2. Februar 2008

Ketzereien zum Irak (27): Niemand soll sagen, er habe es nicht gewußt

Der Irak ist entgegen dem, worauf noch vor einem halben Jahr fast jeder gewettet hätte, kein zentrales Thema des amerikanischen Wahlkampfs. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Statt des irakischen Bürgerkriegs, den in der ersten Hälfte 2007 viele in den USA und fast alle in Deutschland heraufziehen, wenn nicht gar schon stattfinden sahen, hat es im Irak eine Wende zum Besseren gegeben.

Ich habe im Juni über die ersten Anzeichen für diese Wende berichtet, als in Deutschland die meisten noch überzeugt waren, daß die amerikanische Niederlage unabwendbar geworden sei. Wie es allmählich immer besser wurde, kann man in den Folgen 14 bis 24 dieser Serie nachlesen.

Nun also spricht niemand mehr von einem Bürgerkrieg oder einer bevorstehenden Niederlage der USA, Gott sei Dank. Aber so ganz können und wollen es die Wahlkämpfer in den USA natürlich doch nicht außen vor lassen, dieses Thema, das noch vor einem Jahr die Nation fast zerrissen hätte.

Die Republikaner Mitt Romney und John McCain haben vor ein paar Tagen das Thema Irak sogar fast in den Mittelpunkt einer Debatte gerückt; freilich weniger im Hinblick darauf, was nach den Wahlen der gewählte Präsident tun solle, als mit Blick darauf, wie sich die beiden damals, im Frühjahr 2007 verhalten und geäußert hatten, als die Irak- Politik auf der Kippe stand; als McCain den Plan für einen Surge vortrug, während zugleich mitten in dieser schwierigsten Phase des Kriegs viele Demokraten forderten, einen Zeitplan für den alsbaldigen Rückzug festzulegen.



Und was wollen sie heute, die beiden demokratischen Kandidaten Obama und Clinton? Man kann es in dem Transskript der vorgestrigen Diskussion nachlesen, das CNN zur Verfügung stellt.

Obama sagt, wie immer, nichts Genaues, dieses freilich mit Entschlossenheit: "... I want to end the mindset that got us into war in the first place. That's the kind of leadership I'm going to provide as president of the United States." Er wolle die Geisteshaltung beenden, die die USA überhaupt erst in diesen Krieg gebracht habe. Das sei die Art von Führung, die er als Präsident der Vereinigten Staaten dem Land geben werde.

Ja, er wolle einen Zeitpunkt für den Abzug festsetzen, sagte er an anderer Stelle. Aber mehr als dieses Wollen war ihm nicht zu entlocken, schon gar nicht eine zeitliche Größenordnung. (Früher einmal hatte er von einem Abzug binnen 16 Monaten gesprochen).

Clinton war - auch das wie immer - präziser. Was sie sagte, war allerdings, just wegen dieser Präzision, erschreckend.

Sie sagte nämlich unverblümt, um wessen Schicksal die USA sich bei dem von ihr beabsichtigten Rückzug, der binnen sechzig Tagen nach Amtsantritt beginnen soll, kümmern würden. Sie ließ damit auch stillschweigend erkennen, wen sie, falls sie Präsidentin wird, seinem Schicksal überlassen will. Nämlich fast die gesamte Bevölkerung des Irak.

Hier sind einige Zitate; ich empfehle, die ganze Passage des verlinkten Transskripts zu lesen:
So I've said that I will ask the Joint Chiefs and the secretary of defense and my security advisers the very first day I'm president, to begin to draw up such a plan so that we can withdraw.

But I just want to be very clear with people, that it's not only bringing our young men and women and our equipment out, which is dangerous. (...) We have to think about what we're going to do with the more than 100,000 Americans civilians who are there, working for the embassy, working for businesses, working for charities.

And I also believe we've got to figure out what to do with the Iraqis who sided with us. You know, a lot of the drivers and translators saved so many of our young men and women's lives, and I don't think we can walk out on them without having some plan as to how to take care of those who are targeted. At the same time, we have got to tell the Iraqi government there is no -- there is no more time. They are out of time. They have got to make the tough decisions they have avoided making. They have got to take responsibility for their own country.

Also, ich habe gesagt, daß ich den Oberbefehlshabern der Streitkräfte und dem Verteidigungsminister und meinen Sicherheitsberatern am allerersten Tag, an dem ich Präsidentin bin, den Auftrag erteilen werde, mit der Erstellung eines solchen Plans zu beginnen, so daß wir abziehen können.

Aber ich möchte mich den Leuten gegenüber sehr klar ausdrücken, daß es nicht nur darum geht, unsere Männer und Frauen und unsere Ausrüstung heraus zu bekommen, was gefährlich ist. (...) Wir müssen überlegen, was wir mit den mehr als 100.000 amerikanischen Zivilisten machen, die dort sind und für die Botschaft arbeiten, geschäftlich dort arbeiten, für Wohltätigkeits- Organisationen arbeiten.

