugen. Ein Land, das ein Programm für eine Mondlandung vorantreibt, das mehr als achtzig Prozent der weltweit verkauften DVD-Player herstellt, das sich in wenigen Jahrzehnten vom Entwicklungsland zu einer der führenden Industrienationen entwickelt hat.

    Und ein Land, das von seiner kommunistischen Partei diktatorisch regiert wird; in dem eine allmächtige Geheimpolizei alle Lebensbereiche mindestens so perfekt kontrolliert, wie das die Stasi in der DDR getan hat. Über ein entsetzliches Beipiel dafür, was in diesem Staat möglich ist, habe ich kürzlich hier und in zwei vorausgehenden Beiträgen berichtet.
  • Er ist also nicht am Ende, der Kommunismus als totalitäres Herrschaftssystem. Er ist uns nur sozusagen aus dem Blick geraten.

    Kein Wunder: Aktuelle Bedrohungen gehen nicht von ihm aus, sondern vom Islamismus. Irans Atombombe, die für die Zukunft droht, löst mehr Besorgnis, mehr weltweite diplomatische Aktivität aus als die koreanische, die schon gezündet wurde.



    Möglich, daß das Ende des Kommunismus doch in absehbarer Zeit bevorsteht, auch wenn sich die Hoffnungen auf seinen schnellen Zusammenbruch als falsch erwiesen haben. Entscheidend wird wohl sein, ob es auf Dauer einen blühenden Kapitalismus in einem totalitär regierten Land geben kann.

    Aufbauen läßt sich der Kapitalismus in einem totalitären System. Das zeigen China und Vietnam; so wie auch in autoritären Systemen wie dem Chile Pinochets und dem Rußland Putins sich der Kapitalismus prächtig entwickeln konnte und kann.

    Aber wird auch ein moderner, dynamischer Kapitalismus auf Dauer mit einem totalitären Herrschaftssystem vereinbar sein? Es gibt Gründe, das zu bezweifeln.

    Der heutige und erst recht der zukünftige Kapitalismus kann nicht ohne den freien Fluß von Informationen funktionieren; kein totalitäres System kann aber andererseits Informationsfreiheit zulassen, ohne seinen Untergang herbeizuführen.

    Auch die Innovationen, die ein dynamischer Kapitalismus braucht und hervorbringt, sind auf Dauer nur in einer Atmosphäre der Freiheit zu bekommen; nur durch freie wissenschaftliche Forschung, nur durch freie Kritik und Gegenkritik, nur dadurch, daß keine Idee verboten, kein Ansatz von vornherein verworfen wird.



    Mit anderen Worten, den Fortschritt, den der freie Westen dank des freiheitlichen Rechtsstaats erreicht hat, aufholen, das kann auch ein autoritätes, sogar ein totalitäres System. Aber selbst Fortschritt schaffen, in den Wissenschaften, der Technologie - das kann kein solches System.

    Insofern gibt es langfristig, vielleicht mittelfristig Grund zum Optimismus. Aber vorerst - solange die chinesische, die vietnamesische Wirtschaft nicht innovativ zu sein brauchen, sondern ihre Erfolge dadurch erringen, daß sie bestehende Technologien billiger umsetzen - für die nächsten Jahre also, vielleicht Jahrzehnte ist mit dem Kommunismus weiter zu rechnen.

    6. Januar 2007

    Randbemerkung: Eine spannende Idee der SPD

    Ein Frommer, der auch ein Schlitzohr ist, geht zum Pfarrer und fragt: "Darf ich eigentlich beim Beten rauchen?" - "Nein, natürlich nicht, mein Sohn." - "Aber beim Rauchen darf ich doch beten?" - Was der Geistliche bejahen muß, denn wie soll man jemandem irgendwann das Beten verbieten?
    An diesen Jokus mußte ich denken, als ich heute gelesen habe, was die SPD sich für den Niedriglohnsektor ausgedacht hat. Aus einer heutigen dpa-Meldung:
    Die SPD-Führung hat sich grundsätzlich dafür ausgesprochen, Geringverdiener künftig von Sozialabgaben zu befreien. Durch Steuergutschriften sollen ihre Netto- Einkünfte spürbar erhöht werden. (...) SPD-Chef Kurt Beck sprach nach den Beratungen von einer "spannenden Idee".
    Spannend, nicht wahr! Und ja sooo neu.

