12. Januar 2007

Warum ich George W. Bush schätze

Ich mochte George W. Bush nie. Seine Körpersprache, dieser wiegende Gang des Western- Helden, gefällt mir nicht. Ich lehne seinen Fundamentalismus ab. Mir scheint, daß er ein ziemlich ungebildeter Mensch ist.

Als er 2000 gegen Al Gore kandidierte, war ich folglich neutral. Denn auch Gore mochte ich nicht - diese Pose, diese leere Gerede. Ein Schaumschläger.

Als Macher eines Propaganda- Films hat Gore ja vielleicht inzwischen seine adäquate Rolle gefunden. Als Präsidenten konnte ich ihn mir damals so wenig vorstellen wie George W. Bush, den ich als Fundamentalisten sah.

Da hatte - und habe - ich andere, die ich schätze. Den Republikaner John McCain, den Demokraten Joe Lieberman. Die haben, so scheint mir, das Format eines Präsidenten.

Der liberalkonservative Lieberman ist mein absoluter Favorit für die Nachfolge von Bush. Weil ich der Meinung bin, daß es time for a change ist. Und auch weil ich es an der Zeit finde, daß ein Jude amerikanischer Präsident wird. Kennedy war der erste Katholik gewesen.




Mittlerweile bin ich zwar nicht zum Bush- Fan geworden, aber ich schätze den Präsidenten doch immer mehr.

Wesentlich angestoßen wurde das durch das Abgestoßensein. Kaum war Bush Präsident, da lief eine Kampagne gegen ihn, die derart bösartig und überzogen war, daß ich eigentlich gar nicht anders konnte, als Bush mit anderen Augen zu sehen.

Eine Kampagne, wie man sie in dieser Form nur von den Nazis und den Kommunisten kennt; neuerdings auch von den Islamisten.

Mit allen Mitteln der Agitprop wurde und wird da gearbeitet: Lächerlichmachen; die Darstellung als Trottel, als Schwachsinniger; als Lügner und Faschist, als Alkoholiker.

Alles das sind die geläufigen Methoden der totalitären Propaganda; schon Goebbels hat versucht, Churchill als Alkoholiker zu verunglimpfen. Später haben es die deutschen Rechtsextremisten mit Willy Brandt ("Willy Weinbrandt") versucht.

Es liegt auf der Hand, daß diese Agitatoren jemanden nicht so frontal angehen würden, wenn sie ihn nicht fürchteten. Also habe ich, als ich dergleichen gelesen habe, angefangen, Bush interessant zu finden.



Ich habe dann allmählich meine negative, subjektive Reaktion auf Bush beiseitegelassen und versucht, die Politik von Bush rational zu betrachten.

Sie erscheint mir vernünftig.

Bush hat erkannt, daß der islamistische Totalitarismus heute die Bedeutung hat, die im Zwanzigsten Jahrhundert der nazistische und der kommunistische Totalitarismus hatten (der kommunistische auch noch in unserem Jahrhundert; siehe hier).

Dem Präsidenten ist auch offensichtlich klar, daß man diesem Totalitarismus offensiv begegnen muß. Also nicht warten, bis die Verbrecher zuschlagen, um sie dann sozusagen polizeilich zu verfolgen. Sondern sie dort aufsuchen, wo sie sind, und sie dort bekämpfen.

Kaum jemand hätte im September 2001 für möglich gehalten, daß es danach für ein halbes Jahrzehnt nicht wieder einen derartigen Anschlag geben würde. Präsident Bush hat das geschafft. Allein dafür würde er es verdienen, als großer Präsident in die Geschichte der USA einzugehen.




Bushs Politik ist damit sehr ähnlich der von Franklin D. Roosevelt. Auch damals - das wird heute häufig nicht richtig gesehen - gab es ja in den USA eine breite Strömung, die teils mit den Nazis sympathisierte, teils eine isolationistische Haltung propagierte.

Roosevelt hatte den Mut, sich gegen diese Stimmung zu stellen; und er hat es geschafft, daß die USA bereit waren, Nazi-Deutschland zu bekämpfen. (Daß formal dann Hitler den USA den Krieg erklärt hat, ist ohne Belang).

Bush hat, so glaube ich also inzwischen, die Erfordernisse der Zeit erkannt. Seine Strategie, den Totalitarismus offensiv zu bekämpfen, ist richtig.

Taktisch mag er Fehler gemacht haben. Der Irak war der so ungefähr am wenigsten geeignete Staat Arabiens, in dem man ein demokratische Experiment hätte starten sollen.

Bush hat das gewagt, und es ist gut möglich, daß er scheitert. Aber er hat es eben gewagt. Er hat mit vollem Einsatz gespielt.



Womit ich bei einem Thema bin, von dem ich weiß, daß es heftige Reaktionen auslöst: George W. Bush ist aus meiner Sicht keinem Präsidenten des Zwanzigsten Jahrhunderts so ähnlich wie John F. Kennedy.

Beide waren/sind ungewöhnlich mutige Präsidenten. Negativ formuliert: Sie neig(t)en dazu, mit höchstem Risiko Politik zu machen.

Kennedy hat 1962 eher den Atomkrieg riskiert, als Chruschtschow nachzugeben. Er hatte zuvor, kaum im Amt, Cuba zu erobern versucht.

Er hat dem Kommunismus in Europa ohne Einschränkungen standgehalten - auch nach dem Bau der Mauer; amerikanische Panzer waren ja schon in Berlin an der entstehenden Mauer aufgefahren. Kennedy hat sich gegenüber der damaligen kommunistischen Bedrohung exakt so verhalten wie heute Bush gegenüber der islamistischen Bedrohung.




Bush und Kennedy ähneln einander in vielfacher Hinsicht:

Beide sind Söhne einer amerikanischen "großen Familie"; in und von dieser zur Politik bestimmt. Mit einem "kleinen Bruder", der von der Familie sozusagen in Reserve gehalten wird.

Extrem ehrgeizig, wie es in einer solchen Familie ja anders gar nicht geht. Mit einem fordernden Vater und einer starken Mutter. Auf der Elite-Universität nicht brillant, aber ordentliche Leistungen bringend.

Ungewöhnlich ehrlich, ungewöhnlich charakterstark. Dadurch in der Lage, sich mit Eggheads zu umgeben.

Kennedy hatte ein Kabinett und einen Beraterstab aus Professoren, aus hochkarätigen Intellektuellen. Bush hat das ebenso. Beide konnten/können ihren Beratern intellektuell nicht das Wasser reichen. Beide stört(e) das nicht im Geringsten, weil sie sich charakterlich ihnen gewachsen, wenn nicht überlegen fühl(t)en.




Warum wird Bush in unseren deutschen Medien so unfair behandelt, und Kennedy damals so positiv dargestellt? Ich denke, das hat zwei Ursachen:

Erstens war Kennedy, gemessen an amerikanischen Maßstäben, ein Linker, und Bush ist ein Rechter.

Zweitens gab es damals, zur Zeit Kennedys, eine viel weniger einseitige, viel weniger politisierte Journalistik in Deutschland als heute.

10. Januar 2007

Randbemerkung: Die Alternativen im Irak und der buridanische Esel

Wenn unser Hund von einem anderen Rüden angemacht wird, dann hat er zwei Möglichkeiten: Entweder stellt er sich dem Kampf, oder er erkennt, daß der andere stärker ist und macht sich, den Schwanz einziehend und die Ohren nach hinten gelegt, aus dem Staub.

Flight or fight - das sind die beiden möglichen Reaktionen in einer solchen Situation. Keine gute Idee wäre es für unseren Hund, weder das eine noch das andere zu tun. Also ohne Kampfesmut stehenzubleiben und sich der Attacke des anderen auszuliefern.



Angesichts der momentanen Schwierigkeiten im Irak stehen die USA vor einer Entscheidung dieses Typs.

Sie können entweder flight wählen. Dann wird der Irak sehr wahrscheinlich im Chaos versinken, möglicherweise zum Schlachtfeld eines Stellvertreter- Kriegs zwischen dem Iran und Saudi- Arabien werden.

Das weltweite Ansehen der USA und ihr Einfluß im Nahen Osten werden bei einer solchen Entscheidung auf historische Tiefpunkte sinken.

Den Demokraten im Irak, die sich im Vertrauen auf die USA politisch engagiert haben, wird es dann vermutlich nicht besser gehen als den Vietnamesen, die sich in den sechziger und siebziger Jahren darauf verlassen hatten, daß die USA einen Verbündeten nicht im Stich lassen würden. 65 000 Menschen wurden von den Kommunisten hingerichtet. Schätzungsweise eine Million Menschen wurden in Konzentrationslager eingeliefert. Rund 250 000 kamen beim Fluchtversuch über das Meer ums Leben. 900 000 gelangten als Flüchtlinge ins Ausland.

Aber immerhin - man könnte ja zu dem Schluß kommen, daß der Krieg im Irak nun einmal verloren ist. Dann wäre ein möglichst schneller Rückzug rationaler als die Fortführung des Kriegs. Dann wäre es unverantwortlich für den Präsidenten und den Kongreß, weiter amerikanische Soldaten zu opfern.

Oder man kommt zu der Einschätzung, daß der Krieg nach wie vor zu gewinnen ist. Dann wäre es unverantwortlich, nicht alles für den Sieg Erforderliche zu tun und dafür auch die erforderlichen Gelder zu bewilligen.



Flight or fight - beides sind rational begründbare Entscheidungen. Ob man die eine oder die andere trifft, hängt davon ab, ob man den Krieg für verloren oder für weiter gewinnbar hält. Wie steht der Präsident, wie steht die demokratische Mehrheit im Kongreß dazu?

Präsident Bush war immer entschlossen - er hat es ja oft genug gesagt -, daß die USA den Irak nicht verlassen werden, bevor die Aufgabe erledigt ist ("the job is done"). Er wird heute Nacht sehr wahrscheinlich ankündigen, daß 20000 weitere Soldaten in den Irak geschickt werden, um dort die Situation zu stabilisieren. Dies ist - so sieht es gegenwärtig aus - auch eine amerikanische Gegenleistung dafür, daß El Maliki versprochen hat, gegen alle Milizen - auch schiitische - entschlossen vorzugehen. Bush ist offensichtlich weiterhin überzeugt, daß der Krieg zu gewinnen ist.

Und die Demokraten? Es scheint, daß sie sich weder für fight noch für flight entscheiden können oder wollen. Wenn sie den Krieg für gewinnbar halten, dann müßten sie eigentlich den Präsidenten unterstützen. Wenn nicht, dann müßten sie sagen: Wir haben den Krieg verloren, laßt uns das eingestehen und unsere Truppen sofort abziehen.



Dazu können sie sich, wie Rich Lowry, der Herausgeber des National Review, gestern dort schrieb, aber offenbar nicht durchringen. Lowry zitiert einen Brief an den Präsidenten, den die demokratischen Fraktionsvorsitzenden in den beiden Kammern, Nancy Pelosi und Harry Reid, an den Präsidenten geschrieben haben. Einerseits schreiben sie "It is time to bring the war to a close"; es sei an der Zeit, diesen Krieg zu einem Ende zu bringen. Andererseits heißt es am Ende des Briefs: "... we want to do everything we can to help Iraq succeed in the future"; - "wir wollen alles tun, was wir können, um dem Irak zu einer erfolgreichen Zukunft zu verhelfen".

Ja, watt denn nu? sagt da der Berliner.

Und Rich Lowry weist darauf hin, daß es unlogisch ist, wenn die Demokraten Gelder für 20 000 weitere Soldaten verweigern wollen, aber 140 000 Soldaten im Irak weiter finanzieren.



Ich glaube, da hat Lowry recht. Die Haltung der Demokraten im Kongreß (soweit man von einer einheitlichen Haltung sprechen kann) scheint mir sehr einer "Entscheidung" unsers Hunds zu ähneln, weder die Flucht zu ergreifen, noch zum Kampf entschlossen zu sein.

Aber das tut er nicht. Er ist ja kein buridanischer Esel.

Randbemerkung: Die 68er

In B.L.O.G. hat Rayson einen sehr interessanten Beitrag mit der Frage eröffnet: "Was wollten die 68er?".

Als einer, der diese Zeit miterlebt hat, der vielleicht selbst eine Art 68er gewesen ist (so genau weiß ich das nicht), fühlte ich mich von Rayson befragt. Aber mit der kurzen Antwort, die ich beabsichtigt hatte, wurde es nichts. Sie wurde länger und länger, zu lang für einen Kommentar. Also setze ich es als Randbemerkung hier hinein; mit Dank an Rayson.