Und ich glaube auch, daß wir uns überlegen müssen, was wir mit den Irakern machen, die sich auf unsere Seite stellten. Sehen Sie, eine Menge der Fahrer und Dolmetscher haben so vielen unserer jungen Männer und Frauen das Leben gerettet, und ich glaube nicht, daß wir sie sitzenlassen können, ohne daß wir einen Plan haben, wie wir uns um diejenigen kümmern, die zu Zielobjekten werden. Zugleich müssen wir der irakischen Regierung klarmachen, daß kein -- daß es keine Zeit mehr gibt. Sie haben keine Zeit. Sie müssen die harten Entscheidungen treffen, die zu treffen sie vermieden haben. Sie müssen Verantwortung für ihr eigenes Land übernehmen.


Das ist deutlich genug. Was eine Präsidentin Clinton in die Wege leiten wird, das ist eine Neuauflage des Rückzugs aus Vietnam, der mit der Räumung der amerikanischen Botschaft in Saigon im April 1975 endete.

Auch damals hatte man natürlich die eigenen Soldaten und, soweit möglich, das Material gerettet. Auch damals hatte man amerikanische Zivilisten und hatte man Vietnamesen ausgeflogen, die den USA als Dolmetscher, Fahrer usw. gedient hatten. Jedenfalls einen Teil von ihnen.

Aber es blieben Millionen zurück, die den Amerikanern vertraut, die sich nicht dem Vietcong angeschlossen, die nicht für die Kommunisten spioniert und geworben hatten. Es blieben die Bürgermeister, die Abgeordneten, die Soldaten zurück, die für die Regierung in Saigon gearbeitet hatten, die den Kommunisten verhaßten Angehörigen der vietnamesischen Ober- und Mittelschicht, die Katholiken.

Über ihr entsetzliches Schicksal habe ich vor gut einem Jahr hier einiges geschrieben, weil ich fürchte, daß es denjenigen kaum noch bekannt ist, die diese Zeit nicht miterlebt haben. Hunderttausende wurden ermordet. Millionen wagten die Flucht in Booten; ungefähr 500.000 verloren dabei ihr Leben.



Ja, aber Hillary Clinton will doch gar nicht eine Machtübernahme von Extremisten im Irak, so wie damals die USA sehenden Auges Vietnam den Kommunisten überließen? Sagt sie denn nicht ausdrücklich, daß jetzt die irakische Regierung selbst ihrer Verantwortung gerecht werden müsse?

Ja, das sagt sie. So, als ob nicht längst diese Regierung die Verantwortung für immer mehr Provinzen übernommen hätte, als ob nicht die irakische Armee immer mehr die Last des Kampfs mittragen würde. Er ist ja in vollem Gang, der Prozeß, den man damals die "Vietnamisierung des Kriegs" nannte und der hätte gelingen können, wenn nicht ein von den Demokraten dominierter Kongreß im Dezember 1974 die Militärhilfe für Südvietnam einfach gestrichen hätte.

Sie scheint zu glauben, die Kandidatin Clinton, daß man diesen mühsamen Prozeß, in der von Saddam zerstörten Gesellschaft demokratische Strukturen zu bauen und eine neue Armee zu schaffen, zu einem wundersamen sofortigen Erfolg führen könnte, indem man einfach die US-Truppen abzieht, die Geschäftsleute und Aufbauhelfer gleich mit dazu.

Nein, das glaubt sie natürlich nicht, die Kandidatin Clinton. Natürlich weiß sie, daß, sobald die US-Truppen mit einem verfrühten Abzug beginnen, der Bürgerkrieg ausbrechen wird, der diesen Abzug dann genauso beschleunigen wird, wie das seinerzeit in Vietnam geschah, als der US-Kongreß mit seiner Entscheidung dem Vietcong signalisierte, daß die USA Vietnam aufgaben.

Natürlich weiß sie, daß dann vom demokratischen Irak so wenig übrigbleiben wird wie damals von der Republik Südvietnam. Selbstverständlich ist ihr klar, daß dann die große Abrechnung mit allen beginnen wird, die sich für den demokratischen Irak eingesetzt haben.

Denn sonst würde sie ja nicht Pläne zur Rettung der Fahrer und Dolmetscher der US-Truppen ankündigen. Sie weiß also genau, was nach dem von ihr geplanten Abzug diejenigen erwartet, die für den demokratischen Irak eintreten und die nicht zu diesen Privilegierten gehören.

Sie hat es gesagt. Jeder politisch Interessierte konnte es hören. Niemand in den USA, der für diese Kandidatin stimmt, kann sich, wenn nach ihrem Sieg das Massaker an den Demokraten im Irak beginnt, ihre Verhaftung und Folterung, damit herausreden, es nicht gewußt zu haben.

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