    So neu, wie unser Frommer seine Frage beim zweiten Anlauf neu formuliert hat. Denn die spannende Idee, auf die die SPD jetzt verfallen ist, ist ja nichts anderes als der Kombilohn, wie ihn zum Beispiel das Ifo- Institut unermüdlich vorschlägt.

    Das Kombilohn-Konzept sieht vor, daß der Staat, in der Formulierung des Ifo- Instituts, zu Niedrigeinkommen "im Bedarfsfalle ein zweites staatlichen Einkommen hinzuzahlt, so dass in der Summe ein sozial akzeptables Gesamteinkommen entsteht".

    Will das jetzt auch die SPD? I wo. Sie sagt ja nicht: Der Staat soll ein zweites Einkommen hinzuzahlen. Sondern sie sagt: Er soll die Sozialabgaben übernehmen und Steuern gutschreiben.

    Rauchen beim Beten - nie! Aber beten beim Rauchen, ja warum nicht?



    Für den Kombilohn hatte die SPD immer wenig Begeisterung gezeigt; wenn überhaupt, dann nur in Kombination mit einem Mindestlohn.

    Der sich freilich zur ökonomischen Wirkung des Kombilohns ungefähr so verhalten würde, wie das Trinken von drei Tassen Kaffee zur Wirkung eines Schlafmittels. Denn der Sinn des Kombilohns ist es ja gerade, ein Absinken der von den Unternehmen gezahlten Löhne bis auf ein jeweils marktgerechtes Niveau zu ermöglichen.

    Nur dann rechnet es sich für Unternehmen, in diesem Bereich der Beschäftigung Arbeitsplätze zu schaffen. Ein Mindestlohn hätte genau den gegenteiligen Effekt. Man kann den Unternehmen zwar vorschreiben, wieviel sie zahlen müssen, wenn sie jemanden einstellen. Man kann ihnen aber nicht befehlen, jemanden zu diesen Konditionen einzustellen.

    Ein Mindestlohn ist also entweder kontraproduktiv - wenn er über dem liegt, was sich für die Unternehmen rechnet. Oder er ist nutzlos - wenn er bei diesem Betrag oder darunter liegt.

    Der Kombilohn ermöglicht Niedriglöhne auf einem Niveau, das die Schaffung neuer Arbeitsplätze nach sich zieht. Und dies, ohne daß die Bezieher dieser Löhne in die Armut geraten würden, weil der Staat eben einen Zuschuß zahlt.

    Einen Zuschuß, der nicht nur den Empfängern ein anständiges Leben ermöglicht, sondern der zugleich ihr Einkommen so weit über den Sozialhilfesatz hinaus anhebt, daß sich ein Anreiz zur Aufnahme auch niedrig bezahlter Arbeit ergibt.



    Mag sein, daß das inzwischen auch der SPD dämmert. Aber statt einfach zu sagen "Wir sehen ein, daß ein Kombilohn ohne Mindestlohn die richtige Lösung ist", gießt man den alten Wein in neue Schläuche.

    Warum die Camouflage? Nun, man möchte vielleicht ein wenig verschleiern, daß nicht nur der Neoliberale Hans- Werner Sinn, sondern ja auch - B.L.O.G. hat darauf hingewiesen - der Ur- Neoliberale Milton Friedman Geburtshelferdienste für diese spannende Einsicht der SPD leistete.

    Naja, mir soll's recht sein. Ob nun beim Beten rauchen oder beim Rauchen beten - Hauptsache, man darf.

    Marginalie: Die Wiesbadener SPD erklärt sich

    Aus der Presseerklärung des Unterbezirks Wiesbaden der SPD zur gescheiterten Kandidatur ihres Kandidaten:
    Der große Zuspruch, den Ernst-Ewald Roth von Bürgerinnen und Bürgern erfahren hat, zeigt, dass die Kandidatur Ernst-Ewald Roths eine politische Perspektive für unsere Stadt darstellte.

    Der Parteivorsitzende Marco Pighetti und der gesamte Unterbezirksvorstand tragen dafür die Verantwortung und sind heute zurück getreten.
    Nein, in meinem Zitat fehlt kein "(...)".