Was wollten die 68er? Ich glaube nicht, daß es damals ein auch nur halbwegs einheitliches "Wollen" gegeben hat. Was es wohl aber gab, das war ein weitgehend einheitliches "Fühlen". Nämlich das Lebensgefühl: "Wir sind die Größten. Uns kann keiner. Wir haben den Durchblick."

Die Grundbefindlichkeit der 68er war eine, sagen wir, naive Arroganz.

Überwertige Vorstellungen. Das Fehlen jedes Respekts für Andersdenkende. Man diskutierte allenfalls untereinander. Die "liberalen Scheißer", die "Faschisten" wurden ausgelacht, beschimpft, niedergeschrien, "entlarvt", lächerlich gemacht.

Man war vollkommen unfähig zur Perspektivenübernahme. Daß Andersdenkende möglicherweise auch Recht haben könnten, lag außerhalb des Horizonts der 68er; darin glichen sie den Nazis und den Kommunisten.

Da war viel Narzissmus, und es war sehr viel pubertäre Unreife. Allmachtsphantasien von jungen Leuten, "subversive Aktion".

Aber statt den Rotzjungen gebührend zu begegnen, kuschte die Gesellschaft vor ihnen, ja bewunderte sie zunehmend. Insofern wurden sie bestätigt, diese dummen und unreifen Revoluzzer; bestätigt von einer hilflosen Väter- Generation mit schlechtem Gewissen, die sich nicht traute, sich gegen diese Unverschämtheiten so zu wehren, wie sie es verdient gehabt hätten.

Das pubertäre Gehabe wurde akzeptiert. Welcher aufgeblasene Revoluzzer, der unversehens populär wird, würde das nicht als Bestätigung seiner krausen Ideen sehen?



Sie erhoben sich moralisch über die Väter- Generation, die 68er. In Wahrheit setzten sie nur deren schlimmste Traditionen fort.

Man war überzeugt, das Schlechte in der deutschen Geschichte weit hinter sich zu lassen - und man dachte genauso intolerant wie die Nazis, man verwendete ihre Methoden. Es war totalitäres Denken, es waren SA- Methoden, die wieder aufgenommen wurden. (Und die ja bis heute nicht verschwunden sind. Die Autonomen, die Antifas, sind in ihren Methoden die Nachfolger der SA).

Die RAF, als die sozusagen höchste Form der 68er Bewegung, hat die Tradition der Freikorps und der SS fortgesetzt: Elitäre Menschen, die völlig kalt und diszipliniert handeln, haben das Recht, nach Belieben zu morden, wenn sie dem folgen, was sie als richtig erkannt haben. Das war ihre Ideologie, so wie es die der Freikorps und die der SS gewesen war. Die RAF - das waren die Vollstrecker des Nazi- Denkens. Menschen, die sich gegen ihre Väter zu empören vermeinten, und die doch nur deren mörderisches Erbe fortführten.



Wie kam es zu dieser "Bewegung"? Da floß vieles zusammen:
  • Eine kommunistische Unterwanderung, die ihre Früchte trug. Ohne von der DDR kontrollierte Zeitschriften wie "Konkret" und den "Berliner Extra-Dienst", ohne die kommunistisch beeinflußte Anti- Atomtod- Bewegung, ohne kommunistisch gesteuerte Parteien wie den BdD und die DFU, ohne die Beeinflussung des SDS, der Gewerkschaften hätte es die 68er Bewegung jedenfalls nicht in der Form gegeben, in der sie sich entwickelte.

  • Der spezifisch deutsche Generationskonflikt. Ähnlich wie die heutige junge Generation in der ehemaligen DDR hatten wir damals Väter, auf die man überwiegend nicht stolz sein konnte, die keine Vorbilder waren. Rebellionen entstehen meist dann, wenn die Macht, gegen die man rebelliert, erstens nicht als moralisch legitimiert und zweitens als schwach wahrgenommen wird. So sahen die meisten 68er ihre Väter. Es war im Grunde das übliche Aufbegehren der Jungen gegen die Alten. Nur wehrten sich die Alten nicht; also wurden die Jungen immer unverfrorener.

  • Die ungelösten gesellschaftlichen Probleme der jungen Bundesrepublik, die sich unter Adenauer aufgestaut hatten und die unter Erhard virulent geworden waren - überholte Sexualgesetzgebung, autoritäres Denken, der ungeheure Einfluß der Kirchen. Noch bis in die sechziger Jahre hinein wurden Staatsämter nach konfessionellem Proporz vergeben. Zum Beispiel war es ungeschriebenes Gesetz, daß Kanzler und Präsident verschiedenen Konfessionen angehören mußten. Noch 1965 erzählte mir ein Kollege, konfessionslos, daß er nicht wisse, in welche Schule er seine Kinder schicken solle - in Nordrhein- Westfalen gab es nur katholische und evangelische Grundschulen.

  • Die weltweite Jugendrebellion, die eine Rebellion einer glücklichen Generation (die der Nachkriegskinder) gegen eine unglückliche Generation (die der von der Weltwirtschaftskrise, dem Krieg, der Nachkriegszeit Gebeutelten) war. Man verstand die Härte, die Disziplin, den Realitätssinn dieser Väter- Generation nicht mehr - kein Wunder, man war ja selbst nie dem ausgesetzt gewesen, was diese Väter hatten durchmachen und bewältigen müssen.

    Meine Großeltern, beispielsweise, waren zweimal "ausgebombt" worden, sie hatten also ihre Wohnung mit allem Besitz über sich zusammenbrechen sehen. Meine Eltern hatten jahrelang die Familie mit einem Null- Einkommen irgendwie durchgebracht; ohne Care- Pakete hätten wir vermutlich nicht überlebt.

    Da blühen keine Utopien. Da träumte man nicht von der idealen Gesellschaft der Zukunft, sondern man träumte davon, satt zu essen zu haben und im Winter nicht zu frieren.



  • Die Protagonisten der 68er Bewegung waren überwiegend zwischen 1945 und 1950 geboren. Sie hatten das alles allenfalls als Kleinkinder erlebt. Ihre bewußte Erinnerung war aber nicht die Erinnerung an Leiden, an Bombenangriffe, an Hunger, sondern die Erinnerung an den Aufstieg in der Nachkriegszeit.

    Es ging ihnen gut. Ja, es ging ihnen, wie es ein Schlager der Zeit sagte, " ... besser, besser, besser, immer besser, besser, besser".

    Und das mochten sie nun nicht, diese jungen Leute. Das war schal, Konsumterror. Nicht genug Werte. Zu materialistisch. Ja, hatten sie denn keine Ideale, ihre Eltern? Also raus aus ihrer Welt. Eine neue Welt aufbauen. So denken halt Jugendliche, mit jedem Recht der Welt.



    Alles verständlich. Normalerweise läßt man sie sich austoben, und dann werden sie vernünftig. Nur war es eben bei dieser Nachkriegsgeneration anders, die nicht von einer intakten Gesellschaft zum Erwachsensein geführt wurde.

    Dieses narzißtische, unverschämte Lebensgefühl herrschte damals ja weltweit, weil es eben überall dieselbe Nachkriegsgeneration war, die es trug und propagierte.

    Nur gab es halt sehr verschiedene Formen, in denen sich dieses Lebensgefühl äußerte. Man konnte ein Woodstock veranstalten oder zu Mördern werden.



    Die RAF, die Bewegung 2. Juni waren keine Außenseiter. Ein erheblicher Teil der 68er hatte Sympathie für das Verbrechen. Man kann das heute schwer verstehen. Aber diese Kinder von Marx und Coca Cola, die selbst nicht erlebt hatten, was Gewalt bedeutet, träumten von der Revolution, vom "Befreiungskrieg", vom "Aufstand der Massen".

    Sie erkoren den vielfachen Mörder Ho Tschi Minh, den Massenmörder Mao Tse Tung, die mordenden Tupamaros zu ihren Helden. Sie träumten davon, daß weltweit Krieg und Gewalt herrschen würden.

    Wenn sie "Schafft zwei, drei, viele Vietnams!" skandierten, dann verlangten sie den Tod von Hunderttausenden. Nur wenige begannen wirklich mit dem Morden. Aber viele - wenn auch sicher nicht alle - wollten auch in den "Metropolen", wollten auch in Deutschland eine Revolution.



    Was die 68er wollten, hat sich zum Glück überwiegend nicht verwirklicht. Es hat nicht die vielen blutigen Kriege wie in Vietnam und Nicaragua gegeben, die sie wollten. Wir haben glücklicherweise nicht die sozialistische Gesellschaft, die sie erträumten.

    Unheil haben sie dennoch genug angerichtet. Die sieben Jahre rotgrüner Regierung, die sieben schlimmsten Jahre der Bundesrepublik, wären ohne die 68er nicht möglich gewesen.

    Nun, sie sind vorbei. Die 68er sind auf dem Weg in den zwar nicht immer wohlverdienten, aber ganz überwiegend wohldotierten Ruhestand.

    Weg damit also, Schwamm drüber. Hoffentlich sind wir Deutschen nach den Nazis, nach den 68ern endlich reif geworden für die Demokratie.

    9. Januar 2007

    Rückblick: Venezuela auf dem Weg in den real existierenden Sozialismus

    Mitte August habe ich hier die Berichterstattung des cubanischen Fernsehens CubaVision zu Castros Erkrankung kommentiert.

    Auffällig war, daß nicht Castro im Mittelpunkt stand, sondern Hugo Chávez. Auch die weiteren Berichte von CubaVision setzten das fort, wie in "Zettels kleinem Zimmer" im einzelnen nachzulesen. Offenbar soll Chávez als Nachfolger Castros aufgebaut werden.

    Castros Nachfolger kann Chávez nur werden, wenn auch in Venezuela ein kommunistisches Regime errichtet wird. Seit diesen Sendungen verfolge ich deshalb aufmerksamer, was sich in Venezuela zuträgt. Hier war kürzlich einiges über den neuesten Stand der "bolivarischen Revolution" zu lesen, also des Übergangs zur Diktatur des Proletariats in Venezuela. Unter anderem wird eine Sozialistische Einheitspartei gegründet und ein allgemeiner Arbeitsdienst für alle Bürger zwischen 15 und 50 Jahren eingeführt.

    Gestern nun hat Chávez anläßlich der Vereidigung seines Kabinetts die nächsten Schritte auf dem Weg zum Kommunismus angekündigt:
  • Umfangreiche Verstaatlichungen. Die cubanische Nachrichtenagentur Prensa Latina nennt das sehr hübsch "Efforts intended to recover social property for strategic production"; Anstrengungen also, für die strategische Produktion gesellschaftliches Eigentum einzuziehen.

  • Weiter kündigte Chávez ein Ermächtigungsgestz an (in der Formulierung von Prensa Latina: "a law ... with the purpose of conferring special powers to implement a series of regulations to the Executive"; ein Gesetz mit dem Ziel, besondere Vollmachten an die Regierung zu übertragen, eine Reihe von Regelungen zu treffen).

  • In einer weiteren Meldung teilt Prensa Latina mit, daß Chávez "constitutional socialist reform, popular education, a 'new geometry of power' and promotion of municipal functions" angekündigt habe, also eine sozialistische Verfassungsreform, Volkserziehung, eine "neue Geometrie der Macht" und die Förderung der Gemeinden.
  • Einen ausführlichen AP-Bericht über Chávez' Rede findet man zum Beispiel heute bei CBS News.

    Die deutsche Berichterstattung zu diesem Thema ist bisher eher bescheiden. Sucht man zum Beispiel bei FAZ.Net nach "Venezuela", dann wird im Augenblick als heutige Meldung ein einziger Beitrag angeboten; ein Artikel des Wirtschaftsressorts über das Sinken der Ölpreise. Eine rühmliche Ausnahme ist dieser ausführliche Bericht von Hildegard Stausberg in der "Welt", der zwar nicht die aktuelle Rede kommentiert, aber interessante Informationen zum Kontext bringt.

    Zum Beispiel, daß das neue, gestern vereidigte Kabinett ausschließlich aus engen Vertrauten von Chávez besteht, darunter vielen ehemaligen Militärs.



    Deren Erfahrung wird er bald brauchen, wie auch die der Cubaner, die seinen Sicherheitsapparat kontrollieren.