    Sie können nicht mal eine Presseerklärung formulieren, diese Genossen aus der hessischen Landeshauptstadt.

    Was ist aus der Partei von Georg August Zinn geworden!

    Mein liberalkonservativer Vermittlungsausschuß

    Als Liberalkonservativer fühle ich mich gelegentlich wie ein wandelnder Vermittlungsausschuß. Der Liberale in mir meint Dies, der Konservative hält Jenes für richtig. Beide haben gute Argumente. Ja mehr noch: Beider Positionen sind keineswegs ad hoc gebildet worden, sondern sie reflektieren tiefsitzende, grundsätzliche Überzeugungen.

    Da streiten sie sich nun also, der Konservative und der Liberale in mir. Meist kann einer der den anderen überzeugen, oder man findet einen Kompromiß, und sie können mit einem gemeinsamen Ergebnis an die Öffentlichkeit treten.

    Manchmal geht es ihnen auch wie den Gesundheits- und ähnlichen Politikern der Großen Koalition: Sie wollen sich ja verständigen, aber sie kommen nicht zu Potte.

    Wenn ihnen das passiert, dem Liberalen in mir, dem Konservativen in mir, dann beneiden sie schon einmal diejenigen, die auf die meisten Fragen eine schnelle Antwort haben, weil sie lupenreine Liberale sind, lupenreine Konservative. Ganz zu schweigen von den Sozialisten, den Kommunisten, den Antideutschen usw., denen ihre politische Haltung die Antworten auf alle Fragen so zuverlässig liefert, wie die Schachtel Marlboro aus dem Zigarettenautomaten plumpst.

    Im Unterschied zu Regierungsmitgliedern sind sie, der Konservative in mir, der Liberale in mir, zum Glück nicht zur Einigung verdammt. Wenn sie sich nicht einigen können, dann melden sie halt eine Hung Jury, und die Sache hat sich. Dann sage ich eben zu dem betreffenden Thema nichts.



    Drei Themen, die in meinen Vermittlungsausschuß mußten, waren in den letzten Tagen aktuell: Der Fall Gäfgen, oder vielmehr dessen neueste Wendung. Die Hinrichtung Saddam Husseins. Und drittens das Bestreben des Innenministers, für den Fall eines terroristischen Anschlags oder eines solchen Versuchs Rechtssicherheit zu schaffen, was die erforderlichen Gegenmaßnahmen angeht.



    Im Fall der Todesstrafe für Saddam Hussein waren die Fronten in meinem kleinen, in pectore residierenden Vermittlungsausschuß klar:

    Der Liberale in mir ist gegen die Todesstrafe, bedingungslos und prinzipiell. Er vertritt ungefähr die Position, die Karsten in B.L.O.G klar dargelegt hat: "Eindeutig ist aus meiner Sicht: Die Todesstrafe ist falsch. Immer, unter allen Bedingungen und überall. Auch bei Saddam ...".

    Punktum. Man kann ja grundsätzliche Wertentscheidungen nicht von Fall zu Fall zur Disposition stellen.

    Der Konservative in mir ist - anders als viele Konservative außerhalb meiner Brust - beileibe kein Anhänger der Todesstrafe. Nur denkt er pragmatisch. Die Todesstrafe, argumentiert er, ist falsch, weil sie ein Überrest archaischen Denkens ist.

    Sie stammt aus voraufklärerischen Zeiten, und auch hier sollte die Aufklärung sich allmählich durchsetzen.

    Nur halt allmählich, und wenn's mal nicht gleich so weit ist - sei's drum. Der Konservative in mir, der auch ein Pragmatiker ist, kann sich darüber nicht echauffieren.

    Die beiden haben sich dann auf das geeinigt, was sie beide guten Gewissens vertreten können: Wie immer man zur Todesstrafe steht, es ist jedenfalls ein Unding, daß die deutsche und die italienische Regierung es ausgerechnet angesichts der Hinrichtung Saddam Husseins für richtig befanden, sich als Gegner der Todesstrafe zu bekennen. Während ihnen zum Beispiel die kürzliche Hinrichtung chinesischer Geistlicher nach einem fragwürdigen Prozeß eine solche Stellungnahme nicht wert gewesen war.