    Denn die Machtübernahme, die jetzt begonnen hat, folgt exakt dem Drehbuch der kommunistischen Machtübernahmen in den Ländern Osteuropas zwischen 1945 und 1950: Kontrolle des Militärs und der Polizei (des Innenministeriums). Zusammenschluß der Parteien zu einer Einheitspartei, einer "Nationalen Front", oder wie immer es genannt wird. Verstaatlichung der Schlüsselindustrie. Erfassung der gesamten Bevölkerung in "gesellschaftlichen Organisationen", wie jetzt dem von Chávez vorgesehenen allgemeinen Arbeitsdienst.



    Die USA scheinen mit dem Irak und Afghanistan vollauf beschäftigt. Das Entstehen einer neuen kommunistischen Diktatur "vor ihrer Haustür", die möglicherweise schon bald ein Bündnis, wenn nicht einen Verbund mit Cuba eingehen wird, scheinen sie hinnehmen zu wollen.

    Ketzereien zum Irak (5): Zwei Diplomaten und eine Provokation

    Erinnern Sie sich? Da waren diese iranischen Diplomaten, die an Weihnachten vorübergehend von US- Truppen im Irak festgesetzt wurden. Der irakische Präsident Talabani zeigte sich empört, natürlich zeigten sich auch in Europa die üblichen Empörten empört. In der taz schrieb Bahman Nirumand (jaja, eben jener) von einer "Provokation ... gegen die gewählte Regierung des Irak".

    Wie kommen US-Truppen dazu, mir nichts, dir nichts Diplomaten festzusetzen? Nun, so ganz allein in diplomatischer Mission waren die Herren wohl nicht im Irak unterwegs gewesen. Die New York Sun berichtet etwas über die Hintergründe; in diesem Artikel von Eli Lake.

    Danach hatten die festgesetzten Iraner Dokumente bei sich, die etwas sehr Interessantes ergaben: Der Irak unterstützt nicht nur schiitische, sondern auch sunnitische Extremisten im Irak.

    Nicht die Baathisten - schließlich hatte Saddam seinen Angriffskrieg gegen den Iran geführt, mit Hunderttausenden von Opfern. Mit den Baathisten kann vermutlich kein iranisches Regime kooperieren.

    Aber mit militanten sunnitischen Gruppen kooperiert der Iran, wie diese Dokumente zeigen, sehr wohl - mit der El Kaida, mit der Ansar al-Sunna.



    Gefunden wurden bei den "Diplomaten" laut New York Sun zum Beispiel Angriffspläne und die Telefonnummern sunnitischer Extremisten. Eines der Dokumente sei eine Gesamtbeurteilung der Lage im Irak, vergleichbar dem Bericht der Baker- Kommission auf US-Seite. Darin heiße es, daß Saudi-Arabien gegenwärtig seine Anstrengungen verstärkt, die sunnitischen Aufständischen zu kontrollieren, und daß der Iran seinerseits seine Anstrengungen verdoppeln müsse, sie zu beeinflussen.

    In der Konkurrenz zwischen dem Iran und Saudi- Arabien um die Hegemonie in der Region sieht der amerikanische Moslem Ali Eteraz überhaupt den Schlüssel zum Verständis der heutigen Situation im Irak. Offenbar geht der Iran in dieser Auseinandersetzung so weit, nicht nur die militanten Schiiten im Irak zu unterstützen, sondern zugleich auch ihre sunnitischen Feinde.

    Die New York Sun zitiert einen früheren Leitenden Analytiker des State Department, Wayne Wight: "One example of a mindset that may hinder analysis of Iranian involvement is the belief that Iran would never have any dealings with militant Sunni Arabs. But they allowed hundreds of Al Qaeda operatives to escape from Afghanistan across their territory in 2002". Ein Beispiel für die Geisteshaltung, die eine Analyse der Einmischung des Iran behindern könnte, sei der Glaube, daß der Iran sich niemals mit gewalttätigen sunnitischen Arabern einlassen würde. "Aber", gibt Whight zu bedenken, " sie erlaubten es Hunderten von Aktivisten der El Kaida, im Jahr 2002 über ihr Territorium aus Afghanistan zu entkommen".



    Es ist offensichtlich ein Machtspiel, ein Spiel der Allianzen. Wer wen militärisch unterstützt, das hängt nicht vom Glauben und von Ideologien ab, sondern von taktischen Überlegungen. Auch Stalin und Hitler haben ja paktiert, als jeder sich davon Vorteile versprach.

    7. Januar 2007

    Ist der Kommunismus am Ende?

    In der Euphorie der Wendezeit 1989 / 1990 herrschte ein großer Zukunftsoptimismus. Der Kanzler Kohl prophezeite am 1. Juli 1990 "blühende Landschaften" in den neuen Bundesländern. Wir seien von Freunden umzingelt, befand der Verteidigungsminister Volker Rühe. Man träumte von einer Verkleinerung, manche gar von einer Abschaffung der Bundeswehr. Man freute sich auf die Friedens- Dividende.

    Deutschland lag mit dieser Stimmung nur im allgemeinen Trend. Der Kommunismus galt als erledigt. Neue Gefahren schienen nicht zu drohen. Es war dieser Zeitgeist, der Fukuyamas The End of History 1992 zu einem Bestseller machte, weltweit.



    Heute sind wir, with the benefit of hindsight, klüger. Vom Ende der Geschichte ist keine Rede mehr. Stattdessen zeichnen sich neue historische Konfrontationen ab: Die zwischen Freiheit und Islamismus, die zwischen den USA und China.

    Ob sie einmal die Intensität der Konfrontation zwischen dem Ostblock und der Freien Welt von den fünfziger Jahren bis zum Ende der achtziger Jahre annehmen werden, weiß niemand. Jedenfalls geht die Geschichte weiter. Nichts Neues unter der Sonne.

    Die meisten Hoffnungen der Wendezeit 1989 / 1990 haben sich erledigt. Keine Welt ohne Waffen. Keine Friedens- Dividende. Aber wenigstens das Ende des Kommunismus?



    Der Kommunismus, wie ihn Marx sich ausgedacht hatte, war eine Heilslehre, eine säkulare Religion gewesen. An die Macht gekommen, wurde er zu einer praktizierten Heilslehre, gestützt auf ein totalitäres Herrschaftssystem. Zunehmend dann ein totalitäres Herrschaftssystem, das sich zu seiner Aufrechterhaltung einer Heilslehre bediente.

    Und schließlich war er nur noch ein totalitäres Herrschaftssystem, in dem die Heilslehre lediglich zur Disziplinierung der Untertanen diente; als der Geßlerhut, den sie zu ehren hatten. Die Heilslehre hatte ihre Strahlkraft verloren. Das Herrschaftssystem aber wurde immer perfekter, basierend auf Einschüchterung der Untertanen, auf der Kontrolle aller Lebensbereiche, auf brutalem Vorgehen gegen jede Opposition.

    Ein solches auf Unterdrückung basierendes System verlangt freilich eine ständige Anstrengung der Herrschenden. Anders als in einem Gesellschaftssystem, das die Zustimmung seiner Bürger genießt, ist es nicht aus sich selbst heraus stabil. Der Herrschaftsapparat muß einen großen Teil der gesellschaftlichen Ressourcen dafür einsetzen, das System überhaupt zu erhalten.

    Es ist, wie jedes System, dessen Stabilität künstlich aufrechterhaltenen wird, ständig in Gefahr, instabil zu werden. Wie das koloniale Nordamerika 1776, wie das spätfeudale System in Frankreich 1789, und wie eben auch zwei Jahrhunderte später das kommunistische Kolonialreich und bald danach auch das kommunistische Mutterland.



    Der Aufstand gegen die kommunistischen Ausbeuter verlief ungleich unblutiger als der gegen die aristokratischen Ausbeuter damals in Frankreich; eine weitgehend friedliche anstatt einer gewaltsamen Revolution. Er schien noch dazu die Gewaltherrschaft gründlicher beseitigt zu haben; die Konterrevolution der Kommunisten blieb aus.

    Der Kommunismus war, so schien es damals, am Ende. Kollabiert. An seiner Unmenschlichkeit, seiner Ineffizienz gescheitert; auch seiner Unfähigkeit, sich der dritten technologischen Revolution anzupassen.

    Kommunismus, das war halt so'ne Idee gewesen. Und Tschüss. So dachten viele damals, vor gut 15 Jahren.



    Ich fürchte, wir haben uns geirrt. Wir haben uns in der Hochstimmung der Wendezeit in Bezug auf den Kommunismus ebenso geirrt, wie wir ganz allgemein mit der Hoffnung auf eine friedliche Welt, auf das Ende der Geschichte, falsch gelegen haben.

    Der Kommunismus ist keineswegs am Ende. Die marxistische Heilslehre dürfte erledigt sein; aber die kommunistische Herrschaftsmethode ist es nicht.

    Im Gegenteil:
  • In Lateinamerika entstehen mehr oder weniger kommunistische, jedenfalls dem kommunistischen Cuba freundlich gesonnene und von ihm beeinflußte Systeme. Am weitesten auf diesem Weg fortgeschritten ist Venezuela, wo - weitgehend unbeachtet von den Medien - der Übergang zur Diktatur des Proletariats vorbereitet wird.

  • In Rußland herrscht eine Machtelite, die aus dem Repressionsapparat der Sowjetunion, vor allem dem KGB, hervorgegangen ist. Es gibt keine Hinweise darauf, daß Putin und seine Leute noch an den Marxismus glauben (falls sie das denn jemals getan haben). Aber immer mehr Indizien weisen darauf hin, daß sie die kommunistischen Methoden der Machterhaltung so anwenden, wie sie das in ihrer Zeit im KGB oder anderen Sparten des kommunistischen Unterdrückungsapparats gelernt haben.

  • Das kommunistische Nordkorea dürfte den perfektesten Polizeistaat der Geschichte geschaffen haben. Kein Staat der Welt gibt einen größeren Anteil des BSP für das Militär aus (31 Prozent); jeder vierte Koreaner, schätzt CNN, arbeitet beim Militär.

  • Das kommunistische Vietnam erlebt gegenwärtig so etwas wie einen Frühkapitalismus. Aber die Situation bei den Menschenrechten hat sich keineswegs generell verbessert; im Gegenteil, es gibt neue Felder verstärkter Unterdrückung, wie zum Beispiel das Internet.

  • Und dann ist da China. Ein Land, das sich nach außen glänzend zu verkaufen weiß - man muß sich nur die Sendungen von CCTV 9 anschauen, um sich davon zu überzeugen. Ein Land, das ein Programm für eine Mondlandung vorantreibt, das mehr als achtzig Prozent der weltweit verkauften DVD-Player herstellt, das sich in wenigen Jahrzehnten vom Entwicklungsland zu einer der führenden Industrienationen entwickelt hat.

    Und ein Land, das von seiner kommunistischen Partei diktatorisch regiert wird; in dem eine allmächtige Geheimpolizei alle Lebensbereiche mindestens so perfekt kontrolliert, wie das die Stasi in der DDR getan hat. Über ein entsetzliches Beipiel dafür, was in diesem Staat möglich ist, habe ich kürzlich hier und in zwei vorausgehenden Beiträgen berichtet.
  • Er ist also nicht am Ende, der Kommunismus als totalitäres Herrschaftssystem. Er ist uns nur sozusagen aus dem Blick geraten.

    Kein Wunder: Aktuelle Bedrohungen gehen nicht von ihm aus, sondern vom Islamismus. Irans Atombombe, die für die Zukunft droht, löst mehr Besorgnis, mehr weltweite diplomatische Aktivität aus als die koreanische, die schon gezündet wurde.



    Möglich, daß das Ende des Kommunismus doch in absehbarer Zeit bevorsteht, auch wenn sich die Hoffnungen auf seinen schnellen Zusammenbruch als falsch erwiesen haben. Entscheidend wird wohl sein, ob es auf Dauer einen blühenden Kapitalismus in einem totalitär regierten Land geben kann.

    Aufbauen läßt sich der Kapitalismus in einem totalitären System. Das zeigen China und Vietnam; so wie auch in autoritären Systemen wie dem Chile Pinochets und dem Rußland Putins sich der Kapitalismus prächtig entwickeln konnte und kann.

    Aber wird auch ein moderner, dynamischer Kapitalismus auf Dauer mit einem totalitären Herrschaftssystem vereinbar sein? Es gibt Gründe, das zu bezweifeln.

    Der heutige und erst recht der zukünftige Kapitalismus kann nicht ohne den freien Fluß von Informationen funktionieren; kein totalitäres System kann aber andererseits Informationsfreiheit zulassen, ohne seinen Untergang herbeizuführen.