    Im Fall der gesetzlichen Regelung dessen, was die Regierung im Fall einer extremen terroristischen Bedrohung tun darf, ist der Liberale in mir dafür, prinzipiell dem Staat so wenige Befugnisse einzuräumen wie möglich. Schon gar nicht, ihm eine Lizenz zum Töten zu erteilen.

    Wenn es gar nicht anders geht, dann muß der Verantwortliche es eben auf sich nehmen, sich über das Gesetz hinwegzusetzen, um Menschenleben zu retten. Das ist etwas ganz Anderes, als wenn der Staat diesen Akt der Tötung Unschuldiger ausdrücklich erlaubt.

    Auch das BVerfG hat ja nur eine solche ausdrückliche Erlaubnis nicht zugelassen. Darüber, was jemandem passiert, der den Befehl dennoch gibt, hat es sich gar nicht geäußert. Niemals kann aber der Staat es gesetzlich festlegen, daß der Mensch zum Mittel zum Zweck wird. Das steht in krassem Gegensatz zu Paragraph 1 des Grundgesetzes.

    Der Konservative in mir hält dem entgegen, daß niemand es Verantwortlichen zumuten kann, in einer solchen Situation gesetzwidrig zu handeln.

    Auch im Krieg schickt der Staat Soldaten in den sicheren oder wahrscheinlichen Tod. Es gibt also keineswegs eine generelle Norm - ein allgemeines Gesetz, würde Kant sagen -, die das verbietet. Und die Situation einer extremen terroristischen Bedrohung ist vergleichbar einer Kriegssituation.

    Wenn der Einsatz von Soldaten im Krieg in Situationen, in denen sie mit dem Tod rechnen müssen, dem Grundgesetz nicht widerspricht, dann kann dessen Verbot nicht so rigoros sein, wie es der Liberale in mir vorausgesetzt hatte.

    Weiter gibt er zu bedenken, der Konservative in mir, daß die Gerichte in unserem Rechtssystem sich in einem solchen Fall nicht anders verhalten können als der Gesetzgeber. Das GG ist schließlich unmittelbar geltendes Recht. So, wie der Frankfurter Polizei- Vizepräsident Daschner verurteilt werden mußte, weil er ein entführtes Kind retten wollte, wird auch der Innenminister verurteilt werden müssen, der den Abschuß eines Flugzeugs befahl; wie nachvollziehbar auch immer seine Motivation gewesen sein möge.

    Und wie soll man es erst einem Jagdflieger zumuten, eine Zivilmaschine abzuschießen, wenn es dafür gar keine gesetzliche Grundlage gibt? Müßte nicht zumindest dieser, wenn schon nicht der Innenminister, das Grundgesetz unter dem Arm tragend, den Befehl verweigern? Sagt der Konservative in mir

    In diesem Fall hat er, der Konservative in mir eindeutig gewonnen. Man kann es hier nachlesen.



    Und im Fall Gäfgen? Es geht um einen Verbrecher, der ein Kind entführt hat, weil er Geld für einen aufwendigen Lebensstil erpressen wollte. Der sich dazu ein Opfer ausgesucht hat, das er gut kannte und das ihm vertraute. Der von vornherein plante, das Kind zu ermorden, und der dann tagelang den Eindruck zu erwecken versucht hat, es sei noch am Leben.

    Um einen Verbrecher, der, statt irgendwann wenigstens einen Anflug von Entsetzen über seine eigene moralische Verkommenheit zu zeigen, sich als Opfer präsentiert und sein angeblich verletztes "Menschenrecht" einzuklagen versucht.

    Und der jetzt die Chuzpe hat, sein Opfer zu verhöhnen, indem er eine Stiftung für junge Gewaltopfer gründet. Eine "Stiftung", in die er kein Stiftungskapital einbringt; für die er als Lebenslänglicher logischerweise kaum etwas tun kann.

    Wenn er es denn wollte, Gutes tun. Aber bei jemandem, der sich so verhalten hat wie dieser Magnus Gäfgen, spricht ja alles dafür, daß auch dies wieder nur ein Schachzug eines psychopathischen Verbrechers ist mit dem Ziel, sich in günstigem Licht darzustellen. Um vielleicht eine vorzeitige Haftentlassung zu erreichen.



    Das sagt zu diesem Fall der Konservative in mir, der hier zweifellos auch ein Populist ist.

    Der Liberale mahnt ihn und gibt zu bedenken, daß auch ein straffällig Gewordener das Recht hat, eine Stiftung zu gründen. Daß er nicht zusätzlich zu der gegen ihn verhängten Strafe bestraft werden darf. Daß man jedem Menschen die Chance zubilligen muß, sich zu resozialisieren. Daß die Tätigkeit für eine solche Stiftung vielleicht ein guter Weg ist, Magnus Gäfgen zu resozialisieren.

    Und daß persönliche Abscheu vor einem Täter bei rechtlichen Entscheidung außen vor zu bleiben hat.



    In diesem Fall tagte der Vermittlungsausschuß nur kurz. Der Konservative in mir sagte dem Liberalen auf den Kopf zu, daß er selbst nicht an seine Argumente glaube. Und der gab das nach kurzem Zögern zu.




    Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, daß bei diesen drei Fällen der Konservative in mir insgesamt besser abgeschnitten hat als der Liberale. Ich halte das für einen Zufall, bedingt durch diese drei aktuellen Beispiele.

    Oder bin ich dabei, konservativer zu werden? Ich werde das aufmerksam verfolgen.

    5. Januar 2007

    Zum 60. Geburtstags des SPIEGEL: Eine Eloge auf Rudolf Augstein

    Rudolf Augstein war ein ungemein belesener Mann. Er hatte eine seltene Fähigkeit zur Analyse, und er war ein bemerkenswerter Stilist. Er war ein Mann von großer Integrität.

    Ich kenne eigentlich nur zwei Journalisten, die ihm in allen diesen Hinsichten ähnlich sind bzw. waren: Den Deutschen Sebastian Haffner und den Herausgeber des französischen "Nouvel Observateur", Jean Daniel.

    Ein seltsamer Zufall wollte es, daß Augstein seine Kommentare jahrelang unter dem mit Jean Daniel fast identischen Pseudonym "Jens Daniel" geschrieben hat. Als er mit diesen Kommentaren - heute würde man sagen, seiner Kolumne - begann, war er noch keine dreißig.

    Die Kommentare von Jens Daniel, später dann auch als "Moritz Pfeil" und unter Augsteins eigenem Namen verfaßt, habe ich mit Begeisterung gelesen, als sie erschienen, und später mit Bewegung und in nostalgischer Erinnerung wiedergelesen. Die SPIEGEL- Bände stehen in meiner Bibliothek, vom ersten Jahrgang bis in die sechziger Jahre, im Lauf der Jahrzehnte gesammelt und immer einmal wieder in die Hand genommen.

    Welche Klarheit der Analyse! Welche Wortmacht! Welche Irrtümer freilich auch, was was die Beurteilung der Außenpolitik Adenauers, der Stalin- Note von 1952, des Rapacki- Plans, der Chancen und Risiken einer Wiedervereinigung anging.

    Im Unterschied zu Sebastian Haffner und Jean Daniel, die ihre politische Haltung mehrfach geändert haben, hat Augstein eine geradezu unglaubliche Prinzipientreue gezeigt - von seinem ersten Kommentar im Jahrgang 1947 bis zu seinem letzten Kommentar 2002, also über 55 Jahre hinweg. Er hat Adenauer einmal den "gußeisernen Kanzler" genannt. Er selbst war das noch viel mehr, gußeisern: Ein deutscher Patriot, ein überzeugter Liberaler.



    Er war ein deutscher Patriot.

    Er hat Adenauers Politik der Westintegration bekämpft, weil er sah, daß sie die Wiedervereinigung auf Jahrzehnte blockieren würde. Er hat - im öffentlichen, im SPIEGEL ausgetragenen Streit mit seinem Chefredakeur Böhme - sofort für die Wiedervereinigung plädiert, als sie sich 1989 als Möglichkeit eröffnete.

    Er hat in seinen Kommentaren wieder und wieder die deutsche Interessenlage analysiert und sie gegen hegemoniale Bestrebungen verteidigt, sei es von Seiten der Franzosen, der Briten, der Amerikaner oder der Sowjets.

    Augstein, der von Friedrich II und von Bismarck Faszinierte, hat immer das Kräftespiel der Nationen gesehen, nicht zwei monolithische Blöcke, wie das in der alten Bundesrepublik viele taten. Er wollte die Aussöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern, aber als gleichberechtigter Partner.