    Auch die Innovationen, die ein dynamischer Kapitalismus braucht und hervorbringt, sind auf Dauer nur in einer Atmosphäre der Freiheit zu bekommen; nur durch freie wissenschaftliche Forschung, nur durch freie Kritik und Gegenkritik, nur dadurch, daß keine Idee verboten, kein Ansatz von vornherein verworfen wird.



    Mit anderen Worten, den Fortschritt, den der freie Westen dank des freiheitlichen Rechtsstaats erreicht hat, aufholen, das kann auch ein autoritätes, sogar ein totalitäres System. Aber selbst Fortschritt schaffen, in den Wissenschaften, der Technologie - das kann kein solches System.

    Insofern gibt es langfristig, vielleicht mittelfristig Grund zum Optimismus. Aber vorerst - solange die chinesische, die vietnamesische Wirtschaft nicht innovativ zu sein brauchen, sondern ihre Erfolge dadurch erringen, daß sie bestehende Technologien billiger umsetzen - für die nächsten Jahre also, vielleicht Jahrzehnte ist mit dem Kommunismus weiter zu rechnen.

    6. Januar 2007

    Randbemerkung: Eine spannende Idee der SPD

    Ein Frommer, der auch ein Schlitzohr ist, geht zum Pfarrer und fragt: "Darf ich eigentlich beim Beten rauchen?" - "Nein, natürlich nicht, mein Sohn." - "Aber beim Rauchen darf ich doch beten?" - Was der Geistliche bejahen muß, denn wie soll man jemandem irgendwann das Beten verbieten?
    An diesen Jokus mußte ich denken, als ich heute gelesen habe, was die SPD sich für den Niedriglohnsektor ausgedacht hat. Aus einer heutigen dpa-Meldung:
    Die SPD-Führung hat sich grundsätzlich dafür ausgesprochen, Geringverdiener künftig von Sozialabgaben zu befreien. Durch Steuergutschriften sollen ihre Netto- Einkünfte spürbar erhöht werden. (...) SPD-Chef Kurt Beck sprach nach den Beratungen von einer "spannenden Idee".
    Spannend, nicht wahr! Und ja sooo neu.

    So neu, wie unser Frommer seine Frage beim zweiten Anlauf neu formuliert hat. Denn die spannende Idee, auf die die SPD jetzt verfallen ist, ist ja nichts anderes als der Kombilohn, wie ihn zum Beispiel das Ifo- Institut unermüdlich vorschlägt.

    Das Kombilohn-Konzept sieht vor, daß der Staat, in der Formulierung des Ifo- Instituts, zu Niedrigeinkommen "im Bedarfsfalle ein zweites staatlichen Einkommen hinzuzahlt, so dass in der Summe ein sozial akzeptables Gesamteinkommen entsteht".

    Will das jetzt auch die SPD? I wo. Sie sagt ja nicht: Der Staat soll ein zweites Einkommen hinzuzahlen. Sondern sie sagt: Er soll die Sozialabgaben übernehmen und Steuern gutschreiben.

    Rauchen beim Beten - nie! Aber beten beim Rauchen, ja warum nicht?



    Für den Kombilohn hatte die SPD immer wenig Begeisterung gezeigt; wenn überhaupt, dann nur in Kombination mit einem Mindestlohn.

    Der sich freilich zur ökonomischen Wirkung des Kombilohns ungefähr so verhalten würde, wie das Trinken von drei Tassen Kaffee zur Wirkung eines Schlafmittels. Denn der Sinn des Kombilohns ist es ja gerade, ein Absinken der von den Unternehmen gezahlten Löhne bis auf ein jeweils marktgerechtes Niveau zu ermöglichen.

    Nur dann rechnet es sich für Unternehmen, in diesem Bereich der Beschäftigung Arbeitsplätze zu schaffen. Ein Mindestlohn hätte genau den gegenteiligen Effekt. Man kann den Unternehmen zwar vorschreiben, wieviel sie zahlen müssen, wenn sie jemanden einstellen. Man kann ihnen aber nicht befehlen, jemanden zu diesen Konditionen einzustellen.

    Ein Mindestlohn ist also entweder kontraproduktiv - wenn er über dem liegt, was sich für die Unternehmen rechnet. Oder er ist nutzlos - wenn er bei diesem Betrag oder darunter liegt.

    Der Kombilohn ermöglicht Niedriglöhne auf einem Niveau, das die Schaffung neuer Arbeitsplätze nach sich zieht. Und dies, ohne daß die Bezieher dieser Löhne in die Armut geraten würden, weil der Staat eben einen Zuschuß zahlt.

    Einen Zuschuß, der nicht nur den Empfängern ein anständiges Leben ermöglicht, sondern der zugleich ihr Einkommen so weit über den Sozialhilfesatz hinaus anhebt, daß sich ein Anreiz zur Aufnahme auch niedrig bezahlter Arbeit ergibt.



    Mag sein, daß das inzwischen auch der SPD dämmert. Aber statt einfach zu sagen "Wir sehen ein, daß ein Kombilohn ohne Mindestlohn die richtige Lösung ist", gießt man den alten Wein in neue Schläuche.

    Warum die Camouflage? Nun, man möchte vielleicht ein wenig verschleiern, daß nicht nur der Neoliberale Hans- Werner Sinn, sondern ja auch - B.L.O.G. hat darauf hingewiesen - der Ur- Neoliberale Milton Friedman Geburtshelferdienste für diese spannende Einsicht der SPD leistete.

    Naja, mir soll's recht sein. Ob nun beim Beten rauchen oder beim Rauchen beten - Hauptsache, man darf.

    Marginalie: Die Wiesbadener SPD erklärt sich

    Aus der Presseerklärung des Unterbezirks Wiesbaden der SPD zur gescheiterten Kandidatur ihres Kandidaten:
    Der große Zuspruch, den Ernst-Ewald Roth von Bürgerinnen und Bürgern erfahren hat, zeigt, dass die Kandidatur Ernst-Ewald Roths eine politische Perspektive für unsere Stadt darstellte.

    Der Parteivorsitzende Marco Pighetti und der gesamte Unterbezirksvorstand tragen dafür die Verantwortung und sind heute zurück getreten.
    Nein, in meinem Zitat fehlt kein "(...)".

    Sie können nicht mal eine Presseerklärung formulieren, diese Genossen aus der hessischen Landeshauptstadt.

    Was ist aus der Partei von Georg August Zinn geworden!

    Mein liberalkonservativer Vermittlungsausschuß

    Als Liberalkonservativer fühle ich mich gelegentlich wie ein wandelnder Vermittlungsausschuß. Der Liberale in mir meint Dies, der Konservative hält Jenes für richtig. Beide haben gute Argumente. Ja mehr noch: Beider Positionen sind keineswegs ad hoc gebildet worden, sondern sie reflektieren tiefsitzende, grundsätzliche Überzeugungen.

    Da streiten sie sich nun also, der Konservative und der Liberale in mir. Meist kann einer der den anderen überzeugen, oder man findet einen Kompromiß, und sie können mit einem gemeinsamen Ergebnis an die Öffentlichkeit treten.

    Manchmal geht es ihnen auch wie den Gesundheits- und ähnlichen Politikern der Großen Koalition: Sie wollen sich ja verständigen, aber sie kommen nicht zu Potte.

    Wenn ihnen das passiert, dem Liberalen in mir, dem Konservativen in mir, dann beneiden sie schon einmal diejenigen, die auf die meisten Fragen eine schnelle Antwort haben, weil sie lupenreine Liberale sind, lupenreine Konservative. Ganz zu schweigen von den Sozialisten, den Kommunisten, den Antideutschen usw., denen ihre politische Haltung die Antworten auf alle Fragen so zuverlässig liefert, wie die Schachtel Marlboro aus dem Zigarettenautomaten plumpst.

    Im Unterschied zu Regierungsmitgliedern sind sie, der Konservative in mir, der Liberale in mir, zum Glück nicht zur Einigung verdammt. Wenn sie sich nicht einigen können, dann melden sie halt eine Hung Jury, und die Sache hat sich. Dann sage ich eben zu dem betreffenden Thema nichts.



    Drei Themen, die in meinen Vermittlungsausschuß mußten, waren in den letzten Tagen aktuell: Der Fall Gäfgen, oder vielmehr dessen neueste Wendung. Die Hinrichtung Saddam Husseins. Und drittens das Bestreben des Innenministers, für den Fall eines terroristischen Anschlags oder eines solchen Versuchs Rechtssicherheit zu schaffen, was die erforderlichen Gegenmaßnahmen angeht.



    Im Fall der Todesstrafe für Saddam Hussein waren die Fronten in meinem kleinen, in pectore residierenden Vermittlungsausschuß klar:

    Der Liberale in mir ist gegen die Todesstrafe, bedingungslos und prinzipiell. Er vertritt ungefähr die Position, die Karsten in B.L.O.G klar dargelegt hat: "Eindeutig ist aus meiner Sicht: Die Todesstrafe ist falsch. Immer, unter allen Bedingungen und überall. Auch bei Saddam ...".

    Punktum. Man kann ja grundsätzliche Wertentscheidungen nicht von Fall zu Fall zur Disposition stellen.

    Der Konservative in mir ist - anders als viele Konservative außerhalb meiner Brust - beileibe kein Anhänger der Todesstrafe. Nur denkt er pragmatisch. Die Todesstrafe, argumentiert er, ist falsch, weil sie ein Überrest archaischen Denkens ist.

    Sie stammt aus voraufklärerischen Zeiten, und auch hier sollte die Aufklärung sich allmählich durchsetzen.

    Nur halt allmählich, und wenn's mal nicht gleich so weit ist - sei's drum. Der Konservative in mir, der auch ein Pragmatiker ist, kann sich darüber nicht echauffieren.

    Die beiden haben sich dann auf das geeinigt, was sie beide guten Gewissens vertreten können: Wie immer man zur Todesstrafe steht, es ist jedenfalls ein Unding, daß die deutsche und die italienische Regierung es ausgerechnet angesichts der Hinrichtung Saddam Husseins für richtig befanden, sich als Gegner der Todesstrafe zu bekennen. Während ihnen zum Beispiel die kürzliche Hinrichtung chinesischer Geistlicher nach einem fragwürdigen Prozeß eine solche Stellungnahme nicht wert gewesen war.



    Im Fall der gesetzlichen Regelung dessen, was die Regierung im Fall einer extremen terroristischen Bedrohung tun darf, ist der Liberale in mir dafür, prinzipiell dem Staat so wenige Befugnisse einzuräumen wie möglich. Schon gar nicht, ihm eine Lizenz zum Töten zu erteilen.

    Wenn es gar nicht anders geht, dann muß der Verantwortliche es eben auf sich nehmen, sich über das Gesetz hinwegzusetzen, um Menschenleben zu retten. Das ist etwas ganz Anderes, als wenn der Staat diesen Akt der Tötung Unschuldiger ausdrücklich erlaubt.

    Auch das BVerfG hat ja nur eine solche ausdrückliche Erlaubnis nicht zugelassen. Darüber, was jemandem passiert, der den Befehl dennoch gibt, hat es sich gar nicht geäußert. Niemals kann aber der Staat es gesetzlich festlegen, daß der Mensch zum Mittel zum Zweck wird. Das steht in krassem Gegensatz zu Paragraph 1 des Grundgesetzes.

    Der Konservative in mir hält dem entgegen, daß niemand es Verantwortlichen zumuten kann, in einer solchen Situation gesetzwidrig zu handeln.

    Auch im Krieg schickt der Staat Soldaten in den sicheren oder wahrscheinlichen Tod. Es gibt also keineswegs eine generelle Norm - ein allgemeines Gesetz, würde Kant sagen -, die das verbietet. Und die Situation einer extremen terroristischen Bedrohung ist vergleichbar einer Kriegssituation.

    Wenn der Einsatz von Soldaten im Krieg in Situationen, in denen sie mit dem Tod rechnen müssen, dem Grundgesetz nicht widerspricht, dann kann dessen Verbot nicht so rigoros sein, wie es der Liberale in mir vorausgesetzt hatte.

    Weiter gibt er zu bedenken, der Konservative in mir, daß die Gerichte in unserem Rechtssystem sich in einem solchen Fall nicht anders verhalten können als der Gesetzgeber. Das GG ist schließlich unmittelbar geltendes Recht. So, wie der Frankfurter Polizei- Vizepräsident Daschner verurteilt werden mußte, weil er ein entführtes Kind retten wollte, wird auch der Innenminister verurteilt werden müssen, der den Abschuß eines Flugzeugs befahl; wie nachvollziehbar auch immer seine Motivation gewesen sein möge.