    Er wurde freilich, wie so viele Patrioten, von seinem Patriotismus zu unrealistischen Urteilen verführt. Seine Hoffnung, in einem zu sowjetischen Bedingungen wiedervereinigten, neutralisierten und also von den USA nicht mehr geschützten Deutschland würde der demokratische Rechtsstaat weiter bestehen können, ein solcher Staat würde dem übermächtigen Druck der an seinen Grenzen stehenden Sowjetmacht standhalten können, war naiv.

    Augstein war aber, mit seinem analytischen Verstand, auch Realist genug, frühere Irrtümer einzusehen.

    Er hat am Ende wohl stillschweigend zugestanden, daß Adenauers Politik richtig gewesen war.

    Er hat, trotz seiner Abneigung gegen den Kommunismus, die sozialliberale Ostpolitik befürwortet, ja sie publizistisch vorbereitet.

    Er hat, trotz seines Patriotismus, immer vor einer Überschätzung der deutschen Möglichkeiten gewarnt.



    Augstein war ein überzeugter Antikommunist.

    Kein Blatt hat so umfassend über die Mißstände in der SBZ und später der DDR berichtet wie der SPIEGEL. Der erste SBZ- Korrespondent, Hans Holl, war im antikommunistischen Widerstand aktiv und mußte fliehen, um der Verhaftung zuvorzukommen.

    Mehrere SPIEGEL- Korrspondenten haben später in der DDR den Widerstand gegen den Kommunismus in verschiedener Weise unterstützt, was scharfe Reaktionen der Kommunisten nach sich zog. Zeitweilig war der SPIEGEL deshalb in der DDR gar nicht durch einen offiziellen Korrespondenten vertreten.

    In einer seiner "Lieber Spiegelleser!"-Kolumnen beschrieb Augstein einmal ein langes Gespräch mit dem brillanten kommunistischen Intellektuellen Wolfgang Harich. Und meinte dazu, am Ende des Gesprächs habe er gedacht: Wie kann ein so intelligenter Mensch nur Marxist sein. Und Harich, meinte Augstein, werde gedacht haben: Wie kann ein so intelligenter Mensch nur kein Marxist sein. (Ich zitiere das aus der Erinnerung; so wie alles, was ich in diesem Beitrag schreibe, aus der Erinnerung wiedergegeben ist).



    Er war ein in der Wolle gefärbter Liberaler.

    Er war liberal, was seine Redaktion anging. Es ist eine Legende, daß die SPIEGEL-Reaktion generell "links" sei oder gewesen sei. Es gab von Anfang an konservative Leitende Redakteure wie Leo Brawandt, Hans Dieter Jaene, Dr. Horst Mahnke und Georg Wolff. Die Chefredakteure Becker, Jacobi, Engel standen alle eher rechts als links von der Mitte.

    Als Anfang der siebziger Jahre eine Redakteursgruppe um Hermann L. Gremliza, Dr. Bodo Zeuner und Dr. Alexander von Hoffmann den SPIEGEL in ein linkes Gesinnungsblatt umzufunktionieren versuchte, hat Augstein sie gefeuert.

    Augstein war liberal in seinem unbeugsamen Eintreten für den demokratischen Rechtsstaat. Daraus resultierte sein Konflikt mit Strauß, den er anfangs geschätzt hatte und den der SPIEGEL in der erste Titelgeschichte über ihn (Titelbild: Die berühmten Zeichnung von Artzybasheff, auf der sich der Bayernhut über Strauß allmählich in einen Stahlhelm verwandelt) ausgesprochen positiv dargestellt hatte.

    Als Augstein erkannte, daß Strauß ein unberechenbarer Machtmensch war, hat er ihn zu bekämpfen begonnen. Die Fama will es, daß Augstein diese Erkenntnis bei einem gemeinsamen Saufgelage kam, in dem er den wahren Strauß kennenlernte, oder kennenzulernen vermeinte.

    Augstein blieb der FDP als Mitglied treu, auch wenn er sie oft attackierte und manchmal ihr "Totenglöcklein" hat läuten hören. Kurz saß er für die FDP sogar im Bundestag, aber er erkannte sehr schnell, daß er nicht zum Parlamentarier taugte, und er nutzte die erste Gelegenheit - man kann auch sagen, den ersten Vorwand- , sein Mandat niederzulegen und wieder Vollzeit- Journalist zu werden.



    Er war eine intellektuell und charakterlich gleichermaßen beeindruckende Persönlichkeit.

    Er war ein auch über Politik und Geschichte hinaus kenntnisreicher, übrigens auch ausgesprochen musikalischer Mensch. Vor allem ein ehrlicher, wie die meisten Skeptiker.

    Ich habe in den Jahrzehnten, seit ich den SPIEGEL lese, niemals den Eindruck gehabt, daß er etwas aus taktischen oder sonstigen sachfremden Überlegungen geschrieben hat.

    Alle Biographen beschreiben ihn als einen, der sagt, was er denkt. Ein gerader Charakter, der Taktieren und Finassieren gar nicht nötig hat, weil er mit seiner Persönlichkeit das, was er will, auch auf ehrliche Art durchsetzen kann. Das freilich sehr erfolgreich.



    Er war ein Schöngeist und ein Machtmensch.

    Er war ein Intellektueller, der in seiner Jugend Lyrik und ein Theaterstück verfaßt hat. Er war aber auch machtbewußt; und wie!

    Er hat nicht nur linke Putschisten ohne viel Federlesens gefeuert, sondern ebenso seinen Chefredakteur Dr. Werner Funk, als dieser versuchte, Augsteins Macht auszuhebeln. Er hat in der SPIEGEL- Affäre wenige Stunden nach seiner Festsetzung ein Notprogramm für das Weitererscheinen des SPIEGEL auf die Beine gestellt.

    Er hat alle Prozesse, von denen der SPIEGEL die meisten übrigens gewonnen hat, ohne Nachgeben durchgestanden.

    Die Zeit der Studentenrevolution hat er souverän überstanden - indem er bereitwillig, aber unerbittlich mit deren Wortführern diskutierte; indem er im eigenen Haus durch die Schenkung an die Mitarbeiter, die das einzigartige Mitbeteiligungsmodell des SPIEGEL begründete, allen Rufen nach einer "Demokratisierung" zugleich entsprochen und ihnen den Wind aus den Segeln genommen hat.



    Er war ein souveräner Mensch.

    Das für mich Eindrucksvollste an der Persönlichkeit von Augstein war seine völlige Unfähigkeit, nachtragend zu sein.

    Er hat sich mit Strauß versöhnen wollen, obwohl dieser versucht hatte, ihn ins Gefängnis zu bringen und den SPIEGEL zu vernichten.

    Er hat sich mit Adenauer versöhnt (der das seinerseits erwidert hat, am Ende seines Lebens).

    Er hat versucht, sich mit Kohl zu versöhnen. Mit einem Kommentar "Glückwunsch, Kanzler", in dem er ihn geradezu enthusiastisch für seine Leistungen bei der Wiedervereinigung lobte (bei Kohl freilich ohne Widerhall).



    Er war ein Skeptiker und ein Träumer.

    Augsteins Hauptschwäche war vielleicht, bei aller seiner Skepsis und seinem Zynismus, ein gewisses Wunschdenken.

    Er glaubte, die diversen sowjetischen Lockungen zur deutschen Wiedervereinigung in den fünfziger Jahren könnten eine Chance bieten.

    Er glaubte an die überzeugende Macht des freiheitlichen Rechtsstaats und hat die Niedrigkeit und Intriganz der meisten Politiker wohl unterschätzt. Er hat einmal gesagt, erst in seiner kurzen Zeit als FDP- Kandidat und dann im Bundestag sei er dahinter gekommen, wie es in den Parteien tatsächlich zugeht.

    Er war ein Moralist, und wie viele Moralisten, die mit der Wirklichkeit zusammenstoßen, neigte er zum Zynismus.



    Dies ist die überarbeitete Fassung eines Nachrufs auf Rudolf Augstein, den ich in der Nacht nach seinem Tod am 7. November 2002 in Infotalk geschrieben habe. Der Text ist stilistisch verbessert und hier und da ergänzt und korrigiert. Den lobenden Ton, der sich aus diesem Anlaß ergab, habe ich aber so gelassen.