    Und wie soll man es erst einem Jagdflieger zumuten, eine Zivilmaschine abzuschießen, wenn es dafür gar keine gesetzliche Grundlage gibt? Müßte nicht zumindest dieser, wenn schon nicht der Innenminister, das Grundgesetz unter dem Arm tragend, den Befehl verweigern? Sagt der Konservative in mir

    In diesem Fall hat er, der Konservative in mir eindeutig gewonnen. Man kann es hier nachlesen.



    Und im Fall Gäfgen? Es geht um einen Verbrecher, der ein Kind entführt hat, weil er Geld für einen aufwendigen Lebensstil erpressen wollte. Der sich dazu ein Opfer ausgesucht hat, das er gut kannte und das ihm vertraute. Der von vornherein plante, das Kind zu ermorden, und der dann tagelang den Eindruck zu erwecken versucht hat, es sei noch am Leben.

    Um einen Verbrecher, der, statt irgendwann wenigstens einen Anflug von Entsetzen über seine eigene moralische Verkommenheit zu zeigen, sich als Opfer präsentiert und sein angeblich verletztes "Menschenrecht" einzuklagen versucht.

    Und der jetzt die Chuzpe hat, sein Opfer zu verhöhnen, indem er eine Stiftung für junge Gewaltopfer gründet. Eine "Stiftung", in die er kein Stiftungskapital einbringt; für die er als Lebenslänglicher logischerweise kaum etwas tun kann.

    Wenn er es denn wollte, Gutes tun. Aber bei jemandem, der sich so verhalten hat wie dieser Magnus Gäfgen, spricht ja alles dafür, daß auch dies wieder nur ein Schachzug eines psychopathischen Verbrechers ist mit dem Ziel, sich in günstigem Licht darzustellen. Um vielleicht eine vorzeitige Haftentlassung zu erreichen.



    Das sagt zu diesem Fall der Konservative in mir, der hier zweifellos auch ein Populist ist.

    Der Liberale mahnt ihn und gibt zu bedenken, daß auch ein straffällig Gewordener das Recht hat, eine Stiftung zu gründen. Daß er nicht zusätzlich zu der gegen ihn verhängten Strafe bestraft werden darf. Daß man jedem Menschen die Chance zubilligen muß, sich zu resozialisieren. Daß die Tätigkeit für eine solche Stiftung vielleicht ein guter Weg ist, Magnus Gäfgen zu resozialisieren.

    Und daß persönliche Abscheu vor einem Täter bei rechtlichen Entscheidung außen vor zu bleiben hat.



    In diesem Fall tagte der Vermittlungsausschuß nur kurz. Der Konservative in mir sagte dem Liberalen auf den Kopf zu, daß er selbst nicht an seine Argumente glaube. Und der gab das nach kurzem Zögern zu.




    Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, daß bei diesen drei Fällen der Konservative in mir insgesamt besser abgeschnitten hat als der Liberale. Ich halte das für einen Zufall, bedingt durch diese drei aktuellen Beispiele.

    Oder bin ich dabei, konservativer zu werden? Ich werde das aufmerksam verfolgen.

    5. Januar 2007

    Zum 60. Geburtstags des SPIEGEL: Eine Eloge auf Rudolf Augstein

    Rudolf Augstein war ein ungemein belesener Mann. Er hatte eine seltene Fähigkeit zur Analyse, und er war ein bemerkenswerter Stilist. Er war ein Mann von großer Integrität.

    Ich kenne eigentlich nur zwei Journalisten, die ihm in allen diesen Hinsichten ähnlich sind bzw. waren: Den Deutschen Sebastian Haffner und den Herausgeber des französischen "Nouvel Observateur", Jean Daniel.

    Ein seltsamer Zufall wollte es, daß Augstein seine Kommentare jahrelang unter dem mit Jean Daniel fast identischen Pseudonym "Jens Daniel" geschrieben hat. Als er mit diesen Kommentaren - heute würde man sagen, seiner Kolumne - begann, war er noch keine dreißig.

    Die Kommentare von Jens Daniel, später dann auch als "Moritz Pfeil" und unter Augsteins eigenem Namen verfaßt, habe ich mit Begeisterung gelesen, als sie erschienen, und später mit Bewegung und in nostalgischer Erinnerung wiedergelesen. Die SPIEGEL- Bände stehen in meiner Bibliothek, vom ersten Jahrgang bis in die sechziger Jahre, im Lauf der Jahrzehnte gesammelt und immer einmal wieder in die Hand genommen.

    Welche Klarheit der Analyse! Welche Wortmacht! Welche Irrtümer freilich auch, was was die Beurteilung der Außenpolitik Adenauers, der Stalin- Note von 1952, des Rapacki- Plans, der Chancen und Risiken einer Wiedervereinigung anging.

    Im Unterschied zu Sebastian Haffner und Jean Daniel, die ihre politische Haltung mehrfach geändert haben, hat Augstein eine geradezu unglaubliche Prinzipientreue gezeigt - von seinem ersten Kommentar im Jahrgang 1947 bis zu seinem letzten Kommentar 2002, also über 55 Jahre hinweg. Er hat Adenauer einmal den "gußeisernen Kanzler" genannt. Er selbst war das noch viel mehr, gußeisern: Ein deutscher Patriot, ein überzeugter Liberaler.



    Er war ein deutscher Patriot.

    Er hat Adenauers Politik der Westintegration bekämpft, weil er sah, daß sie die Wiedervereinigung auf Jahrzehnte blockieren würde. Er hat - im öffentlichen, im SPIEGEL ausgetragenen Streit mit seinem Chefredakeur Böhme - sofort für die Wiedervereinigung plädiert, als sie sich 1989 als Möglichkeit eröffnete.

    Er hat in seinen Kommentaren wieder und wieder die deutsche Interessenlage analysiert und sie gegen hegemoniale Bestrebungen verteidigt, sei es von Seiten der Franzosen, der Briten, der Amerikaner oder der Sowjets.

    Augstein, der von Friedrich II und von Bismarck Faszinierte, hat immer das Kräftespiel der Nationen gesehen, nicht zwei monolithische Blöcke, wie das in der alten Bundesrepublik viele taten. Er wollte die Aussöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern, aber als gleichberechtigter Partner.

    Er wurde freilich, wie so viele Patrioten, von seinem Patriotismus zu unrealistischen Urteilen verführt. Seine Hoffnung, in einem zu sowjetischen Bedingungen wiedervereinigten, neutralisierten und also von den USA nicht mehr geschützten Deutschland würde der demokratische Rechtsstaat weiter bestehen können, ein solcher Staat würde dem übermächtigen Druck der an seinen Grenzen stehenden Sowjetmacht standhalten können, war naiv.

    Augstein war aber, mit seinem analytischen Verstand, auch Realist genug, frühere Irrtümer einzusehen.

    Er hat am Ende wohl stillschweigend zugestanden, daß Adenauers Politik richtig gewesen war.

    Er hat, trotz seiner Abneigung gegen den Kommunismus, die sozialliberale Ostpolitik befürwortet, ja sie publizistisch vorbereitet.

    Er hat, trotz seines Patriotismus, immer vor einer Überschätzung der deutschen Möglichkeiten gewarnt.



    Augstein war ein überzeugter Antikommunist.

    Kein Blatt hat so umfassend über die Mißstände in der SBZ und später der DDR berichtet wie der SPIEGEL. Der erste SBZ- Korrespondent, Hans Holl, war im antikommunistischen Widerstand aktiv und mußte fliehen, um der Verhaftung zuvorzukommen.

    Mehrere SPIEGEL- Korrspondenten haben später in der DDR den Widerstand gegen den Kommunismus in verschiedener Weise unterstützt, was scharfe Reaktionen der Kommunisten nach sich zog. Zeitweilig war der SPIEGEL deshalb in der DDR gar nicht durch einen offiziellen Korrespondenten vertreten.

    In einer seiner "Lieber Spiegelleser!"-Kolumnen beschrieb Augstein einmal ein langes Gespräch mit dem brillanten kommunistischen Intellektuellen Wolfgang Harich. Und meinte dazu, am Ende des Gesprächs habe er gedacht: Wie kann ein so intelligenter Mensch nur Marxist sein. Und Harich, meinte Augstein, werde gedacht haben: Wie kann ein so intelligenter Mensch nur kein Marxist sein. (Ich zitiere das aus der Erinnerung; so wie alles, was ich in diesem Beitrag schreibe, aus der Erinnerung wiedergegeben ist).



    Er war ein in der Wolle gefärbter Liberaler.

    Er war liberal, was seine Redaktion anging. Es ist eine Legende, daß die SPIEGEL-Reaktion generell "links" sei oder gewesen sei. Es gab von Anfang an konservative Leitende Redakteure wie Leo Brawandt, Hans Dieter Jaene, Dr. Horst Mahnke und Georg Wolff. Die Chefredakteure Becker, Jacobi, Engel standen alle eher rechts als links von der Mitte.

    Als Anfang der siebziger Jahre eine Redakteursgruppe um Hermann L. Gremliza, Dr. Bodo Zeuner und Dr. Alexander von Hoffmann den SPIEGEL in ein linkes Gesinnungsblatt umzufunktionieren versuchte, hat Augstein sie gefeuert.

    Augstein war liberal in seinem unbeugsamen Eintreten für den demokratischen Rechtsstaat. Daraus resultierte sein Konflikt mit Strauß, den er anfangs geschätzt hatte und den der SPIEGEL in der erste Titelgeschichte über ihn (Titelbild: Die berühmten Zeichnung von Artzybasheff, auf der sich der Bayernhut über Strauß allmählich in einen Stahlhelm verwandelt) ausgesprochen positiv dargestellt hatte.

    Als Augstein erkannte, daß Strauß ein unberechenbarer Machtmensch war, hat er ihn zu bekämpfen begonnen. Die Fama will es, daß Augstein diese Erkenntnis bei einem gemeinsamen Saufgelage kam, in dem er den wahren Strauß kennenlernte, oder kennenzulernen vermeinte.

    Augstein blieb der FDP als Mitglied treu, auch wenn er sie oft attackierte und manchmal ihr "Totenglöcklein" hat läuten hören. Kurz saß er für die FDP sogar im Bundestag, aber er erkannte sehr schnell, daß er nicht zum Parlamentarier taugte, und er nutzte die erste Gelegenheit - man kann auch sagen, den ersten Vorwand- , sein Mandat niederzulegen und wieder Vollzeit- Journalist zu werden.



    Er war eine intellektuell und charakterlich gleichermaßen beeindruckende Persönlichkeit.

    Er war ein auch über Politik und Geschichte hinaus kenntnisreicher, übrigens auch ausgesprochen musikalischer Mensch. Vor allem ein ehrlicher, wie die meisten Skeptiker.

    Ich habe in den Jahrzehnten, seit ich den SPIEGEL lese, niemals den Eindruck gehabt, daß er etwas aus taktischen oder sonstigen sachfremden Überlegungen geschrieben hat.

    Alle Biographen beschreiben ihn als einen, der sagt, was er denkt. Ein gerader Charakter, der Taktieren und Finassieren gar nicht nötig hat, weil er mit seiner Persönlichkeit das, was er will, auch auf ehrliche Art durchsetzen kann. Das freilich sehr erfolgreich.



    Er war ein Schöngeist und ein Machtmensch.

    Er war ein Intellektueller, der in seiner Jugend Lyrik und ein Theaterstück verfaßt hat. Er war aber auch machtbewußt; und wie!

    Er hat nicht nur linke Putschisten ohne viel Federlesens gefeuert, sondern ebenso seinen Chefredakteur Dr. Werner Funk, als dieser versuchte, Augsteins Macht auszuhebeln. Er hat in der SPIEGEL- Affäre wenige Stunden nach seiner Festsetzung ein Notprogramm für das Weitererscheinen des SPIEGEL auf die Beine gestellt.

    Er hat alle Prozesse, von denen der SPIEGEL die meisten übrigens gewonnen hat, ohne Nachgeben durchgestanden.

    Die Zeit der Studentenrevolution hat er souverän überstanden - indem er bereitwillig, aber unerbittlich mit deren Wortführern diskutierte; indem er im eigenen Haus durch die Schenkung an die Mitarbeiter, die das einzigartige Mitbeteiligungsmodell des SPIEGEL begründete, allen Rufen nach einer "Demokratisierung" zugleich entsprochen und ihnen den Wind aus den Segeln genommen hat.



    Er war ein souveräner Mensch.

    Das für mich Eindrucksvollste an der Persönlichkeit von Augstein war seine völlige Unfähigkeit, nachtragend zu sein.

    Er hat sich mit Strauß versöhnen wollen, obwohl dieser versucht hatte, ihn ins Gefängnis zu bringen und den SPIEGEL zu vernichten.

    Er hat sich mit Adenauer versöhnt (der das seinerseits erwidert hat, am Ende seines Lebens).

    Er hat versucht, sich mit Kohl zu versöhnen. Mit einem Kommentar "Glückwunsch, Kanzler", in dem er ihn geradezu enthusiastisch für seine Leistungen bei der Wiedervereinigung lobte (bei Kohl freilich ohne Widerhall).



    Er war ein Skeptiker und ein Träumer.

    Augsteins Hauptschwäche war vielleicht, bei aller seiner Skepsis und seinem Zynismus, ein gewisses Wunschdenken.

    Er glaubte, die diversen sowjetischen Lockungen zur deutschen Wiedervereinigung in den fünfziger Jahren könnten eine Chance bieten.

    Er glaubte an die überzeugende Macht des freiheitlichen Rechtsstaats und hat die Niedrigkeit und Intriganz der meisten Politiker wohl unterschätzt. Er hat einmal gesagt, erst in seiner kurzen Zeit als FDP- Kandidat und dann im Bundestag sei er dahinter gekommen, wie es in den Parteien tatsächlich zugeht.

    Er war ein Moralist, und wie viele Moralisten, die mit der Wirklichkeit zusammenstoßen, neigte er zum Zynismus.



    Dies ist die überarbeitete Fassung eines Nachrufs auf Rudolf Augstein, den ich in der Nacht nach seinem Tod am 7. November 2002 in Infotalk geschrieben habe. Der Text ist stilistisch verbessert und hier und da ergänzt und korrigiert. Den lobenden Ton, der sich aus diesem Anlaß ergab, habe ich aber so gelassen.

    4. Januar 2007

    Rückblick: Diktaturen morden

    Der mysteriöse Tod des deutschen Studenten Bernhard Wilden in Peking, über den hier am 25. Dezember berichtet wurde, scheint jetzt doch noch öffentliche Beachtung zu finden.

    Nachdem zunächst der Kölner Stadtanzeiger am 30. Dezember ausführlich berichtet hatte (siehe auch meinen Kommentar dazu), hat heute der katholische Nachrichtendienst kath.net eine detaillierte Meldung gebracht.

    Weiter ist auf einen längeren Bericht des chinakritischen Nachrichtendiensts China intern hinzuweisen. Er gilt als Falun Gong nahestehend und ist insofern sicher nicht unparteilich. Dennoch enthält der Artikel meines Erachtens interessante Informationen über die möglichen Hintergrunde und überhaupt über die Macht und die Vorgehensweisen der chinesischen Geheimdienste.

    Wer sich für diesen Fall interessiert, findet aktuelle Information in dem Forum Infotalk, das von der Mutter Bernhard Wildens betrieben wird.



    In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf den Beitrag "Mord am Fließband" in B.L.O.G. aufmerksam machen, der sich mit der jüngsten Hinrichtungswelle in China beschäftigt.

    Insgesamt scheinen die chinesischen Kommunisten gegenwärtig wieder brutaler gegen Andersdenkende vorzugehen. Dazu paßt diese Meldung von China Aid über Vorgehen gegen Christen in den Tagen vor Weihnachten. Auch diese Meldung muß sicherlich kritisch gelesen werden. Aber ein Zusammenhang mit dem Tod von Bernhard Wilden ist wohl leider nicht auszuschließen.

    Rückblick: Verschwörungstheorien

    Hier hat es im August und September 2006 eine kleine Serie über Verschwörungstheorien gegeben; Links zu den einzelnen Folgen der Serie findet man in "Zettels kleinem Zimmer". Ergänzend dazu möchte ich jetzt auf dieses Interview mit dem Journalisten und Buchautor Tobias Jaecker aufmerksam machen, auf das ich wiederum durch Ex-Blond aufmerksam geworden bin.

    Jaecker befaßt sich besonders mit antisemitischen Verschwörungstheorien. Aber andere, vor allem die antiamerikanischen, funktionieren wohl sehr ähnlich.

    Marginalie: Putins zweites Bein

    In der heutigen FAZ beschreibt Reinhard Veser die Vorbereitungen in Rußland auf die kommenden Parlamentswahlen. Zahlreiche Parteien werden gar nicht erst zugelassen werden. Dafür entstehen neue - Putin ist augenscheinlich dabei, sich auch gleich seine eigene Opposition zu schaffen. Aus dem Artikel:
    ... so ist als Ergänzung zum nach eigener Darstellung rechtszentristischen „Einigen Russland“ Ende Oktober die Mitte-links-Partei "Gerechtes Russland" gegründet worden. Präsident Putin wünschte der aus drei Parteien fusionierten neuen Kraft Erfolg und sah in ihrer Entstehung einen Beweis für die "schöpferische Kraft" der russischen Gesellschaft. Viele Beobachter sahen darin allerdings eher einen Beleg für die schöpferischen Fähigkeiten der Präsidialverwaltung, denn deren Ideologe und stellvertretender Chef Wladyslaw Surkow hatte die Bildung der drei Parteien intensiv betreut. Ende März hatte er vor Mitgliedern einer der damals noch drei unbedeutenden Parteien gesagt, das Parteiensystem brauche ein "zweites Bein", um stabil zu werden.



    Kommentar: Es ist schon verblüffend, wie souverän Putin mit dem Instrumentarium klassischer kommunistischer Taktik spielt. Dazu gehört immer auch die Gründung von Parteien, die scheinbar unabhängig sind.

    So wurde in der Sowjetischen Besatzungszone 1948 die NDPD gegründet - scheinbar von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und Offizieren, die sich zu Sozialisten geläutert hatten; in Wahrheit von der SED. Gründungsvorsitzender war Lothar Bolz, seit 1929 KPD-Mitglied und späterer Außenminister der DDR.

    Gerade lese ich das sehr instruktive Buch von Bettina Röhl "So macht Kommunismus Spaß". (Ich werde auf dieses Buch noch ausführlich eingehen). Dort erfährt man unter anderem, wie man in Ostberlin 1961 beschloß, die DFU zu gründen, die zeitweise unter Linksintellektuellen sehr populäre "Deutsche Friedensunion".

    Daß sie gute Kontakte zu den Kommunisten hatte, vermutete man auch damals schon. Daß sie schlicht eine kommunistische Gründung war, hat mich aber doch verblüfft.

    Und wenn man nicht gleich gründet, dann benennt man eben um. So wurde aus der KPD die SED, dann die DKP, dann die PDS, heute die Linkspartei. Vielfalt vortäuschen und im Hintergrund die Fäden ziehen, die Kontrolle behalten - das hat schon Lenin perfekt beherrscht.



    Gewiß ist Putin kein Kommunist mehr, was die marxistischen Glaubensinhalte angeht. Aber die Methoden, die die Kommunisten seit Lenin entwickelt haben, um als Minderheit die Mehrheit zu kontrollieren und dies als Demokratie darzustellen - die scheint er immer noch perfekt zu beherrschen.

    3. Januar 2007

    Ketzereien zum Irak (4): Gibt es im Irak einen Bürgerkrieg?

    Ob sich der Irak "im Bürgerkrieg" befindet, das ist nicht objektiv zu entscheiden. "Bürgerkrieg" ist kein definierter Begriff. Oder genauer: Man kann sich natürlich Definitionen ausdenken. Man kann irgendeine Definition wählen, aber es gibt auf dem Kontinuum zwischen Anschlägen einzelner Terroristen und ausgedehnter Gewalt keinen offensichtlichen Punkt, wo der Nicht- Bürgerkrieg in den Bürgerkrieg umschlägt.

    Es gab in der Neueren Geschichte gewaltsame innere Konflikte, die man Bürgerkriege nannte - den Spanischen Bürgerkrieg vor allem, zuvor den Krieg zwischen den Roten und den Weißen nach der Oktoberrevolution, später den Vietnamkrieg. Aber sie so zu benennen oder gar sich darüber zu streiten, was sie denn nun zu Bürgerkriegen gemacht hat und andere gewaltsame interne Konflikte nicht - das ist müßig; es bringt keinen Erkenntnisgewinn.



    Wie hilflos Versuche sind, einen Punkt zu finden, von dem an gewaltsame innere Konflkte zum "Bürgerkrieg" werden, ist an dem Artikel "Civil War" in der Wikipedia abzulesen. Dort wird behauptet, "Politologen" (alle? einige?) würden zwei Kriterien benutzen: Erstens Kampf um dasselbe politische Zentrum, Kontrolle über einen separatistischen Staat oder Kampf mit dem Ziel, eine grundlegende politische Änderung herbeizuführen. Und zweitens mindestens tausend Tote, davon mindestens hundert auf jeder Seite.

    Das erste Kriterium ist trivial, denn es grenzt den Bürgerkrieg nur vom Krieg zwischen Staaten ab. Das zweite ist arbiträr. Nicht nur, weil man sich fragt, warum denn gerade tausend und nicht neunhundert oder 4213. Sondern auch, weil ein Aufstand mit tausend Toten in irgendeiner Provinz Chinas gewiß nicht die staatliche Ordnung gefährden würde, während tausend Tote in Grenada mit seinen 98000 Bürgern schon so etwas wie das Ergebnis eines all-out war, eines allgemeinen Gemetzels, wären.



    "Bürgerkrieg" ist, so scheint es mir, ein fragwürdiges wissenschaftliches Konzept. Aber es ist ein beliebter politischer Kampfbegriff.

    Meist wird der Begriff von einer der interessierten Seiten verwendet, um damit eine bestimmte Sichtweise auf einen Konflikt zu befördern. Zum Beispiel, um Terroristen als "Bürgerkriegspartei" politisch aufzuwerten und/oder, um die legitime Regierung zu nur noch einer "Bürgerkriegspartei" herabzustufen. Um also den Staat mit den jeweiligen Aufständischen, Rebellen, kriminellen Banden auf eine Stufe zu stellen.

    In diesem Sinn wurde bereits der Terrorismus einiger Dutzend Kommunisten der Baader- Meinhof- Bande als "Bürgerkrieg" bezeichnet; hier zum Beispiel.

    Da war deren Ziel zwar etwas sehr kühn vorweggenommen. Aber die erklärte Absicht der der Baader- Meinhof- Bande war es in der Tat gewesen, Deutschland in einen blutigen Bürgerkrieg zu stürzen. Wer schon die Anfänge als einen Bürgerkrieg bezeichnete, der wollte damit dieses Vorhaben in seiner Bedeutung heben; sei es, um es zu unterstützen, sei es, um vor seinem möglichen Erfolg zu warnen.



    Ergo: Wenn von "Bürgerkrieg" die Rede ist, dann sollte man weniger fragen, ob das in irgendeinem wissenschaftlichen Sinn zutrifft, sondern welche Absicht denn diejenigen verfolgen, die mit diesem Begriff operieren.

    In einem Beitrag in den Gulf News ist kürzlich Amir Taheri, von dem ich hier schon einmal einen Beitrag kommentiert habe, der Frage nachgegangen, wem es denn nütze, daß immer wieder von einem Bürgerkrieg im Irak gesprochen werde.

    Unter der Überschrift "There is no civil war in Iraq" argumentiert Taheri:
  • Die Rede vom Bürgerkrieg nützt der El Kaida. Diese besteht überwiegend aus Nicht- Irakern. Als "Bürgerkriegspartei" wird ihr eine Schein- Legitimität zugeschrieben.

  • Zweitens nützt sie den Überresten des Saddam- Regimes, indem sie auch ihnen eine gewisse Legitimität verleiht. Tatsächlich aber haben die verbliebenen Saddamisten nicht einmal mehr eine Basis unter den Mitgliedern der ehemaligen Baath- Partei. (Anmerkung von Zettel: Dies wird auch durch die Proteste gegen Saddams Hinrichtung bestätigt, die sich im Irak bisher im wesentlich auf seinen Heimat- Clan in Tikrit und auf allenfalls ein paar Tausend Anhänger anderswo beschränken).

  • Aus demselben Grund dient die Rede vom Bürgerkrieg den diversen Milizen, oft mehr kriminelle Gangs, und den konfessionellen Fanatikern.

  • Im Westen ist sie Wasser auf die Mühlen der "Imperialismus"- Theoretiker. Zum einen derjeniger, die Staaten wie den Irak immer schon für unfähig zur Selbstregierung erklärt haben. Die anderen, schreibt Taheri, seien diejenigen, die immer schon den Westen ("Kolonialismus", "Imperialismus") für alles Elend der Welt verantwortlich gemacht haben, und die auch die jetzigen Schwierigkeiten im Irak nicht den dortigen Politikern zuschreiben, sondern der US-geführten Invasion.


  • Im zweiten Teil seines Artikels weist Taheri darauf hin, daß niemand von denen, die von "Bürgerkrieg" sprechen, klar sagt, wer denn eigentlich die beiden Seiten in diesem angeblichen Bürgerkrieg sind, wofür sie jeweils kämpfen und auf welcher Seite eigentlich diejenigen stehen, die vom Bürgerkrieg sprechen.

    Abschließend hier Tahirs eigene Lagebeurteilung, mit meiner Übersetzung:
    The fact, however, is that, right now, Iraq is not in civil war. Rather, it is a victim of foreign aggression combined with internal sectarian violence, revenge tactics and outright criminal activities. This does not mean that Iraq could not slide into civil war. There are conflicting visions for the new Iraq - visions as mutually exclusive as those that led to other civil wars, notably in Spain. For the time being, however, the overwhelming majority of those who support those rival visions prefer to fight for them within the constitution and its still fragile institutions.

    Tatsache ist jedoch, daß sich im Augenblick der Irak nicht im Bürgerkrieg befindet. Er ist vielmehr das Opfer ausländischer Aggression und innerer konfessioneller Gewalt, von Rachetaktiken und gewöhnlicher Kriminalität. Das heißt nicht, daß der Irak nicht in einen Bürgerkrieg hineinschlittern könnte. Es gibt einander widersprechende Visionen für den neuen Irak - Visionen, die sich ebenso gegenseitig ausschließen wie diejenigen, die zu früheren Bürgerkriegen führten, vor allem in Spanien. Vorerst jedoch kämpft die überwältigende Mehrheit derer, die diese rivalisierenden Visionen vertreten, lieber innerhalb der Verfassung und ihrer noch zerbrechlichen Institutionen für sie.


    Da ich jetzt schon zum zweiten Mal auf einen Artikel von Amir Taheri hinweise, hier noch etwas zu dessen Person:

    Er ist gebürtiger Iraner und studierte in Teheran, London und Paris.

    Vor dem Khomeni- Umsturz war er Chefredakteur der größten iranischen Tageszeitung, Kayhan.

    Nach seiner Emigration war er von 1980 bis 1987 Nahost-Redakteur der Londoner Sunday Times und schrieb u.a. für die Londoner Times, den Daily Telegraph, den Guardian und die Daily Mail.

    Von 1984 bis 1987 war er Chefredakteur von Jeune Afrique, dem größten französischsprachigen Nachrichtenmagazin für Afrika.

    Seither schreibt er für zahlreiche internationale Zeitungen und Zeitschriften, die man in dem verlinkten Lebenslauf aufgezählt findet.



    Ich erwähne diese persönlichen Daten zum einen, um zu begründen, warum mir Taheri eine seriöse Quelle zu sein scheint. Zum anderen illustriert seine Vita das Schicksal vieler Intellektueller, die vor Diktaturen fliehen mußten. Chefredakteur einer iranischen Zeitung, Redakteur eines britischen Blattes, Chefredakteur einer französischsprachigen Zeitung, Autor arabischer, amerikanischer, europäischer Blätter - das ist der moderne Ahasver, den diese Diktaturen hervorbringen.

    Schäuble, Kant und das Trolley-Problem

    Der Bundesinnenminister bleibt hartnäckig: Er wird, so hat er in einem Interview mit der SZ angekündigt, versuchen, trotz der Entscheidung des BVerfG doch noch eine gesetzliche Regelung der Situation herbeizuführen, daß ein von Terroristen gekapertes Flugzeug auf dem Weg dazu ist, ein schweres Unglück herbeizuführen, und daß nur dessen Abschuß das verhindern kann. (Er hat dabei wohl nicht nur den Angriff auf ein Bürozentrum im Auge, sondern den auf ein Atomkraftwerk).

    Die juristische Brücke, oder vielleicht Krücke, die Schäuble benutzen möchte, ist der "Quasi-Verteidigungsfall", der für eine solche Situation gelten soll.

    Die Brücke muß gezimmert, die Krücke unter die Achsel geklemmt werden, weil das Bundesverfassungsgericht den direkten Weg versperrt, weil es den geraden Gang untersagt hatte. Artikel 1 des Grundgesetzes, so sagt das BVerfG ganz kantianisch, verbiete es, Menschen zu opfern, um andere Menschen zu retten. Punktum.

    Kantianisch ist das konsequent, ja zwingend gedacht, gewiß: "Der Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muß bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden", so hat es Kant rigoros in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" formuliert; und ich habe das hier schon einmal zitiert, zustimmend.



    Aber mit Kants Moral ist das so eine Sache. Sie ist makellos. Indes manchmal nur, solange man sie nicht in der schmutzigen Welt anwendet.

    Im Grunde formuliert sie ja nur, getreu Kants ganzem Ansatz, notwendige Voraussetzungen moralischen Handelns, so wie seine Erkenntnistheorie die Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens analysiert.

    Aber wenn man von den Voraussetzungen zu den Konsequenzen fortschreitet, dann kann sie sehr Bedenkliches hervorbringen, die Kant'sche Moral. Auch wenn man wisse, daß morgen die Welt untergeht, müsse ein zum Tode Verurteilter heute noch hingerichtet werden, so ähnlich hat er es geschrieben. Makellos gedacht, konsequent gedacht, denn der Vollzug der Gerechtigkeit ergibt sich aus der Gerechtigkeit des Urteils, nicht aus den Folgen und Umständen der Realisierung.

    Und das BVerfG, das mit seiner Interpretation des Paragraphen 1 GG getreulich Kant folgt, ist ähnlich konsequent. Denn es impliziert ja mit seiner Entscheidung:

    Auch wenn Terroristen ein Sportflugzeug mit, sagen wir, fünf Passagieren gekapert haben, dies mit einer mitgebrachten Bombe beladen haben und nun eindeutig auf ein AKW zufliegen, dessen GAU Hunderttausenden das Leben kosten kann - auch dann ist die Regierung gesetzlich verpflichtet, die Hunderttausende zu opfern. Sie darf den Befehl nicht erteilen, die fünf zu opfern, denn sie würde damit deren Menschenwürde verletzen, sie als Mittel zum Zweck einsetzen.



    Und was ist mit der Menschenwürde der Hunderttausend, die ums Leben kommen? Nun, in zynischer Interpretation der Position des BVerfG könnte man sagen: Sie verlieren ja nur ihr Leben, aber nicht ihre Menschenwürde. Jedenfalls die Regierung hat sie nicht als Mittel zum Zweck eingesetzt.



    Absurd? Ja. Oder sagen wir: Ein Paradox, ein Dilemma. Denn das, worum es hier in einer aktuellen politischen Diskussion geht, ist ein Problem, das in der Philosophie seit langem diskutiert wird, das sogenannte Trolley-Problem.

    In der Standard-Version, wie sie von Phillipa Foot formuliert wurde, nähert sich ein Schienenfahrzeug einer Weiche. Die Weiche ist so gestellt, daß das Fahrzeug auf fünf Menschen treffen und sie töten wird, die von einem Verbrecher an die Schienen gebunden sind.

    Nun stellen Sie sich vor: Sie sind der Weichensteller und könnten die Weiche so stellen, daß der Zug auf ein anderes Gleis fährt. Dort liegt allerdings auch ein Mensch, aber nur ein einziger, der an die Schienen gefesselt ist. Stellen Sie die Weiche um?

    Die meisten Menschen sagen spontan "ja".



    Nun kann man das moralische Dilemma verschärfen, wie es Judith Jarvis Thomson gemacht hat: Das Fahrzeug nähert sich den Festgebundenen. Diesmal gibt es keine Weiche, aber eine Brücke, auf der ein sehr dicker Mann steht. Man könnte ihn auf die Schiene stoßen, dann würde das Fahrzeug gestoppt, und die fünf wären gerettet.

    Soll man es tun? Jetzt sagen die meisten Befragten: Nein! Das ist, meint Judith Jarvis Thomson, der Unterschied zwischen "töten" und "sterben lassen".

    Wenn man die Weiche umstellt, dann benutzt man keinen Menschen als Mittel zum Zweck. Wenn man den Mann auf die Geleise stößt, dann tut man es aber.



    Wie das bei den Philosophen so ist - sie denken sich in einer solchen Debatte immer raffiniertere Beispiele aus. Was beispielsweise, wenn der dicke Mann auf einem Geleisstück festgebunden ist, auf das man das Schienenfahrzeug durch Umlegen der Weiche leiten könnte? Der dicke Mann stoppt es. Würde es weiterfahren, dann würde es aber auch bei dieser Weichenstellung über eine Schleife schließlich zu den Fünfen gelangen und sie töten.

    Es ist eigentlich Dasselbe wie in der ursprünglichen Version von Foote - nur benutzt man jetzt, wenn man die Weiche umlegt, den dicken Mann als Mittel zum Zweck. So, wie wenn man ihn auf die Geleise stößt. Also, streng kantianisch dürfte man jetzt nichts mehr tun.



    Was folgt daraus für die Gesetzgebung?

    In einer zum Pragmatismus neigenden Gesellschaft wird man sagen: Wer eine solche entsetzliche Verantwortung hat, der wird das einzig Richtige tun - die Entscheidung treffen, die die meisten Menschenleben rettet. Und die Gerichte werden dann schon so vernünftig sein, ihn dafür nicht auch noch zu bestrafen. Auch wenn es dafür nicht eigens ein Gesetz gibt. Sondern man wird einen übergesetzlichen Notstand konstruieren oder dergleichen, und der Betreffende wird einen Orden bekommen statt eine Strafe.

    Aber kantianisch denken, das heißt eben auch, die Gesetze bedingungslos ernstnehmen. Da ist kein Platz für pragmatisches Abwägen. Es ist ja noch nicht so lange her, daß in Deutschland ein Polizist dafür verurteilt wurde, daß er, um das Leben eines Kindes zu retten, einem Verbrecher mit Schmerzen gedroht hat. Auch wenn die Strafe mild ausfiel. Auch der hätte einen Orden und eine Beförderung verdient gehabt, nach pragmatischer Moral. Aber nicht nach kantianischer.



    Also: Lebten wir in einer Rechtskultur wie der angelsächsischen, dann bräuchten wir nicht Schäubles Vorstoß.

    Aber der Gedanke, daß ein Innen- oder Verteidigungsminister oder ein Kanzler, die in einer solchen furchtbaren Situation Menschenleben zu retten versuchen, dafür dann auch noch vor Gericht gestellt und verurteilt werden; mit ihnen vielleicht auch noch die Jagdpiloten, die es auf sich nehmen, das Flugzeug abzuschießen - das ist ein (mir) so unerträglicher Gedanke, daß ich für eine gesetzliche Regelung bin.

    Notfalls über Brücken mit Krücken.

    2. Januar 2007

    Randbemerkung: Mal wieder ein kleines Quiz

    Im August gab es hier schon einmal ein kleines Quiz, in dem zu erraten war, welches von zwei Zitaten aus dem rechtsexremen Informationsdienst Altermedia und welches aus dem linken Informationsdienst Indymedia stammte.

    Heute bin ich auf zwei Zitate gestoßen, die sich für eine Fortsetzung des kleinen Ratespiels anbieten. Es geht um die Hinrichtung Saddam Husseins. Das eine Zitat stammt von der WebSite der NPD, das andere aus der kommunistischen "Jungen Welt". Welches ist welches?



    Zitat A:

    Die USA und die schiitischen Machteliten wollen Saddam Hussein auf schnellstem Weg, unter Umgehung aller rechtsstaatlichen Hindernisse, an den Galgen bringen. (...) Die Bürgerkriegsgefahr wird nicht kleiner werden, der gegenseitigen Lynchjustiz werden nach dem Justizmord keine Grenzen mehr gesetzt sein. Dem Sondertribunal gegen Saddam Hussein und seine engsten Vertrauten werden viele kleine Sondertribunale folgen. Die Verfassung, die im Ergebnis eines illegalen Angriffskrieges unter amerikanischer Federführung ausgearbeitet wurde, ist von ihren Autoren selbst aufgehoben worden. Als Opfer einer Willkürherrschaft steigt Saddam Hussein tatsächlich zum Märtyrer auf.

    Zitat B:

    Wieder einmal üben Vasallen der USA Rache statt Gerechtigkeit. So wurde der frühere Staatspräsident des Irak durch Henker eines US-hörigen Vasallenregimes ermordet. (...) Angesichts der eigenen Kriegsverbrechen, Folterungen und Mißhandlungen an Irakern und deren Verbündeten sind die Alliierten zur Errichtung einer langfristigen Unterdrückung des irakischen Volkes und der arabischen Welt gezwungen weitere Verbrechen und Rechtsbrüche zu begehen, und diese mit ihrer Propaganda als "Befreiungstaten" umzudeuten. Die brutale Vorgehensweise der alliierten Besatzer und ihrer Helfershelfer gegen irakische Kriegs- und Zivilgefangene haben nichts mit der Einführung einer Demokratie zu tun, sondern sind ein Teil der Fortsetzung der Kampfhandlungen gegenüber den wehrlos gemachten Irakern.
    Wer sie sich nicht selbst ergoogeln will, findet die Lösung in Zettels Kleinem Zimmer.

    Rückblick: Die Mutter aller Überraschungen

    Kürzlich habe ich hier auf einen Artikel in Newsweek International aufmerksam gemacht, der den gegenwärtigen wirtschaftlichen Boom im Irak beschreibt - so gar nicht passend zu den Untergangsszenarien, die hier in Deutschland das Bild vom Irak bestimmen.

    Jetzt bin ich auf einen Beitrag von Amir Taheri in der New York Post gestoßen, der sich ebenfalls zum Teil auf den Artikel in Newsweek International stützt und ihn durch weitere Einzelheiten - Taheri berichtet direkt aus dem Irak, aus dem Ort Um Quasr - ergänzt.

    Dieses Dorf im Südosten des Irak, schreibt Taheri, sei vor vier Jahren ein sterbendes Kaff aus rostenden Kais und verlassenen Häusern gewesen, mit nur noch ein paar Dutzend Einwohnern. Heute sei es ein prosperierendes Dorf, in das viele frühere Einwohner zurückgekehrt und in das Hunderte aus dem ganzen Irak neu zugezogen sind.

    Ein Indiz für den Aufschwung: Der irakische Dinar wurde im Lauf des vergangenen Jahrs in Relation zu den drei Währungen, mit denen er konkurriert - dem iranischen Rial, dem kuweitischen Dinar und dem Dollar - ständig aufgewertet. Der steigende Ölpreis allein kann, schreibt Taheri, das nicht erklären, denn davon profitieren der iranische Rial und der kuweitische Dinar ebenso.

    Wesentlich seien unerwartet hohe ausländische Direktinvestitionen, befördert durch die Aussicht auf eine Liberalisierung, wie es sie in der Region nur noch in Dubai und Bahrein gebe. Ein weiterer wichtiger Faktor sei der Zustrom schiitischer Pilger in die heiligen Städte, der unter Saddam Hussein stark eingeschränkt gewesen war, und der viel Geld ins Land bringe.



    Ja, aber was ist mit dem Terrorismus? Most foreign investors coming to make money in Iraq shrug their shoulders. "Doing business in any Arab country is always risky," says a Turkish investor who has set up a trucking company and a taxi service. Die meisten ausländischen Investoren reagieren mit Schulterzucken. Geschäfte in arabischen Ländern seien immer mit Risiko behaftet.

    Ein weiterer Faktor, der den Aufschwung fördert, sind die niedrigen Löhne im Irak. Im Vergleich zu den umliegenden arabischen Ölstaaten - aber nicht im Vergleich mit dem Iran, aus dem schon Wanderarbeiter in den boomenden Irak ziehen.



    Allerdings sei, schreibt Taheri, der Übergang zu einer freien Wirtschaft auch mit Härten für viele verbunden, die bisher vom Staat mehr oder weniger versorgt worden waren. Unter Saddams Sozialismus gab es fast kein freies Unternehmertum, und die wichtigsten Güter - vom Benzin über das Brot bis zum Zucker - wurden vom Staat zu subventionierten Preisen verteilt.



    Ich habe es schon in dem Beitrag geschrieben, auf den der jetzige zurückblickt - warum gelangen solche Meldungen nicht in unsere Medien?

    Daß im Irak gebombt wird, weiß jeder. Das wieder und wieder zu berichten, ist journalistisch so interessant, wie zu berichten, daß es am Nordpol kalt ist. So spannend wie die Berichte in den DDR-Medien über Planerfüllungen, Selbstverpflichtungen und wichtige Reden des Generalsekretärs des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Staatsrats der DDR.

    Aber daß die Wirtschaft des Irak boomt - das ist doch unerwartet, es ist eine wirkliche Nachricht. Lesen die deutschen Journalisten nicht Newsweek, lesen sie nicht die New York Post?

    Oder halten sie deren Meldungen für falsch oder einseitig? Na, dann auf in den Irak, selbst recherchieren und Berichte über die irakische Wirtschaft schreiben, die andere Daten mitteilen. Ich würde mich freuen, sie zu lesen.

    Statt der vierhundertneunzigsten Meldung darüber, daß in Bagdad eine Autobombe gezündet wurde.

    1. Januar 2007

    Meine Blogokugelzone: Ein sehr persönlicher Rückblick auf 2006

    Eine Sphäre ist, mathematisch gesprochen, die Oberfläche einer Kugel. Ein Ausschnitt aus dieser Oberfläche heißt eine Kugelzone.

    Für die Welt der Blogs beginnt sich die Bezeichnung "Blogosphäre" einzubürgern. Das, wozu ich hier ein paar Worte schreiben möchte, ist, exakt benannt, also eine Blogokugelzone; eine Teilmenge der Menge aller Blogs.

    Ein Ausschnitt, dessen Koordinaten man freilich nicht genau angeben kann. Er umfaßt diejenigen Blogs, mit denen ich etwas anfangen kann. Viel genauer geht es eigentlich nicht. Aber gut, ich versuche es: Liberalismus besteht aus meiner Sicht darin, die Welt vernünftig, mit Respekt vor wissenschaftlichen und technischen Leistungen, mit Skepsis, ohne Vorurteile und mit unbedingter Gegnerschaft gegen jede Spielart des Totalitarismus zu betrachten.

    Naja, oder auch nicht. Definitis habe ich immer gehaßt.



    Als ich Anfang Juni 2006 mit diesem Beitrag "Zettels Raum" eröffnet habe, verstand ich vom Bloggen ungefähr so viel wie von der Sprache der Hopi und von der Zubereitung des Borschtsch.

    Ich hatte so gut wie keinen Blog gelesen, wußte nichts von der Blogosphäre. "Gestern wußte ich noch nicht, wie man Inschenör schreibt, und heute bin ich selber einen" - exakt das war meine Verfassung.

    Ich hatte seit ein paar Jahren viel im Web geschrieben, aber nur in Foren; ich hatte sozusagen Web 2.0 noch nicht mental installiert.

    Nun schloß das Forum, in dem ich hauptsächlich geschrieben hatte. Ich aber beschloß, Blogger zu werden.



    Also war ich in einer Situation, die ein Grundthema der Literatur seit Jahrtausenden ist: Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Oder, natürlich, sein Glück zu machen. In dem Beitrag zu Road Movies war dazu kürzlich etwas zu lesen.

    Auf verschlungenen Wegen habe ich allmählich diesen und jenen anderen Blog aus der Kugelzone kennengelernt, und zu meiner Freude haben auch andere nach und nach "Zettels Raum" kennengelernt.

    Und siehe, da waren viele, die politisch weitgehend dachten wie ich; mit denen die Übereinstimmungen jedenfalls groß war. Mit denen ich mich, glaube ich, auch außerhalb des Politischen verständigen kann, wie zum Beispiel mit Metalust und Subdiskurse, was sozusagen für mich die linke Kante meiner Blogokugelzone markiert. So, wie Politically Incorrect die rechte.



    Daß es diese Kugelzone gab, das war mir entgangen gewesen. Ich hatte in rechten und linken Foren geschrieben; dort meine liberale Position sozusagen provokativ ausbreitend.

    Ich leugne nicht, daß mir das sehr gefallen hat und daß ich gern provoziert habe. Nur war das auf die Dauer etwas anstrengend und wurde auch langweilig und unfruchtbar. Es war ein paar Jahre gut so gewesen, aber ich mochte eigentlich nicht mehr.



    Nun gut, ich habe also nun diese liberalkonservative Kugelzone peu à peu kennengelernt. Und ich freue mich, daß "Zettels Raum" dort allmählich beachtet wurde.

    Es gab immer dann einen sehr sichtbaren Zuwachs der Besucherzahlen, wenn jemand aus der Kugelzone auf "Zettels Raum" aufmerksam gemacht hatte. Dreien dieser Blogs habe ich besonders viel zu verdanken: Dem Augenzuppler, der jetzt als Philolog oder so ähnlich weitergeführt wird, den Bissigen Liberalen von B.L.O.G. und Statler und Waldorf.



    Weil das "Zettels Raum" so sehr geholfen hat, möchte ich jetzt umgekehrt in diesem Jahr in gelegentlichen Beiträgen unter der Überschrift: "Aufgemerkt" auf Blogs aus der Kugelzone aufmerksam machen, die meines Erachtens noch nicht so beachtet werden, wie sie es verdient haben.

    Heute mache ich den Anfang mit Ex-Blond, einem sehr schön gestalteten, vor allem aber gut geschriebenen, mir ausgesprochen sympathischen Blog, den ich gerade in meine Linkliste aufgenommen habe.



    Was diese Linkliste angeht: Kürzlich hat mir jemand, den ich sehr schätze, geschrieben "Deine Blogroll finde ich auch einigermaßen spannend, aber dazu schreibe ich vielleicht noch eine separate Mail ;-)".

    Auf die ich gespannt warte. Aber ich ahne die mahnenden Worte, die darin stehen werden. Deshalb dazu eine kleine Anmerkung:

    Wenn ich jemanden verlinke, dann heißt das nicht, daß ich mit dem betreffenden Blog im einzelnen übereinstimme. Aber doch in der freiheitlichen Grundhaltung.

    Die Kugelzone, der ich mich zugehörig fühle, reicht von denjenigen, die die Freiheit vor allem gegen die aktuelle Spielart des Totalitarismus, den Islamismus, verteidigen, bis zu denjenigen, denen die Freiheit vor staatlicher Bevormundung am wichtigsten ist, oder die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung. Oder vielleicht die Freiheit der sexuellen Lebensgestaltung, oder sonst des Life Style.



    Für mich, als jemanden mit politischen Erfahrungen, die in die sechziger Jahre zurückreichen, steht allerdings nach wie vor auch der Kampf gegen den Kommunismus und gegen den Nazismus im Vordergrund.

    Gewiß ist der Islamismus im Augenblick lauter und wirksamer. Aber auch die beiden anderen Schöße sind noch fruchtbar.
    Mit einem geradezu absurd geringen Medienecho findet im Augenblick in Venezuela der Übergang zur Diktatur des Proletariats statt.
    In China ist die kommunistische Dikatur alles andere als am Ende.
    Und die Nazis mögen zwar geringe Chancen haben, jemals wieder irgendwo die Staatsmacht zu erobern - aber ihre Ideologie verschmilzt ja immer mehr mit derjenigen der beiden anderen Spielarten des Totalitarismus. Ob Chávez nun ein sozialistischer Nationalist oder ein Nationalsozialist ist - was macht das für einen Unterschied? Ist Ahmadinedschad mehr Islamist oder mehr Nationalsozialist?

    Der Nationalsozialismus hat sich gewandelt, er hat sich mit den anderen Spielarten des Totalitarismus amalgamiert. Aber sein Grundgedanke, daß jedes Volk das Recht hat, jedes andere Volk zu vernichten, daß eine siegreiche politische Bewegung das Recht hat, Andersdenkende und Andersartige brutal zu vernichten, ist ja noch nicht am Ende.



    Aus meiner Sicht ist der Sieg des Kapitalismus, der Demokratie und des liberalen Rechtsstaats in diesem Jahrhundert, das sich nun schon dem Ende seines ersten Jahrzehnts nähert, zwar wahrscheinlich, aber noch keineswegs sicher.